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Marlon
Die Ansage von Linus war eindeutig und auch, wenn ich ihn vergessen sollte, konnte ich es einfach nicht.
Ich habe in seine leeren Augen gesehen. Seinen Schmerz gefühlt. Er brauchte Hilfe und er geriet voll auf die falsche Bahn ohne es selbst zu bemerken. Jeden Tag sehe ich seine Mutter ein Stück mehr zerbrechen. Dad und sie hatten die Hoffnung, dass es nach der Hochzeit besser werden würde, doch das wurde es nicht. Bis zum Schluss hat sie gehofft, dass Linus noch auftaucht. Aber er kam nicht.
Sie sah von Tag zu Tag kranker aus.
Klar, sie hatte alles verloren. Erst ihren Mann, jetzt ihren Sohn.
Was blieb ihr noch außer mein Dad?
Für ein paar Tage habe ich es wirklich versucht ihn zu vergessen und zu ignorieren. Doch nach ein paar Tagen knickte ich dann ein und wollte ihm wieder schreiben. Er hatte mich blockiert. Ein weiterer Beweis dafür, dass er wirklich nichts mehr von mir wissen wollte. Nicht von mir und nicht von seiner Mutter.
Ich hatte seine Unterarme gesehen, welche zerkratzt waren und wusste, dass ihn die Panikattacken immer noch heimsuchten. Und dass er niemanden hatte der ihm da durchhalf.
Er war alleine und zerstörte sich selbst. Und ich konnte nur hilflos dabei zusehen.
Der Gedanke bringt mich fast um ihm nicht helfen zu können. Irgendwann wird die Polizei vor unserer Haustür stehen und sagen: "Es tut mir leid. Aber er weilt nicht mehr unter uns."
Und ich werde fragen: "Was ist passiert?"
Die Polizei wird dann sowas antworten, wie: "Drogenüberdosis. Psychischer Zusammenbruch. Selbstmord."
Wenigstens das Boxen lenkte mich ab. Und immer wenn ich meine Gegner am Boden sah, gab es mir ein Gefühl der Freiheit zurück. In diesen Momenten konnte ich durchatmen und dachte nicht an Linus und wie er zugedröhnt vor aufgegeilten Männer tanzte.
Mit jedem Tag der verging, vergaß ich Linus etwas mehr und ich konnte nach und nach wieder aufatmen. Wenn ich Caroline dann aber ansah, verspürte ich den gleichen Schmerz wie sie. Ich werde ihn nie ganz ignorieren können, wenn ich immer in die Augen der Mutter sehen musste, welche ihr Kind an die Drogen verlor.
Das mit den Drogen und dem Stripclub wusste sie nicht. Ich brachte es nicht übers Herz es ihr zu erzählen. Doch ich glaube, sie denkt sich ihren Teil und hat Angst, dass er genauso wird, wie er jetzt ist.
"So, Marlon.", sagte David. "Auf ein Neues. Letztes Wochenende war gut. Dieses wird noch besser. Da hat der Besuch im Stripclub ja doch was gebracht."
Eigentlich hat er alles nur noch Schlimmer gemacht, aber ich ließ ihn in dem Glauben, dass dadurch alles besser wurde. Der Besuch war nun schon zwei Wochen her und mir kam er vor, als wäre er erst gestern gewesen.
Meinen Gegner hatte ich bereits gesehen und wusste meine Chancen gut einzuschätzen. Es war ein Möchtegern Kämpfer. Einer der immer vor diesen Boxautomaten auf dem Jahrmarkt stand und sich mit seinen Freunden einen Schwanzvergleich gab.
Er dachte wirklich er hat eine Chance. Solche Kämpfe langweilten mich. Sie waren kein bisschen anstrengend. Aber wenn ich gut drauf war, dann wiegte ich meinen Gegner erstmal in Sicherheit und ließ ihn ein wenig zappeln. Manchmal schlug ich auch gar nicht zu, sondern wich seinen Schlägen immer nur aus um ihn zu demütigen.
Heute hatte ich auf keins von beiden Lust. Heute wollte ich einfach nur, dass der Kampf schnell zu Ende ging. In letzter Zeit wich meine Freude am Kämpfen sowieso. Ich tat es zwar weiterhin, weil es meinem Kopf gut tat, aber so richtig Freude empfand ich nicht mehr.
Aber so war das wohl in jedem Hobby und bei jedem Sport. Man hat manchmal diese Phasen wo man einfach keine Lust hat.
Ich nahm David die Wasserflasche ab und trank nochmal einen Schluck, bevor ich in den Ring steigen wollte.
Soweit kam ich jedoch gar nicht. Plötzlich wurden von allen Seiten die Türen der Halle gestürmt. Unruhe kam auf, jeder versuchte zu flüchten, während überall gebrüllt wurde: "POLIZEI! STEHENBLEIBEN! KEINE BEWEGUNG!"
Ich wurde von Joris mitgezogen, zu einem Fenster, welches offen stand.
"Fehlanzeige.", sagte Rascal. "Die haben uns umzingelt."
Mein Herz raste wie verrückt. Fuck, wenn die Polizei mich erwischt dann wars das. Dann kann ich mir mein Studium abschminken.
"Aufs Dach.", sagte David und lief voraus. In der ganzen Menge gingen wir zum Glück etwas unter und konnten uns einen guten Weg zur Leiter vorkämpfen. David hatte natürlich einen Schlüssel, weswegen wir die Einzigen waren, die es schafften zu flüchten. Vom Dach aus, konnten wir alles überblicken, während uns niemand sah. Ich sah überall Polizeiautos stehen. Sie hatten die ganze Halle umzingelt. Vereinzelt gab es Leute, welche es geschafft hatten zu flüchten und die jetzt am Strand wegrannten.
David führte uns einen langen Weg über die Dächer. Immer gebückt, damit uns ja keiner entdeckte. Solange bis wir bei einer Leiter ankamen, welche uns vom Dach runter führte. Hier war weit und breit keine Polizei zu sehen. David kannte wirklich alle Schleichwege und führte uns geschickt an der Polizei vorbei.
Erst als wir am Stadtrand ankamen, konnten wir erleichtert aufatmen.
"Dann hoffen wir mal, dass keiner der Idioten die erwischt wurden unsere Namen verraten.", meinte David.
Nickend stimmte ich ihm zu. Wenn das geschieht, sind wir am Arsch.
(...)
Der Adrenalinschub vom letzten Abend steckte mir immer noch etwas in den Knochen. Caroline lächelte mich müde an, welches ich erwiderte. Ihre Augenringe wurden von Tag zu Tag größer. Dad tat alles dafür, dass sie endlich wieder glücklicher wird. Er hatte ihr einen Urlaub geschenkt um die Sorgen endlich loszulassen und zu entspannen. Morgen würden sie losfliegen und erst in zehn Tagen zurückkommen.
"Ach krass.", sagte Dad plötzlich und schaute von der Zeitung hoch. "Gestern gab es einen großen Polizeieinsatz am Hafen. Das waren die Sirenen die wir gehört haben."
"Was ist denn passiert?", fragte Caroline und setzte sich mit ihrem Kaffee zu uns.
"Dort finden wohl illegale Kämpfe zwischen jungen Erwachsenen statt. Hier steht, dass die meisten der dort Kämpfenden immer gegen einen bestimmten Gegner antreten. Dieser ist wohl der Grund für diese weiterführenden Boxkämpfe und wird gesucht."
Würde ich nicht sitzen, wäre ich jetzt umgefallen. Unauffällig schnappte ich mir mein Handy und schrieb David.
Marlon
Sie suchen nach mir????
David
Ganz ruhig. Ich hab es auch gerade gelesen, aber niemand kennt deinen vollen Namen. Marlons gibt es genug in dieser Stadt. Sie können nicht alle befragen.
Marlon
Die ganzen Marlons sehen aber nicht aus wie ich! Sie werden mich finden.
David
Nein, werden sie nicht. Ich bin schon dran, dass zu regeln.
Marlon
Wie willst du das regeln???
David
Geld hat viel Macht
Ich seufzte und versuchte nicht auszuflippen. David kann viel reden, wenn der Tag lang ist. Es hängt ja schließlich nicht seine Karriere daran. Aber ich schwöre, wenn ich gefasst werde, ist sein Name der erste dem ich der Polizei nenne.
Nach dem Frühstück ging ich hoch in mein Zimmer und beschloss dieses den Tag auch nicht mehr zu verlassen. Die letzten Wochen waren aufregend genug und außerdem schrieben wir bald eine Arbeit. Der Samstag war perfekt dafür geeignet zu lernen.
Ein ruhiger Tag, das sollte es werden.
Doch dies änderte sich schnell, als mein Handy aufblinkte.
Linus.
Ein Schauer überfiel mich am ganzen Körper. Meine Hände fingen an zu zittern und zu schwitzen, während ich mein Handy in die Hand nahm. Doch da hatte der Anruf schon wieder aufgehört.
Kurz überlegte ich ob ihn zurückrufen sollte. Anscheinend hatte er mich ja nicht mehr blockiert. Aber vielleicht hatte er mich auch nur aus Versehen angerufen?
Doch als sein Anruf zum zweiten Mal auf meinen Display erschien, wusste ich, dass das kein Zufall sein kann.
Dieses Mal war ich schneller und nahm den Anruf sofort entgegen.
"Hallo?"
"Ich brauch Hilfe..."
Seine schwache, weinerliche Stimme ließ mein Handy aus der Hand gleiten.
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