Trophäe - Der Sammler der toten Seelen

»Tante Philia! Da! Das letzte Haus in der Straße!«, sieht mich meine Nichte Gia freudig strahlend an und zeigt mit ihrem zierlichen Zeigefinger auf das alte Gebäude am Ende der Sackgasse. Das Haus wirkt sehr alt jedoch nicht völlig herunter gekommen, aber auch nicht äußerst einladend. Mein Herz sagt mir dem kleinen Wesen auf dem Bürgersteig mit dem Kürbiseimer in der Hand noch jeden Wunsch abzulesen, da mein Babysitter Abend an Halloween sich allmählich dem Ende zu neigt. Jedoch bin ich froh, dass mein Bruder mich praktisch zum Aufpassen genötigt hatte, weil ich die letzten Tage nach meiner Trennung von Max vor drei Monaten meist völlig vereinsamt in meinen eigenen vier Wänden verbracht hatte. Dieses gruselige Spektakel zu feiern ist noch nie mein Fall gewesen. Generell bin ich eher ein sehr einsamer Mensch und versuche an den Abenden nicht alleine in absurden Bars herum zu streunern, um nach der Liebe zu suchen. Wortspiele, denn mein Kostüm ist sogar eine bescheidene Werwölfin. Meine Nichte Gia hingegen stellt eine eiskalte Hexe mit viel zu großem Hut auf der bunten Perücke dar. Mit ihren kleinen Patsche-Händchen zieht das sechsjährige Mädchen mich durch die mit verkleideten Kindern und ihren Eltern befüllten Gehwege. »Na schön! Noch dieses Haus! Dann ist aber wirklich Schluss.«, lache ich und das schöne Lächeln dieses Kindes überstrahlt jede weitere unnötige Diskussion. Gefolgt von der Erkenntnis, dass ich eine total inkonsequente Mutter sein würde.

Gia öffnet ein kleines Gartentor, dass der Einstieg zu dem seltsamen Grundstück ist. Zusammen mit ihr folge ich dem unebenen Pfad zu der hölzernen Veranda. Das Anwesen wirkt einschüchternd. Der Garten ist fürchterlich verwildert. Der Gehweg birgt mehr Stopperfallen als vermutet.
An der Tür angekommen betätige ich den Türklopfer vorsichtig mehrmals, der einen lauten Hall hinter der Haustür des Hauses verursacht. Nach wenigen Sekunden öffnet eine ältere Dame mit einem grauen Dutt auf ihrem Kopf und mit einer großen runden Brille im Gesicht nur einen Spalt des Eingangs, da eine silberne Sicherungskette eine weitere Öffnung nicht ermöglicht. »Bitte?«, spricht sie mit einem bissigen Unterton und wirkt alles andere als freundlich. »Süßes oder saures?«, versucht Gia mit ihrer fröhlichen Art das Eis zu brechen, dass wohl eine positive Wirkung auf die ältere Dame abwirft, die ihr zu lächelt. Dieses Lächeln gefällt mir ganz und gar nicht, doch wollte ich meine Nichte nicht enttäuschen, die sich über den Tag mit ihrer besten Tante sehr gefreut hatte und spiele das Spiel der seltsamen Frau mit. »Hier, Liebes!« Sie überreicht der kleinen Hexe eine Tüte mit Süßigkeiten, die fröhlich auf und ab hüpft. »Danke schön!«, quietscht Gia beim Betrachten ihrer Ausbeute. Ich nicke der alten Dame einfach nur höflich zu. »Na komm! Lassen wir die Frau nun ihren Abend genießen.«, fasse ich ihr an den Arm, um die kleine Hexe wieder auf den Weg zu schieben als im selben Moment die Stimme der Grundstückbesitzerin sich erneut erhebt. »Moment junges Fräulein! Hier ist auch noch eine Tüte mit Bonbons für ihre Mühe.«, stimmt die Fremde hinter der Tür ein merkwürdiges Gelächter an und streckt es mir entgegen. »Danke sehr.«, lächel ich ihr gezwungen zu während ich es überfordert annehme und im gleichen Atemzug die Tür wieder zu knallt. Völlig perplex stehe ich nun hier wie angewurzelt bis eine Kinderhand mich aus meiner Trance weckt. »Philia! Komm... Die Sonne geht unter!« Mein kleines Mädchen zeigt mit dem Finger auf die Sonne, die allmählich hinter den Bäumen verschwindet. »Entschuldige... Bin schon auf dem Weg.«, nehme ich einen tiefen Atemzug um den Heimweg anzutreten. Das Gefühl diesen Ort endlich verlassen zu können ist wahrlich befreiend. Mitten auf dem Weg zu dem Haus meines Bruders wird mir klar, dass unsere Süßigkeiten unterschiedlich aussehen. Während Gias Bonbons kunterbunt sind erkennt man auf meinen Zeichen, die nach alten Runen aussehen, die mir sehr bekannt vorkommen. In meinem Kunststudium hatte ich mal ein Referat über den Missbrauch von Runen gehalten, doch ist dies schon ungefähr zwei Jahre her und meine Erinnerung daran nur noch sehr schwammig. Mein Bruder steht bereits an der Tür und winkt seiner aufgeregten Tochter zu, die ihm sofort den Eimer in Kürbisform ins Gesicht streckt, dass dem liebevollen Vater ein lautes Lachen entlockt.

»Das sah aber nach viel Spaß aus. Zwei große Tüten. Wow!«, untermalt Cedric seinen amüsierten Austausch mit seinem liebsten Schatz auf dieser Welt. Nach dem Tod seiner Frau muss mein Bruder sehr viel arbeiten, weshalb ich oft auf Gia aufpasse, wenn seine aktuelle Freundin Helen geschäftlich als Event Managerin verreisen muss. Natürlich ist Helen kein Mutterersatz für Gia, doch die beiden lieben sich auf familiärer Ebene. Die stärkste Bindung hat Gia aber immernoch zu mir. Sie sieht mich als Vorbild, dass mir sehr schmeichelt. »Wenn ich einmal groß bin dann werde ich so wie Tante Philia.«, sagt Gia immer. Dieser Satz schmeichelt einer jungen Frau wie mir, deren aktuelles Leben ein Chaos ist und gibt einem ein wenig Hoffnung. Das liegt wohl daran, dass unser Sternzeichen dasselbe ist und unsere Seelen sich erschreckend ähneln. Zwei aufgeschlossene Fische, wenn man Astrologie glaubt. Bald bekommt die Familie auch noch Zuwachs aber Gia ist bis jetzt noch die einstige Unwissende in der Geschichte. Ich hoffe, dass der kleine Sonnenschein sich über ein neues Geschwisterteil freuen wird. Denn noch einmal Tante zu werden ist ein wunderbares Gefühl. »Ophilia! Komm herein. Ich habe uns einen Glühwein aufgestellt!«, bittet mein Bruder mich höflich und berührt mich sanft an der Schulter, dass eine sehr liebevolle Geste seinerseits ist. Zu der herbstlichen Jahreszeit ist ein Glühwein ein echtes Geschenk.

Ich nehme an dem großen Esstisch in seiner Küche Platz, die heute außerordentlich sauber ist; sehr ungewöhnlich für ihn. Vielleicht erwartet Cedric noch besonderen Besuch. »Erwartest du jemand?«, grinse ich ihn an, der sich nur verlegen am Kopf kratzt. »Ich möchte Helen einen Antrag machen. Sie kommt früher nach Hause.«, flüstert er mir leise zu. »Das freut mich aber sehr!«, bricht es aus mir heraus, weshalb Gia uns fragend nacheinander ansieht, sich aber wieder ihren Süßigkeiten widmet. Ich umarme meinen Bruder ganz fest um ihn zu beglückwünschen, dabei fällt meine durchsichtige Verpackung der Ausbeute vom Tisch und ein kleines Papier breitet sich auf dem Boden aus, welches mit ein paar Worten versehen ist. Entweder ist es der Glühwein, der mich verrückt werden lässt oder eine geheime Botschaft steckt hinter diesen Dingern, der ich auf den Grund gehen sollte. »Ich geh' kurz ins Badezimmer.«, teile ich den beiden mit und verschwinde schon in die zweite Tür des Flures. Langsam schließe ich den Zugang des Badezimmers hinter mir und falte das Papier sorgfältig auf. »Lüfte das Geheimnis meiner Ewigkeit. Hinter der Eiche am Friedhof erfährst du mehr über mich.«, steht dort in klein geschrieben. Ich sehe auf mein Smartphone und bemerkte, dass es schon fast zehn Uhr ist. Welche Frau würde sich um diese Zeit noch an solch einem merkwürdigen Platz aufhalten. Vielleicht ist es eine Halloween- Schnitzeljagd mit einem hohen Preis. Geld würde mir tatsächlich in meiner aktuellen finanziellen Lage sehr weiter helfen. Die alten Schulden der Universität und die hohe Mieten sind sehr belastend für mich. Entweder treffe ich auf einen charmanten jungen Mann oder auf einen Serienmörder? Ich entscheide mich an das Positive zu denken und das Geheimnis des Erstellers zu lüften, um eine saftige Belohnung zu kassieren.

»Cedric? Gia?«, öffne ich die Tür im Bad leise während die zwei auf dem Sofa miteinander toben und mich erst gar nicht in ihrem spielerischen Wahn wahr nehmen. Typisch! Ich entscheide mich die Hintertür zu nehmen, um ihre Vater-Tochter Session nicht zu stören.
Ein Blick auf meinen Handy offenbart mir, dass der Akku meines Smartphones Gott sei es gedankt noch voll ist, da ich es heute nur kurz verwendet habe, weshalb ich die kaum genutzte App zur Taschenlampenfunktion für diese lächerliche und dämliche Aktion nutzen kann. Heimlich schleiche ich mich aus dem Haus als hätte ich etwas zu verbergen. Eigentlich völlig absurd, doch mein großer Bruder würde sich nur wieder unnötige Gedanken um mich machen. Durch den Garten gelangt man schnell wieder zu der Straße. Ich gehe mit schnellen Schritten den Gehweg entlang, biege an ungefähr gefühlten drei Ecken ab und gelange auf den steinigen Weg des Friedhofs, dieser sich an dem mysteriösen totenstillen Waldrand der Kleinstadt befindet. Nicht einmal die Grillen hört man zirpen oder die Eulen heulen ein lautes "Uhu". Der Ort wirkt beängstigend, doch mein Ehrgeiz ist unglaublich selbstbewusst.
Ich bin nun auf der Suche nach einer alten Eiche, die an ihrem Stamm eine weitere Botschaft für das gestellte Rätsel auf weisen könnte. Geduckt schlängel ich mein Kostüm durch den kleinen Torbogen, der mich in echte Schwierigkeiten bringen könnte. Der Mondschein erleuchtet den Ruheort der alten Tage mit hellem Licht, denn einige der verwilderten Gräber wirken schon ein Jahrhundert alt. Es ist offensichtlich nicht der neue Friedhof der Stadt. So viel ist sicher. Der leichte Nebel erschwert zusätzlich die Suche nach der Auflösung an diesen absurden Ort. Jedoch nach einer Weile gelingt es mir den markierten Baum zu finden und genau zu betrachten. Mit rot leuchtender Farbe ist die Rune eines Kreuzes abgebildet. Man nennt diese Nauthiz, die übersetzt "Not" bedeutet. Ich suche in dem Tüteninhalt der Süßigkeiten nach dieser Rune und werde gleich fündig. Ich falte den Zettel auf und lese die Zeilen in Gedanken vor. "Du bist am Ort meiner Vergangenheit. Hilf mir und suche nach dem Grabstein mit einem ebenfalls markierten Zeichen , der meinen wahren Namen offen legt." Das wird sicher nicht leicht. Ich laufe jede Reihe mit Grabsteinen sorgfältig ab, doch kann nicht erkennen um welchen es sich handeln könnte. Aber als ich schon aufgeben wollte, fällt mir ein seltsamer Stein auf, der einem oval gleicht und sich hinter ein paar Rosen versteckt. Eine weitere rot leuchtende Rune zeigt sich. Kenaz, die Offenbarung. Mit vorsichtigen Schritten nähere ich mich dem Gestein und bekomme ein unwohles Gefühl in der Magenregion, dass sich nicht erklären lässt. Der Name ist eingestaubt, weshalb ich mit meinen Fingern versuche die Buchstaben frei zu wischen.

Benjamin Thomson. Gestorben am 31.10.1803.

»Das gibt es doch gar nicht. Es geht hier um einen Verstorbenen?«, murmele ich leise zu mir selbst. Die Situation ist nun nicht mehr lustig sondern sehr ernst.
Spielt mir jemand einen blöden Streich?
Hinter mir sind auf einmal Schritte zu vernehmen.»Du hast mich wohl gefunden, Ophilia.«, spricht eine männliche dunkle Stimme meinen Namen mit der Eleganz aus einer alten Zeit aus. Panisch drehe ich mich um und leuchte in die Richtung des sprechenden Unbekannten als ein junger blass aussehender Mann mit eisblauen Augen mit seinen gelben Lederhandschuhen über das Gestein der Gräber fährt. Sein Outfit wirkt sehr elegant. Sein Gesicht nahezu makellos. Er ist groß und umhüllt dies mit einem schwarzen Mantel. »Wer bist du?«, frage ich ihn ängstlich, der keinen Schritt weiter macht und seinen Blick zum Mond schweift. »Benjamin Thomson. Ich sammle die alten Seelen der bereits schon einmal verstorbenen Wesen und bringe diese in mein Schattenreich zurück, wenn sie mir durch die Hilfe von Hexen wieder entkommen sind. Ich habe schon viele erschaffen.«, fasselt der Verrückte wirres Zeug, dass mir ein kurzes Lachen entlockt. »Alte Seelen?«, schmunzel ich leicht um meine Angst zu überspielen. Wieso kommt mir seine Erscheinung bekannt vor? Wo könnte ich dieses sonderbare Indivium schon einmal gesehen haben?

Er kommt näher auf mich zu. »Ophilia. Du beherbergst eine dieser alten Seelen, die mir sehr viel bedeutet. Dein Aussehen gleicht meiner Geliebten aus alten Tagen eins zu eins.«, seufzt der angebliche hundert Jahre alte Benjamin und fährt seine Rede unbeeindruckt von meinem Spott fort. »Öffne das Bonbon mit der Abbildung Perdo.«, weist er mich nun an. Zaghaft aber immer wieder mit dem Blick auf mein Gegenüber suche ich nach der Rune in der Tüte, die nach ein paar Sekunden auch schon in meinen Händen liegt. »Öffne es!«, befiehlt er mir nun mit einem härteren Ton, der mir in noch mehr Angst macht. Das Adrenalin in meinen Adern pulsiert. Beim Öffnen des Papieres offenbart sich ein altes Bild einer jungen Frau, die meinem Abbild gleicht. Der Schock sitzt und als ich wieder den Blick auf Benjamin heben möchte, steht dieser schon direkt vor mir. Er hält mich mit einer Hand am Arm fest und mit der anderen meinen Mund zu, damit man mich nicht schreien hört.
Er wirkt unglaublich stark. Ein entkommen wirkt fast unmöglich in meiner Schockstarre. Seine eisblauen Augen wandern meinen Hals entlang und eine Weile starrt der große Mann eine Stelle darauf verdächtig lang an. »Keine Angst, Opholia. Du kommst wieder nach Hause.«, lächelt Benjamin zufrieden als sein Mund auch schon an der Haut meines Halses knappert. Es fühlt es sich nach mehreren intensiven Küssen an, doch nach wenigen Sekunden wurde aus den Küssen ein fester Biss, dessen Lippen heftig an mir saugen. Ich bemerke, dass Blut seinen Armen hinab läuft. Wegen dem leichten Druckschmerz
an meiner Kehle beiße ich mir dummerweise auch noch auf meine Zunge und meine Beine werden weich.
Dieses Gefühl das meine Seele meinen Körper verlässt ist nun keine lächerliche Illusion sondern eiskalte Realität geworden, dass mich zu einer weiteren Trophäe seiner Sammlungen macht.

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Wer ist die älterer Frau in dem verlassenen Gebäude? Welche Rolle spielt sie in dem Rätsel?

Was hat es mit den Runen auf sich?

Wer ist Benjamin nun wirklich?

Wie viele Opfer gibt es noch?

Diese Fragen bleiben wohl für immer unbeantwortet. 🎃👻


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