Kapitel 7
Das Longboard unter meinen Füßen ratterte über den Asphalt. Ich fühlte mich wie gerädert. Nachts hatte ich kaum ein Auge zubekommen. Ständig kamen mir wieder die Bilder in den Kopf. Michas vor Wut verzerrtes Gesicht, die Angst gleich verprügelt zu werden und dann dieser Kuss. Die ganze Nacht hatte ich darüber nachgegrübelt, wie das Ganze zusammen passen könnte, bis der Groschen endlich gefallen war.
Vermutlich rührte Michas Wut mir gegenüber daher, dass er eigentlich auf Männer stand, aber es sich selbst nicht eingestehen konnte. Obwohl ich immer noch extremen Ekel ihm gegenüber empfand, weil er mich einfach übergriffig gepackt und geküsst hatte, konnte ich ihn auch ein ganz kleines bisschen besser verstehen. Warum er so war, wie er war und mich schon seit so langer Zeit auf dem Kieker hatte.
Trotzdem fragte ich mich, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich hatte Angst, ihm wieder zu begegnen und Angst davor, was dann passieren würde. Deshalb war ich heute extra wieder etwas später dran. Aber auch, weil ich meiner Mama nicht begegnen wollte. Als sie am Abend zuvor von der Arbeit kam, hatte ich so getan, als würde ich schon schlafen und heute Morgen hatte ich extra gewartet, bis sie aus dem Haus war, bevor ich aufstand.
Als ich in der Schule ankam, waren die Flure leer, der Unterricht hatte schon begonnen. Schnell rannte ich zum Klassenzimmer, doch als ich dort ankam, war auch hier niemand zu sehen. Erst als ich einige Sekunden verdutzt in den Raum starrte, fiel mir wieder ein, dass wir heute die ersten zwei Stunden Musik hatten und die anderen vermutlich schon im Musikraum waren.
Außer Atem kam ich beim Musikraum an. Von drinnen hörte ich sanfte Klaviertöne. Das ist meine Chance! Solange Herr Babst in sein Klavierstück vertieft ist, kann ich mich unbemerkt zu meinem Platz schleichen.
Vorsichtig drückte ich die Türklinke nach unten und öffnete langsam die Tür. Ich lugte durch den Türspalt und sah meine Mitschüler*innen, die alle wie gebannt zum Klavier schauten. Ich öffnete die Tür ein Stück weiter und quetschte mich hindurch. Auf Zehenspitzen schlich ich zu meinem Tisch, als ich erschrak und abrupt stehen blieb. Denn als ich ans Ende des Raumes sah, stand dort zu meiner Überraschung: Herr Babst.
Der hagere alte Mann, mit zerzausten grauen Haaren, blickte mich missbilligend über die Ränder seiner kleinen runden Brille an. Ich spürte, wie ich erst bleich und dann rot wurde. Mit einem energischen Handzeichen und einem weiteren bösen Blick, gab er mir zu verstehen, dass ich mich endlich auf meine vier Buchstaben setzen und den Unterricht nicht weiter stören solle. Schnell setzte ich mich hin.
Erst jetzt fragte ich mich, wer denn dann eigentlich am Klavier saß. Ich hob meinen Blick. Die Kinnlade klappte mir nach unten. Dort, an dem großen Flügel, saß niemand anderes als Timothy, der komplett in der Musik versunken, seine Finger über die Tasten gleiten ließ. Wow!
Ich spürte, wie sich mir die Härchen am Arm und im Nacken aufstellten. Ich hatte zwar nicht viel übrig für klassische Musik, aber selbst jemand wie ich verstand, dass das, was uns da gerade geboten wurde, ganz große Klasse war.
Als ich es nach ein paar Sekunden schaffte, den Blick endlich wieder von Timothy abzuwenden, und stattdessen meine Augen durch die Klasse streifen ließ, sah ich, dass alle anderen wohl gerade das Gleiche empfanden. Mia, Luisa und Irina schmachteten Timothy wie immer an. Aber auch der Rest der Klasse starrte wie gebannt auf unseren neuen Mitschüler.
Auch ich beobachtete ihn wieder. Immer noch spielte er wie in Trance, mit geschlossenen Augen auf dem Klavier, als wären er und das Instrument eins. Und auch ich hatte das Gefühl, Ton für Ton in den Bann der Musik gezogen zu werden. Dann wurde das Stück langsamer. Es ertönten nur noch ein paar sanfte Klänge, als es zu Ende ging. Ein Raunen ging durch die Reihen. Timothy verweilte noch mit geschlossenen Lidern in seiner Pose, während der letzte Ton im Raum verschwand.
Dann öffnete er sie und blickte mir mit seinen bernsteinfarbenen Augen direkt ins Gesicht. Das Blut in meinen Adern schien zu gefrieren und wieder stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ich konnte seinen durchdringenden Blick nicht deuten. Hatte ich ihn vielleicht gestört, als ich zu spät ins Zimmer geschlichen war. Doch er sah nicht wütend aus.
Ich wich seinem Blick nicht aus und starrte genauso forschend zurück. Die Luft zwischen uns schien zu knistern. Dann wandte er sich wieder von mir ab und lächelte in die Runde, als die anderen anfingen zu klatschen. Auch Herr Babst war inzwischen wieder nach vorne ins Klassenzimmer gekommen und strahlte bis über beide Ohren: „Vielen Dank Timothy, für das wunderbare Stück. Das hat unseren Musikunterricht heute sehr bereichert. Ich würde mich freuen, wenn noch mehr von euch sich so für Musik begeistern könnten."
Herr Babst begann mit seinem Unterricht, Timothy ging zu seinem Platz neben Mia. Als er sich setzte, hakte sie sich direkt bei ihm ein und hauchte ihm mit glänzenden Augen irgendetwas ins Ohr. Ich fühlte mich immer noch ganz berauscht von der soeben gehörten Darbietung und dem seltsam durchdringenden Blick, sodass ich Herr Babst nicht mehr zuhörte. Die zwei Musikstunden und die darauffolgenden Deutsch- und Geografiestunden vergingen wie im Flug.
Wir hatten Mittagspause und ich stellte mich an der Reihe der Essensausgabe an. Ich spähte nach vorne, um zu erkennen, was es heute gab und staunte nicht schlecht, als ich Nudeln mit Tomatensoße entdeckte – mein Leibgericht. Verstohlen blickte ich mich um, ob ich irgendwo einen der Mobber entdeckte. Die Luft war rein.
Die Dame an der Essensausgabe musterte mich kurz und empfand mich wohl als zu dünn, denn sie schaufelte mir eine extra große Portion auf den Teller. „Guten Appetit!", sagte sie und reichte mir lächelnd den Teller. Ich stellte ihn zusammen mit einer Flasche Apfelschorle auf mein Essenstablett und schob es ein Stück weiter zur Kasse und bezahlte. Das Wasser lief mir schon im Mund zusammen und mein Magen knurrte hörbar, als ich mein Tablett zu meinem Stammtisch balancierte.
Dann passierte, was passieren musste. Unerwartet tauchte Micha vor mir auf, sein Gefolge dicht hinter ihm. „Na, hungrig? Dann guten Appetit!", und mit diesen Worten schlug er heftig von unten gegen mein Essenstablett. Der Teller mit roter Soße landete direkt auf meinem schwarzen Hemd. Vor Schreck ließ ich das Tablett samt Teller und Flasche fallen. Es knallte laut auf den Boden. Einige Schüler*innen drehten sich neugierig um, manche fingen an zu kichern.
Die Apfelsaftflasche war zum Glück noch heil und rollte bis zu Micha, der sie mit dem Fuß stoppte. „Mein Gott, schaut euch dieses Opfer an!", lachte er laut los und auch seine Kumpanen fielen mit in das Gelächter ein.
Das ist doch nicht zu fassen! Du dummes widerliches Arschloch! Und mit dem hatte ich auch noch Mitgefühl, weil er sich nicht traut, sich zu outen. Na warte, du Miststück, dir werd' ich's noch zeigen!
Wenn Blicke töten könnten, wäre Micha jetzt tot umgefallen. Doch die drei drehten sich einfach um und ließen mich stehen. Ich stand da, die Hände wütend zu Fäusten geballt, mein ganzer Körper angespannt wie unter Strom. Ich bemerkte Robin, der mich mitleidig anschaute. Die meisten anderen Schüler*innen, die ebenfalls gelacht hatten, wandten sich wieder ihrem eigenen Essen und ihren Gesprächen zu.
Dann tauchte auf einmal Grace neben mir auf, mit einem Stapel Papierservietten bewaffnet. Dankbar rang ich mir ein Lächeln ab. „Du weißt schon, dass wenn du mir hilfst, du auch bald zu ihren Opfern zählst", bemerkte ich und versuchte mein Hemd mit einer der Servietten sauber zu bekommen, während sie die restlichen Nudeln vom Boden wischte. „Pff, keine Sorge, mit denen werde ich schon fertig", kicherte sie und knüllte die restlichen Servietten zusammen.
„Und ich hatte mich so auf die Nudeln mit Tomatensoße gefreut, aber jetzt ist mir der Appetit auch eher vergangen", jammerte ich. „Das glaube ich dir." Gequält setzte ich mich an den Tisch neben mir und öffnete meine Flasche Apfelsaftschorle, die natürlich direkt übersprudelte. Ich sah genervt auf die sprühende Fontäne in meiner Hand: „Also heute wirds auch nicht mehr besser."
Grace setzte sich mir gegenüber an den Tisch und grinste. „Du bist echt ein Pechvogel, aber nachher haben wir Foto-AG. Das wird sicher wieder cool." Ich lächelte zurück. „Ja, da hast du recht. Ich habe jetzt noch zwei Stunden Mathe und dann mit dir Foto-AG, also stundenplantechnisch ein Jackpot."
Wir hielten noch ein bisschen Small-Talk. Es war ein schönes Gefühl, nach so einer miesen Situation nicht alleine zu sein. Trotzdem machte ich mir direkt ein bisschen Sorgen. Ich wollte nicht, dass sie auch noch in den Fokus der Mobber geraten könnte. Doch sie schien vor ihnen keine Angst zu haben.
Den restlichen Tag hielt sich mein Pech in Grenzen. Nach einer interessanten Doppelstunde Mathe, folgte die Foto-AG, die zusammen mit Grace wieder viel Spaß machte und schnell vorbeiging. Über Timothy sprachen wir allerdings nicht. Inzwischen hatte ich mich damit abgefunden, dass er mich wohl für immer und ewig grundlos hassen würde. Und Grace war sowieso viel netter.
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Hallöchen ihr Lieben,
ich weiß, ihr wollt mehr Tristan-Timothy-Content und die ersten Kapitel sind bisher noch ein bisschen zäh, aber ich kann euch versprechen, im nächsten Kapitel wird etwas angekündigt werden, was die Beziehung zwischen den beiden ändern wird. Und ab dann geht's so richtig los :D
Seid gespannt! :D
Und wenn euch das heutige Kapitel gefallen hat, dann lasst mir gerne wieder einen Kommentar oder einen Vote da. Ich freue mich jedes Mal sehr darüber!
Eure Elena :)
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