Kapitel 42

Irgendetwas stimmt nicht mit Chiara!

Als sie vorhin wieder zurück zu unserem Tisch kam, hat sie lustlos in ihrem Eis herumgerührt, bis es nur noch eine warme, aufgeweichte Flüssigkeit war.
Chiara war total in sich gekehrt, bleich, zittrig und bei jedem noch so kleinsten Geräusch ist sie zusammengezuckt, was bei einem Restaurant bekanntlicher Weise nicht selten vorkommt.
Auch Jason hat das Verhalten seiner Schwester sehr zum Grübeln gebracht.

Die restliche Zeit im Restaurant hat er ihr immer wieder nachdenkliche Blicke zugeworfen und auf seiner Unterlippe gekaut, was er immer tut, wenn er frustriert nach einer Lösung sucht, diese aber nicht findet, bis seine Unterlippe leicht angefangen hat zu bluten.
Wir anderen haben erfolgslos versucht einen Witz nach dem anderen zu erzählen um die bedrückte Stimmung an dem Tisch um Einiges aufzulockern.
Aber Jason hat nur müde gelächelt, während Chiara überhaupt nicht auf uns eingegangen ist, egal was wir getan oder gesagt haben.

Was ist bloß vorgefallen?

Ich biege mit Jason um die Ecke und wir laufen, gefolgt von den andern, die Straße entlang. Zwar probiert Chiara munter vor sich hin zu plappern, so als sein nichts gewesen, und fachsimpelt mit Chris über verschiedene Studiengänge in Oxford, aber mich kann sie damit nicht täuschen.
Auch Jason findet Chiaras Verhalten äußerst seltsam, denn er schaut immer wieder mit gerunzelter Stirn über seine Schulter und schüttelt überlegend den Kopf.
Da stimmt doch irgendetwas nicht.

Zum ersten Mal kommt mir der Gedanken, dass mein Bruder und ich nicht die Einzigen unserer Freunde sind, die etwas zu verbergen haben!
Ist in Jasons und Chiaras Vergangenheit auch etwas vorgefallen, dass Spuren hinterlassen hat?
Je länger ich darüber nachdenke, desto logischer erscheint mir diese Möglichkeit.
Was gäbe es auch sonst noch für eine andere Erklärung oder Alternative?

Mit überlegender Miene drehe ich mich zu Jason um, um ihn genau das zu fragen und bekomme gerade noch mit, wie ein Freund auf einen Laternenpfahl zu steuert.
Sein Kopf ist gesenkt und er scheint mehr in seiner Gedankenwelt gefangen, als hier anwesend zu sein.
„Jase, pass au...", will ich ihn schon warnen, aber meine Ermahnung kommt zu spät.
Prompt hört man auch schon das Plong!, als Jason kurz darauf mit voller Wucht gegen den Mast knallt.

„Verfluchte Scheiße", schimpft er auch schon drauf los und hält sich die Stirn.
Wiederwillen staut sich in mir ein Lachen auf, aber ich bin taktvoll genug, um diesen angestrengt zu unterdrücken, auch wenn das Bild, welches sich mir gerade darbietet, sehr komisch aussieht!
„Ja, ja lach ruhig Leon", brummt Jason mir zu und ich grinse aber nur minimal.
„Geht's?"

Mein Freund zuckt nur mit den Schultern und geht dann weiter, so als sei nichts vorgefallen. Ich schaue über meine Schulter und bemerke erst jetzt, dass unsere Freunde weit zurückgefallen sind.
Schließlich entscheide ich mich aber dafür Jason zu folgen, denn ich möchte ihn ungerne alleine lassen, nicht dass er gleich umkippt.
Das ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber man weiß ja nie!

Also jogge ich los um ihn noch einholen zu können, denn er hat sich bereits ein ganzes Stück von mir entfernt. Als ich zu ihm aufschließe bin ich der Auffassung, dass er mich gar nicht richtig wahrnimmt und deswegen schnipse ich mit meinen Fingern vor seinem Gesicht herum und erziele dadurch den gewünschten Effekt.
Fragend schaut Jason mich an.
„Du hast da eine Beule. Eine ziemlich große", überflüssigerweise deute ich auf seine Stirn und betrachte diese genauer.
Um die Beule herum bilden sich leichte Verfärbungen und Jason fährt sich direkt darüber.
Als er es berührt zuckt er kaum merklich zusammen.

„Wieso muss ich auch so blöd sein?", flucht er und reibt sich vorsichtig, aber bestimmt über die betroffene Stelle. „Das muss gekühlt werden", weise ich ihm an und Jason murmelt zustimmend.
Deshalb laufen wir eilig weiter und erreichen kurz darauf schon unser Ferienanwesen.
Jason schließt die Tür auf, streift sich die Schuhe ab und geht dann den Flur entlang.
Ich tue es ihm gleich und folge Jason in das obere Stockwerk um mir etwas Bequemeres anzuziehen.

In meinem Zimmer entledige ich mich schnell meiner Kleidung und lege diese achtlos bei Seite. Dann schlüpfe ich in eine knielange Sporthose und ein gräuliches Shirt.
Von unten vernehme ich bereits mehrere Geräusche, die darauf deuten, dass Jason wahrscheinlich schon unten ist.
Deswegen öffne ich die Tür, laufe die Treppenstufen hinunter und betrete das Wohnzimmer.

Jason lehnt an der Küchenanrichte und tippt auf seinem Handy herum.
Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln und seine Augen strahlen so viel Euphorieaus, dass ich gar nicht anders kann, als auch zu grinsen.
Mein Freund beißt sich auf die Unterlippe und probiert dadurch ein Grinsen zu unterdrücken, was ihm nicht gelingt, denn sein Lächeln zieht sich noch weiter nach oben.

„Hey",mache ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.Jason hebt den Kopf und nickt mir zu.
Dann wendet er sich wieder seinem höchstinteressanten Chatverlaufzu.
„Bella?", frage ich, während ich zu dem Gefrierschrank laufe, um dort etwas zum Kühlen herauszuholen.
„Hm, Bella", bestätigt Jason, als ich wieder mit dem Kühlpad zu ihm gehe.
Neugierig beuge ich mich vor und spähe über die Schulter von Jason.

„Süß", kommentiere ich und lese schnell die letzten Nachrichten durch.
„Das könnte hier aber fast schon als Schreibsex durchgehen, mein Lieber. Pass bloß auf, dass Chiara das nicht liest!"
„Da hast du recht", brummt Jason und zieht die Stirn kraus, woraufhin ich einen fragenden Laut mache.
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Schwester nicht so zufrieden mit meiner Beziehung zu Bella ist. Einerseits ist das ja verständlich, denn es ist ihre beste Freundin, aber andererseits tut sie so,als ob sie sich für uns freut und es ihr nichts ausmacht...
Ach keine Ahnung, ich weiß nicht was ich tun soll!"

Langsam nicke ich und spüre wie meine Hand kalt wird, weil sich dort immer noch das Kühlpad befindet. Vorsichtig drücke ich Jason dieses auf die Beule und er sieht mich strafend an.
Vermutlich habe ichzu stark draufgedrückt, deshalb lächele ich entschuldigend.
„Du musst hier nicht die Krankenschwester spielen. So schlimm ist die Beule auch nicht", meint Jason feixend und ich zucke vage mit den Schultern.

Wenn ich ehrlich bin hat mich der Fachbereich Medizin schon von klein auf interessiert. Bis heute ist dieser Beruf so etwas wie mein heimlicher Wunsch, aber davon weiß niemand.
Für ein Medizinstudium braucht man zwar ein super A-Level Abschluss, aber ich zweifele nicht daran, dass ich das nicht schaffen könnte.
„Ich wäre lieber im OP", erwidere ich verspätet, aber so leise, dass Jason es nicht versteht.
Zumindest denke ich das.

„Du möchtest operieren?", erkundigt sich Jason überrumpelt und ich schaue zu ihm. „Das ist wirklich cool!"
Er hat sich interessiert aufgerichtet und blickt mir abwartend entgegen, in der Hoffnung,dass ich mein Statement weiter ausführe.
„Ja, aber der Fachbereich Chirologie ist generell sehr spannend und faszinierend. Gegen die Gynäkologie oder Anästhesie hätte ich aber auch nichts einzuwenden", erkläre ich und warte gespannt auf Jasons Reaktion.

Es ist das erste Mal, dass ich ganz offen über meine Zukunftspläneund es tut gut endlich nicht mehr so tun zu müssen, als hätte ich überhaupt keine Ahnung über mein Leben nach der Schule.
Schon oft habe ich gemerkt wie meine Eltern manchmal bedrückt reagiert und zeitglich ungeduldige Blicke ausgetauscht haben, wenn wir auf das Thema „Studieren" kamen, aber ich habe immer sofort abgeblockt.
Allerdings kann ich es mir selbst nicht erklären wieso...

„Wenn du es ernst meinst, dass du Medizin studieren willst, dann solltest du das auch tun. Wenigstens weiß ich dann, wen ich anrufen soll, falls ich mal eine ärztliche Meinung brauchen sollte", aufmunternd lächelt Jason mich an und unwillkürlich muss ich zurück lächeln.
„Nichts ist unmöglich, solange du dir selbst nicht im Weg stehst!", doziert Jason mir.
„Und du könntest über eine Karriere als Motivationstrainer nachdenken", spöttele ich und Jason lacht auf.
„Ja, wieso nicht..."

Gemeinsam schlendern wir zu dem Panoramafenster und lassen uns auf den Boden fallen. Schweigend wenden wir uns von einander ab und ich starre gedankenverloren vor mich hin.
Wo bleiben die anderen denn?
Sie hätten schon mindestens vor fünf Minuten eintreffen sollen, wenn nicht sogar zehn.
Nun ja, sie werden wahrscheinlich ihre Gründe haben.
Vielleicht sind sie noch kurz runter zu unserem Strand oder etwas trinken gegangen.
Wer weiß...

Das Einzige was die Stille unterbricht ist unser ruhiger Atem und das ein oder andere Räuspern. Aus der Tasche meiner Shorts krame ich mein Handy hervor und tippe auf den Home – Button.
Versehentlich klicke ich auf „Google", obwohl ich eigentlich nur schnell in mein E-Mail Postfach schauen wollte.
Doch etwas lässt mich inne halten und wie gebannt schaue ich auf meinen Handybildschirm.

Unter einem Bild mit zwei ungefähr Sechzehnjährigen, die Händchenhaltend vor dem Eiffelturm stehen, steht eine Schlagzeile geschrieben:
We humans are all equal, but why are we not treated equally!?

Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich mir den kurzen Klapptext an und mit jedem neuen Wort was da steht werde ich wütender.
Wieso ist so etwas nicht selbstverständlich?
Wieso gibt es solche wiederwertigen Menschen, die denken, dass sie besser da stehen, wenn sie Homosexuelle oder in ihren Augen „andere" Menschen beschimpfen und schlecht machen?

Etwas tief in meinem Inneren regt sich und in meiner Brust breitet sich ein leichtes Kribbeln aus, als ich mir das Bild der beiden Jungen noch einmal genauer anschaue.
„Hast du etwas gegen Homosexuelle, oder allgemein gegen Leute die eine andere Sexualität haben als du?"
Diese Frage kommt mir ganz plötzlich über die Lippen und ich bin von mir selbst überrascht, wieso ich Jason das frage.
Verwundert hebt der Angesprochene eine Augenbraue. „Sehe ich etwa so aus?"

Missbilligend presse ich die Lippen aufeinander: „Das kann man nicht nach dem Aussehe beurteilen."
„Du weißt doch was ich meine."
Jason probiert ein leichtes Lächeln, aber ich gehe nicht darauf ein und wende mich ohne ein weiteres Wort ab.
Die Wörter verschwimmen vor meinen Augen und ich versuche mich vergeblich auf den geschriebenen Text auf dem Bildschirm zu konzentrieren.
Aber es geht einfach nicht!

„Leon?" Ich lege meinen Kopf in den Nacken, lehne diesen an die Fensterscheibe und drehe mich dann zu Jason um.
„Du weißt doch hoffentlich, dass ich nichts gegen Leute habe die eine andere Hautfarbe, Sexualität oder sonst was haben", ernst guckt mein Freund mich an und in seinen Augen lese ich die Wahrheit.
„Ich weiß", murmele ich müde und lasse meinen Blick wieder nach vorne schweifen.
Natürlich ist mir bewusst, dass Jason nichts dagegen hat, denn er wäre so ziemlich der Letzte, der so abschätzend denken würde.
Ehrlich gesagt wie ich selbst nicht, weswegen ich gerade so heftig reagiert habe und wenn mich ganz ehrlich bin, dann will ich es auch gar nicht wissen.

„Wieso eigentlich?", will Jason von mir wissen, doch ich bin nicht im Stande ihm zu antworten, denn ich bin zu sehr in meinen Gedanken gefangen.
Ohne es richtig zu bemerken, nimmt Jason mir mein Handy aus der Hand und zieht scharf die Luft ein.
„Wieso ist das so?", möchte ich von ihm wissen, aber Jason schüttelt bedauernd den Kopf.
„Ich weiß es nicht, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es einfach nur abartig und schrecklich ist, dass die Leute denken, sie dürfen sich erlauben so schlecht über Homosexuelle zu reden!", ereifert sich mein Freund für dieses Thema und sofort bildet sich dieses unnatürliche Kribbeln und Pochen in meiner Brust.
Was ist das?

„Alles in Ordnung?"
„Ach keine Ahnung", antworte ich wahrheitsgemäß, denn es stimmt ja.
Ich habe keine Ahnung!

Ein Schlüsselklirren ertönt und lautes Gelächter hallt durch den Flur, als die anderen das Haus betreten. Sofort richte ich mich auf und auch Jason steht von dem Boden auf.
„Ich gehe schlafen", teile ich ihm ohne Umschweife mit und mache Anstalten das Zimmer zu verlassen, bevor die anderen mich zu Gesicht bekommen.
„Es ist gerade mal halb zehn", Jason schüttelt verwundert den Kopf, lässt mich aber die Treppe nach oben gehen.
„Gute Nacht", murmele ich ihm über meine Schulter zu, derweil haste ich eilends die Treppenstufen hinauf. Aber es ist als spüre ich den bohrenden Blick meines Freundes immer noch auf mir, selbst als ich mich schon in meinem Zimmer befinde.

Ich ziehe meine Sachen aus und lege mich nur in einer Jogginghose in mein Bett.
Etwas in mir ist anders.
Ich fühle mich anders.
Doch kann ich nicht erklären warum.

Ein leiser Piepton macht mich auf eine so ebene eingegangen Nachricht aufmerksam und ich greife stöhnend nach meinem Handy.
Wolltest du dich nicht melden?
, steht dort geschrieben.
Lass uns morgen telefonieren, okay? Ich bin echt müde und fühle mich auch nicht so gut... Schlaf schön!, send ich die wenigen Worte und erhalte auch sofort eine Antwort.
Gute Nacht, Hab dich lieb und gute Besserung!

Bei den Worten meiner Schwester muss ich lächeln und lege mein Handy auf die Seite. Mir wird ganz warm ums' Herz, als ich an meine vierzehnjährige Schwester zu Hause denke. Ein Klopfen ertönt.
„Mhm", mache ich nur, denn ich fühle mich schon wie in einem Halbschlaf. Ein dunkelblonder Haarschopf schiebt sich durch den Türspalt und schaut auf mich hinab.
„Hey", mache ich und lächele.
Fabian wäre die letzte Person mit der ich jetzt gerechnet hätte, aber auf jeden Fall die Person, die ich jetzt am liebsten von allen Menschen auf dieser Welt sehen möchte!
„Geht es dir gut?", fragt er und ich lächele entwarnend.
„Natürlich."

Ich möchte nicht, dass er sich Sorgen um mich macht, denn ich will einfach nur, dass er sich auf sich selbst konzentriert.
Er sollte die erste Person in seinem Leben sein!
Die Wichtigste!

„Gute Nacht", wünscht er mir.
„Dir auch." Er will die Tür schon hinter sich zu ziehen, doch da fällt mir noch etwas ein.
„Hast du in letzter Zeit etwas von Leticia gehört?" Mein jüngerer Bruder nickt leicht.
„Ja, ich habe heute, kurz bevor wir im Restaurant ankamen mit ihr geschrieben. Wieso?"
„Ach nur so."
Fabian macht ein verwirrtes Gesicht, grinst dann aber leicht und schließt die Tür hinter sich. Langsam lasse ich meine Augen zu fallen, aber vor meinem inneren Auge taucht auf einmal das Bild des schwulen Pärchens auf und ich öffne meine Augen ruckartig.

Was zur Hölle ist nur los mit mir!?

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Hier du Nervensäge! Da ist das Kapitel :)

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