Kapitel 35
Ich hätte mit allem gerechnet, aber dass Chiara ausgerechnet dieses Thema anspricht, verwundert mich etwas. Augenblicklich schießen in mir alle Erinnerungen wieder hoch und ich verfluche mich für meine frühere Dummheit.
Alle diese Wunden reißen wieder von neuem auf, allerdings weiß ich genau, dass ich nicht der Leidtragende bin, sondern mein kleiner Bruder.
Trotzdem schäme ich mich für meine egoistischen Taten vor dieser allzu langen Zeit.
Durch sie habe ich so ein großes Keil zwischen mich und Fabian getrieben. Nur weil ich zu feige war und lieber populär sein wollte, als meinem Bruder zu helfen.
Aber damit nicht genug.
Nein, ich habe auch noch mitgemacht!
Was bin ich nur für ein Arschloch? Ein ganz Großes, ich weiß...
„Du musst nicht antworten wenn du nicht willst. Das war ohnehin dumm von mir", sagt Chiara neben mir, während ich gedanklich abschweife.
„Nein schon gut. Das ist alles andere als eine dumme Frage. Es ist nur so, dass ich dir nicht alles erzählen kann, weil ein großer Teil Fabian betrifft und das muss dir mein Bruder selbst erzählen. Allerdings nur wenn er will. Zwar könnte ich dir jetzt alles sagen, aber ich habe es eh schon genug verbockt, also kann ich dir so etwas Privates nicht so einfach mir nichts dir nichts ausplaudern Das verstehst du doch hoffentlich, oder?", versuche ich ihr begreiflich zu machen.
Anscheinend versteht Chiara es, denn sie nickt leicht mit ihrem Kopf. „Also gut", murmele ich dann leise und wappne mich innerlich, denn es ist schon sehr lange her, dass ich über das Thema von vor mehr als sieben Jahren geredet habe.
„Wie du weißt habe ich mich erst in der Middleschool mit deinem Bruder angefreundet. Davor waren Fabian und ich auf einer anderen Schule und haben auch in Cardiff gewohnt. Damals kannte ich Felix und Chris auch logischerweise noch nicht. Früher waren mein Bruder und ich unzertrennlich.
Wir haben alles gemeinsam gemacht, hatten nie Geheimnisse voreinander und haben uns vertraut. Es war ähnlich wie bei dir und Jason. Nicht ganz so intensiv, aber schon relativ nah dran!"
Bei dieser Erinnerung muss ich lächeln, als ich an unsere unbeschwerte Kindheit zurückdenke. Aber der Moment hält nicht lange, denn als ich weiterspreche erreicht meine Laune wieder schlagartig den Gefrierpunkt: „Wir hatten echt viel Spaß in unserer Kindheit...
Na ja, zumindest bis ich in die erste Klasse kam", nun stocke ich wieder und fahre mir traurig durch die Haare.
Deutlich spüre ich, wie Chiara neben mir unruhig hin und her rutscht. Also sammel ich mich wieder und fahre leise fort: „Ich habe eine Stufe über mir eine Gruppe von Jungen kennengelernt. Sie waren richtig cool und sozusagen die Anführer. Auf den ersten Blick waren sie einfach perfekt, aber wenn man dann einmal hinter die Kulissen geschaut hat, dann weiß man erst was das eigentlich für miese Typen sind.
Handgreiflich, hinterhältig und skrupellos bis zum Geht-nicht-mehr! Im Nachhinein klingt es wahrscheinlich richtig lächerlich, aber ich wollte auch zu ihnen gehören. Da wusste ich aber auch noch nicht was das für Schweine sind.
Auf keinen Fall soll das mein Verhalten entschuldigen oder rechtfertigen, also verstehe das bitte nicht falsch! Was soll ich sagen... Ich war auch mal ein kleiner, naiver, dummer und gutgläubiger Junge."
Mein Lachen erklingt freudelos und bitter.
„Auf jeden Fall habe ich mit diesen Jungen angefreundet und... verdammt! Ich bin in diese ganze Sache echt total reingerutscht und hatte keine Ahnung wie ich da wieder rauskommen soll. Meine Eltern konnte ich nicht fragen, denn dann wäre ich so rüber gekommen, als wäre ich der letzte Volltrottel, der nichts alleine hin bekommt und seine Problem nicht alleine lösen kann.
Zum Ende von Year 1 wurde alles immer schlimmer, aber ich hätte niemals gedacht, dass die Sachen noch so extrem eskalieren würde. Doch nach den Sommerferien kam Fabian in die Schule und der ganze Horror brach wieder los. Zwar hatte ich gehofft, dass sich die Sache über die Sommerferien irgendwie von selbst klären würde, doch das war nicht so.
Im Gegenteil! Fabian war damals ein gefundenes Fressen..."
Zittrig fahre ich mir mit den Fingern über das Gesicht, denn die Erinnerung ist so intensiv, als ob ich das alles gerade wieder durchlebe. Ich wippe nervös mit dem Fuß: „Mir ist bewusst, dass du von dieser Erklärung nicht mal die Hälfte verstehst, aber ich kann dir nicht mehr sagen, denn mindestens das bin ich meinem Bruder schuldig!"
„Ich habe mir schon fast gedacht, dass es sich bei eurem Auseinanderleben um etwas handelt, das man nicht einfach mit einer Handbewegung von dem Tisch fegen kann", gibt sie nach einer Weile zu und ich nicke überrascht.
„Ja da hast du recht", erwidere ich mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. „Mehrmals habe ich mich nach der Sache entschuldigt, aber Fabian hat immer wieder gesagt, dass er mir nicht so leicht verzeihen kann, wie ich das vielleicht denke oder es sogar von ihm verlange...
Aber ganz ehrlich:
Ich kann meinen Bruder mehr verstehen als er denkt und seine Gedanken nachvollziehen. Auf keinen Fall verlange ich von ihm, dass er mir die ganze Scheiße von vor sieben Jahren verzeiht!
Eigentlich hat es schon angefangen als ich in der ersten war und ging halt bis zu Year 4. Aber diese ganzen zusätzlichen Erklärungen verwirren dich wahrscheinlich nur noch mehr, oder?"
Chiara zuckt mit den Schultern und scheint ganz in ihren eigenen Gedanken versunken zu sein. Bestimmt ist sie gerade dabei das Erzählte zu verarbeiten.
Ich ringe mit mir, dennoch verlassen die nächste Worte meinen Mund: „Eigentlich möchte ich nur, dass es wieder so wird wie damals bevor wir und zerstritten haben. Allerdings kann ich meinem Bruder nichts vorwerfen und wenn er mich lieber hassen möchte, dann muss ich das so akzeptieren.
Ich muss mich damit abfinden, denn schließlich bin ich derjenige der sich scheiße benommen hat und dessen Schuld das Ganze ist! Ich trage die volle Verantwortung dafür, dass Fabian keine richtige und vor allem schöne Kindheit hatte!"
„Ich glaube nicht, dass Fabian dich hasst. Zumindest macht er auf mich nicht den Eindruck", wirft Chiara leise ein, doch noch laut genug, dass ich es hören kann. „Was? Woher weißt du das? Nein, wie kommst du darauf?", ruckartig hebe ich den Kopf und schaue Chiara aufmerksam an.
Hoffnung keimt in mir auf und an diese klammere ich mich wie ein Ertrinkender. „Ich kann es dir nicht sagen, weil ich nicht weiß wie Fabian dazu steht", antwortet sie mit einem schiefen Lächeln und ich zucke zusammen. „Hast recht..."
„Nur so viel. Während des Fluges hier her habe ich mich mit deinem Bruder unterhalten und aus dem Gesagten schließe ich das.
Sorry, aber mehr kann ich dir wirklich nicht sagen. Aber auch seine Gestik und Mimik macht mich aufmerksam, deswegen habe ich da so eine Vermutung. Allerdings müsste ich dafür erst wissen, was zwischen euch steht.
Als es dir im Flugzeug nicht so gut ging hat er dich in den Sitz gedrückt, damit du dich ausruhst und schläfst. Er hat das gemacht, weil du ihm wichtig bist, denn anders kann ich es mir nicht erklären.
Zwar wollte er das allem Anschein nach verbergen, aber ich bin ja nicht blöd. Auch wenn er nicht will, dass du es merkst, heißt das ja nicht, dass es auch für eure Mitmenschen gilt. Mehr werde ich dir aber auch nicht verraten, weil das ist mehr als genug!"
„Vielleicht hast du recht, aber irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. SO sehr ich mir das Ganze auch wünschen würde...", Verzweiflung schwingt in meiner Stimme mit. „Ich bin ein totales Arschloch", seufze ich resigniert und traurig.
Ganz sicher wird Chiara jeden Moment aufstehen und gehen, aber mal wieder überrascht dieses Mädchen mich.
Sie rückt näher an mich heran und legt ihren linken Arm um meine Schulter. „Du bist kein Arschloch! Okay? Du bist keins." „Das würdest du nicht sagen, wenn du wüsstest, was ich Fabian alles angetan habe", widerspreche ich ihr kopfschüttelnd.
„Weißt du eigentlich wie ähnlich du deinem Bruder bist?", fragt Chiara mich schmunzeln und ich schüttel den Kopf. Ich soll Fabian ähnlich sein?
„Wie denn?"
Chiara sieht mich lächelnd an: „Du hast manchmal auch solche Selbstzweifel, genau wie Fabian." Entgeistert und geschockt schüttele ich heftig meinen Kopf. Mein Bruder zweifelt nie an sich selbst, seinen Taten oder an irgendetwas! Das kann doch gar nicht sein, oder etwa doch? „Mein Bruder hat doch keine Selbstzweifel", wehre ich ab.
Doch Chiara nickt: „Und was für welche!"
Einerseits kann ich mir diesen Gedanken überhaupt nicht vorstellen, aber andererseits...passt es irgendwie. Vielleicht hat Chiara recht, bezüglich mit ihrer Annahme.
„Manchmal seid ihr Jungen echt blind! Wenn du nur wüsstest...", seufzt Chiara kopfschüttelnd und tätschelt mitfühlend meinen Arm. „Wenn ich was wüsste?", in dem Moment komme ich mir wahnsinnig dumm vor.
„Öfter als ihr denkt befinden sich Dinge direkt vor eurer Nase, auf die ihr überhaupt nicht achtet, die im Nachhinein äußerst wichtig sein könnten", klärt sie mich dann weiter auf und ich hebe meine einen Augenbraue, sodass sie bis unter meinem Haaransatz verschwindet.
„Und du etwa nicht", kontere ich dann geschickt und Chiara lacht ertappt.
„Okay, erwischt", gibt sie sich geschlagen. Bei ihrem herzlichen Lächeln bildet sich ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch und auf mein Gesicht fliegt ein seliges Lächeln.
Immer wieder wird mir mehr und mehr bewusst, was für einen riesigen Fehler ich doch mit Amy gemacht habe.
Zwar habe ich nur ihren Freund gespielt, aber Chiara hat das falsch interpretiert und war am Boden zerstört.
Okay, wer wäre das nicht...!? Genau, niemand.
Manchmal frage ich mich, was wohl gewesen wäre wenn das mit Amy nie passiert wäre.
Könnten Chiara und ich dann jetzt ein Paar sein?
Ich weiß, dass sie mich mehr als nur freundschaftlich mag, denn sonst wäre sie auf der Ferienparty nicht so ausgerastet. Doch auch die Mimik von Jason verdeutlichen mir das nochmal mehr.
Er hat es zwar nie explizit erwähnt, dass seine Schwester in mich verliebt ist, aber er hat immer wieder so kleine Andeutungen gemacht, genauso wie der Rest meines Freundeskreises.
Warum bin ich auch nur so derart bescheuert?
Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Aber wie es aussieht besitze ich echt ein Talent geliebte Menschen, die mir etwas bedeuten zu vergraulen!
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