Kapitel 14 | Falsche und richtige Erkenntnisse

       

Als Hermine am Mittwochmorgen ihre Augen aufschlug, erschrak sie. Ein lächelndes Gesicht einer fröhlichen Ginny hing über ihrem Bett und strahlte über beide Ohren.

„Ginny?", rief sie verschlafen, gähnte leicht und rieb sich den Traum aus den Augen. Worüber die junge Hexe geträumt hatte, wusste sie nicht mehr genau, aber sie konnte sich an das Gefühl erinnern. Das Gefühl von Freude, Angst und Sehnsucht. Eine merkwürdige Mischung von Emotionen, die sie in diesem Moment nicht nachvollziehen konnte.

„Pscht! Komm mit, ich will dir etwas zeigen!", flüsterte Ginny leise, um dann besorgt ihren Kopf zu heben und sich im Schlafsaal der 6. Klässlerinnen umzuschauen. Anscheinend war es noch früh am Morgen, denn Lavender schnarchte wie ein Walross in ihrem Himmelbett und von Parvati und Fey hörte man keinen Ton.

Ohne darüber nachzudenken, was ihre beste Freundin mit ihr vorhatte, erhob sie sich schwerfällig und schlüpfte in ihre flauschigen Katzenpantoffel.

Ginny trug schon ihre Freizeitkleidung. Eine dunkle Jeans und einen einfachen, plüschigen Pullover. Die rötlich-schimmernden Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Ihre Augen sahen verweint aus, doch Hermine würde sie später dazu befragen.

„Zieh dich an, ich warte unten im Gemeinschaftsraum auf dich!", flüsterte sie leise, drehte sich um und tapste aus dem Schlafsaal.

Verwirrt blickte Hermine auf ihre Uhr und seufzte. Es war fünf Uhr in der Früh. Was wollte Ginny ihr so Wichtiges zeigen?

Verschlafen stand Hermine auf, um im Badezimmer ihre Haare zu bürsten und ihre Zähne zu putzen. Sie band die buschigen, widerspenstigen Haare ebenfalls zu einem Zopf zusammen, schnappte sich eine helle Jeans, Sneakers und ein Sweatshirt und zog es über. Danach griff sie nach ihrem Zauberstab, verließ ihren Schlafsaal und kam fünf Minuten nach Ginny in den Gemeinschaftsraum an. Diese stand am Fenster und drehte sich abrupt um, als Hermine den Raum betrat.

„Danke! Ich möchte dir etwas zeigen!", strahlte Ginny fröhlich, was Hermine sehr überraschte. Die letzten Tage war ihre beste Freundin eher zurückhaltend, mürrisch und redete fast kein Wort mit ihr. Jetzt jedoch, schien sie ausgeglichen und entspannt zu sein.

„Ginny, was ist denn los? Was möchtest du mir um diese Uhrzeit zeigen?", fragte Hermine ungläubig. Natürlich vertraute sie Ginny, aber wieso holte sie sie um 5 Uhr aus dem Bett?

Ginny lächelte verschmitzt, packte ihre Hand und führte Hermine aus dem Portraitloch hinaus.

Die fette Dame grunzte leicht beleidigt, als sie den Weg ins Treppenhaus offenbarte und sah den beiden Mädchen wütend hinterher.

Ginny führte Hermine durch die Korridore, nach draußen und über den Hof, um dann vor den Treppen des Astronomie-Turms innezuhalten. Es war düster und Hermine konnte fast nichts erkennen.

Fragend sah sie Ginny an, doch diese schaute nur besorgt zum Himmel, an dem um diese Uhrzeit noch einige Sterne zu sehen waren.

„Komm mit!", rief sie glücklich und verschwand die Treppen hinauf. Hermine folgte ihr ratlos, da sie immer noch nicht verstand, was sie hier um diese Uhrzeit suchten. Was wollte Ginny ihr auf dem Astronomie Turm zeigen?

Keuchend erklomm sie nach einiger Zeit die letzten Stufen. Ginny saß auf einem Stuhl, den sie bis vor den großen Bogen des Turms geschoben hatte. Hermine setzte sich fröstelnd neben ihre Freundin und sprach einen Wärmezauber aus.

Bevor sie ihre Freundin erneut fragen konnte, was sie mit ihr vorhatte, bedeutetet Ginny ihr, still zu sein und zeigte mit dem Finger auf den dunklen, düsteren Himmel.

Just in dem Moment, als Hermine ihren Kopf hob und unschlüssig aus dem großen Bogen des Turms starrte, passierte es.

Ein leuchtend, großer Feuerball, stieg hinter dem Verbotenen Wald auf. Vögel begannen zu zwitschern. Ein Wind pfiff. Die Welt um sie herum, schien aufzuwachen, sich zu bewegen. Von Minute zu Minute stieg die Sonne weiter auf, ließ alles in ein, vorerst weißes, helles Licht tauchen, um dann nach kurzer Zeit über den Baumspitzen mit ihrer vollen Präsenz emporzuragen.

Die beiden Mädchen sagten kein Wort. Dieser Moment schien magisch zu sein. Magisch, auf eine andere Art und Weise. Er war bezaubernd und strahlte eine solche Ruhe aus, das Hermine sich sofort entspannte und all ihre Probleme vergaß. Sie fühlte sich losgelöst, weit weg von der Realität. Das was zählte, war die Sonne, die aufging und ihnen zurief, den Tag zu beginnen. Hinauszugehen. Einfach zu leben.

„Wow.", hauchte Hermine nach einiger Zeit, nachdem die Wälder von Hogwarts deutlich zu erkennen waren und sie sich endlich von dem Anblick losreißen konnte.

„Wunderbar, oder?", antwortete Ginny leise und lächelte zaghaft. „Das ist das Schönste, auf das ich mich Tag für Tag freue."

Hermine schaute ihre beste Freundin an und kam nicht umhin zuerkennen, dass sie die Situation mit Dean mehr belastete, als sie gedacht hatte.

„Verbreitet Dean immer noch Gerüchte über dich?", versuchte sie ein Gespräch zu starten, weil sie sicher war, dass ihre Freundin sie nicht umsonst so früh aufgeweckt hatte.

„Ach, das ist mir egal.", murmelte Ginny resigniert und wandte den  Blick von der aufgehenden Sonne ab.

Hilflos lehnte Hermine sich zurück und sog die kühle, klare Luft ein, ohne das ihr kalt wurde. Ein Wärmezauber war sehr praktisch. Sie wollte Ginny nicht bedängen. Wieso auch? Bei Harry hatte es nichts genützt. Sie musste lernen, ihre Neugier zurückzuhalten, den Menschen in ihrem Umfeld Zeit zu geben, bis sie auf sie zukamen.

„Es steht ein Krieg bevor, Hermine.", flüsterte Ginny nach einiger Zeit leise, was die junge Hexe überrascht aufhorchen ließ.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel ihre Freundin über den Kampf gegen Voldemort wusste, schließlich schien Molly immer darauf bedacht, ihre Kinder nicht mit in die Ordensangelegenheiten einzubeziehen. Sie hatten bisher noch nie über einen Krieg gesprochen, auch nicht nach dem Kampf im Ministerium.

„Harry ist der Auserwählte.", erzählte Ginny mit leiser Stimme weiter. Es schien, als würde sie zittern, doch Hermine konnte sich nicht erklären, ob vor Angst oder Nervosität. Sie schien aufgewühlt zu sein. „Ich weiß, dass ihr mir nichts erzählen werdet, Mine. Aber - ."

Sie stockte. Interessiert versuchte Hermine ihren Blick einzufangen, doch immer noch stierte ihre beste Freundin auf den Steinboden des Astronomie Turms und versuchte krampfhaft weiterzusprechen.

„Hermine, Harry verändert sich. Er versucht all diese Dinge zu bewältigen, doch er hat Angst, das spüre ich. Ich kenne meinen Bruder. Er ist ihm dabei keine große Hilfe. Er ist selbst noch ein Kind, er schätzt die Lage vollkommen falsch ein."

Während sie weitersprach, hob Ginny plötzlich ihren Kopf und sah Hermine durchdringend in die Augen.

„Aber du bist anders. Du bist erwachsener, reifer. Du bist intelligent. Du stellst dich dem entgegen, was kommen wird. Du musst auf sie aufpassen. Ich weiß, dass ihr mir nichts erzählen werdet. Aber bitte versprich mir, dass du auf sie aufpasst."

Überrascht nickte Hermine. Es war eher ein Reflex, als eine überlegte Geste. So hatte sie Ginny noch nie sprechen hören. Es schien, als hätte sie verpasst, wie sehr sich ihre Freundin durch den Kampf im Ministerium verändert hatte.

„Ginny, wieso sprichst du erst jetzt mit mir darüber?", fragte Hermine leise, nachdem ihre Freundin nichts mehr sagte und ihren Kopf wieder aus dem Fenster gewandt hatte.

„Weil Harry dieses Buch loswerden muss."

Die Antwort hallte in ihrem Kopf wider. Das Buch. Das Buch des Halbblutprinzen.

Stirnrunzelnd verzog Hermine ihr Gesicht, da sie das Buch schon fast verdrängt hatte. Sie hatte akzeptieren müssen, dass Harry es behalten wollte. Dass er besser war, als sie. Und es war in Ordnung. Zumindest für den Moment.

„Ich habe es gelesen, Hermine.", erzählte Ginny und ein besorgter Blick blitzte in ihren Augen auf. „Es ist voller schwarzer Magie. Derjenige, der diese Notizen an den Rand geschrieben hat, war kein besonders netter Mensch, Hermine."

„Du hast es gelesen?", stieß Hermine hervor. Sie hatte so oft versucht, das Buch aus Harrys Obhut zu reißen, doch er hütete es wie einen Schatz. „Wie das?"

„Am Sonntag. Als die beiden ihre Hausaufgaben bei dir abgeschrieben haben und du – wo warst du eigentlich?" Sie runzelte ihre Stirn und schaute sie misstrauisch an.

„In der Bibliothek.". schoss es aus Hermine heraus. Sie hasste es, sie anzulügen, aber was sollte sie auch erzählen? „Wieso bist du dir sicher, dass das Buch voller schwarzer Magie ist? Wie kommst du darauf?"

„Darin stehen Zauber, die nichts mit Zaubertränken zu tun haben. Hermine, ich glaube, ich weiß, wem das Buch gehört.", hauchte Ginny zitternd. Anscheinend behagte ihr der Gedanke nicht oder der Halbblutprinz machte ihr Angst.

„Welche Zauber? Wieso? Wer ist der Halbblutprinz?", bohrte Hermine nach, beugte sich nach vorne und sah ihrer Freundin durchdringend in die Augen.

„Darin stehen Zauber. Zauber, die damals in Riddles Tagebuch standen. Flüche. Hermine, ich glaube, dieses Buch gehört Voldemort."

Es war das erste Mal, dass Ginny diesen Namen laut aussprach und in ihrem Blick lag Angst, die Hermine für einen kurzen Moment lähmte. Ein eisiger Schauer lief ihren Rücken herunter. Tom Riddle. Das Buch gehörte Lord Voldemort.

***

Snape stand vor seinem Kamin, die Arme vor der Brust verschränkt und mürrisch ins knisternde Feuer blickend. Er hatte ihn angezündet. Wieso, das wusste er nicht. Er zündete seinen Kamin nie an. Er hasste Feuer. Die melancholische, romantische Wärme, die ein Kamin ausstrahlte, wenn er brannte. Geborgenheit. Sicherheit. Romantik.

Wenn ein Kamin nicht im schillernden Schein des Feuers knisterte, dann erschien er kalt, ausgebrannt – genau, wie er selbst. Jetzt jedoch, stand er nur wenige Zentimeter vor dem brennenden Feuer, abgestützt am Kamin und resigniert in die Flammen starrend.

Es waren Tage nach Grangers Besuch bei ihm vergangen. Er hatte sie nicht mehr gesehen. Aber das war gut, denn so konnte er sich auf seine Mission vorbereiten, die ihn immer mehr einzunehmen schien. Zumindest redete er sich das ein. Bisher hatte sich der Dunkle Lord noch nicht gemeldet, kein Ruf an seine Todesser. Nichts. Die Stille, die ihn umgab, schreckte Snape mehr ab, als seine aggressive, wahnsinnige Verrücktheit. Er hoffte mittlerweile, dass er ihn endlich rufen würde. Dass der dunkle Lord endlich seine Gedanken mit ihm teilte. Mit seiner Gefolgschaft, doch bisher war nichts passiert.

Seufzend wandte Snape sich ab und blickte auf die große Uhr, die über seinem Türrahmen hing. In ein paar Minuten würde es Abendessen geben.

Er hatte beschlossen, seine Mahlzeit in der großen Halle einzunehmen. Nicht, um den lächerlichen Gesprächen seiner Kollegen zu folgen, oder um sich zu amüsieren, sondern um sie noch einmal zu sehen. Auch wenn er sich immer wieder einredete, dass er richtig gehandelt hatte, dass Granger ihm nichts ausmachte, spürte er ein gewisses Gefühl von Reue. Er hatte sie nicht so anfahren wollen, schließlich war er derjenige gewesen, der ihr das Buch ausgeliehen hatte. Wieso behandelte er sie immerzu so? Nach langen Überlegungen, war er zu dem Entschluss gekommen, dass Granger in ihm Gefühle ausgelöst hatte, die ihm Angst machten. Nach all den Jahren, in denen er als Doppelagent fungieren musste, hatte er lernen müssen, sich selbst zu reflektieren. Diese Fähigkeit war unumgänglich, damit er die Gedanken und Gefühle, die Schwäche in ihm auslösten oder ihm etwas bedeuteten, in seinem Geist verschließen konnte. Und Granger war einer davon. Er hatte sie weggeschlossen, in einer Schublade, die nur er öffnen konnte. Und er musste wissen, warum, um diese Arbeit zu vollbringen. Um das Schloss vollkommen sicher zu verschließen, damit der dunkle Lord nichts davon mitbekam. Damit würde er nicht nur die Mission gefährden, er würde Granger in große Gefahr bringen.

Ein wehmütiger Gedanke schoss durch seinen Kopf. Damals, vor sechzehn Jahren, hatte er es ebenfalls versucht. Seine Gedanken und Gefühle über Lily wegzuschließen. Doch er war zu unerfahren, zu schwach gewesen. Der dunkle Lord hatte seine Gefühle durchschaut, sie als Druckmittel benutzt. Und dann, als er ihn angefleht hatte, sie am Leben zu lassen und nur den Jungen und den Vater zu töten, hatte er ihn ausgelacht. Er hatte ihn als „schwach" bezeichnet, er wollte ihm eine Lehre erteilen. Er hatte sie getötet.

Eine ungezügelte Wut durchzuckte Snape und schluckend stützte er sich an der Wand ab, um seine Emotionen zu verschließen. Er musste den Hass, den dem dunklen Lord entgegenbrachte, verdrängen. Jedes Mal. Es verlangte ihm so viel Selbstbeherrschung ab, dass er drohte, daran zu zerbrechen. Doch er schaffte es. Nach jahrelanger Übung, schaffte er es, seine Emotionen und Gefühle, meist problemlos, zu kontrollieren. Seine emotionslose Maske aufzusetzen, wenn sie gebraucht wurde. Nie, aber auch nie, zeigte er jemand anderem seine Gefühle. Nie, sagte er, was er wirklich dachte. Bis zu dem Zeitpunkt, als Granger eine Grenze überschritten hatte, die er so mühselig versuchte aufrechtzuerhalten. Am Schlimmsten war nicht die Tatsache, dass sie sich ihm auf unmoralische Art und Weise genähert hatte, sondern die Tatsache, dass sie anfing, ihm etwas zu bedeuten, so absurd ihm diese Erkenntnis auch vorkam. Es schien, als würde sie ihm vertrauen, als würde sie seine Anwesenheit genießen, obwohl er sie jahrelang wie ein Stück Dreck behandelt hatte. Das, was sie am Sonntag gesagt hatte, belastete ihn mehr, als er je gedacht hätte. Die Worte hallten in seinem Kopf wider, permanent. Er wollte sie doch nicht verletzen. Nach Jahren der Einsamkeit hatte er endlich ein Gefühl zugelassen, von dem er geglaubt hatte, dass es für immer verschwunden war. Sympathie. Zuneigung.

Doch was hatte das Gefühl in ihm ausgelöst? Darüber wurde er einfach nicht schlau. Angefangen, bei der plötzlichen Erregung, die er verspürt hatte, als sie bei ihm nachsitzen musst, bis hin zu der Situation, als sie auf seinem Sofa eingeschlafen war. Er hatte ihr gedroht. Jeder Schüler wäre geflohen, hätte nie wieder mit ihm gesprochen. Sie aber, war tatsächlich auf seinem Sofa eingeschlafen. Vertrauen. Es schien, als würde die notorische Besserwisserin ihm wirklich vertrauen.

Nach all diesen Überlegungen und Erkenntnissen, musste er sich immer wieder zurückhalten, sie nicht aufzusuchen und sich bei ihr zu entschuldigen. War es nicht besser so? War es nicht besser so, alles zu beenden, bevor es überhaupt angefangen hatte? Was verspürte er gegenüber dem Mädchen, das in der Muggelwelt noch als minderjährig galt? Konnte er sich nicht einfach als wahnsinnige einstufen, dass er überhaupt darüber nachdachte?

Zögernd straffte Snape seine Kleidung, um dann aus seinen Wohnräumen zu rauschen und die große Halle aufzusuchen. Auch wenn es besser so war, er musste sehen, dass es ihr gut ging. Nicht, um sich bei ihr zu entschuldigen oder auf sie zuzugehen, sondern um zu wissen, dass es ihr gut ging. Sie lachen zu sehen. Herumalbern, mit ihren Freunden. Damit er beruhigt war.

Entschlossen rauschte er durch die Korridore und ließ sich von dem Duft leiten, der aus der großen Halle strömte, die verängstigten Blicke der Schüler ignorierend.

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