Kapitel 5
Wie so oft schlich ich mich als letzter ins Klassenzimmer und erntete einen bösen Blick von Frau Haas. Doch das konnte meine Stimmung nicht noch mehr herunterziehen. Das Wochenende war furchtbar. Am Freitag hatte ich Frau Mazurek gebeichtet, dass mein Skizzenbuch durch einen Unfall am Tag zuvor zerstört wurde. Da sie mein Zeichentalent kannte, war sie aber nicht sauer und gab mir eine weitere Woche Zeit für die Abgabe. Trotzdem durchlief ich das darauffolgende Wochenende wie in Trance und trauerte um meine Herzensarbeit, die unwiederbringlich zerstört worden war.
Als ich dann montagmorgens am bösen Blick von Frau Haas vorbeiblickte und Timothy auf seinem Platz neben meinem entdeckte, war das Gefühlschaos perfekt. Mein Herz schlug mir plötzlich wieder bis zum Hals. Vor Wut. Obwohl mir klar war, dass Timothy nicht ewig krank zu Hause bleiben würde, konnte ich es nun trotzdem kaum fassen, ihn wieder an meinem Tisch sitzen zu sehen.
Ich setzte mich an meinen Platz und begrüßte ihn, nett wie ich war, mit einem kurzen „Hallo". Wie zu erwarten, ignorierte er mich wieder. In diesem Moment fühlte ich mich so unglaublich verzweifelt, wütend und traurig zugleich. Nur mit viel Mühe schaffte ich es, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und die Tränen, die sich gerade einen Weg in meine Augen bahnten, zu unterdrücken.
Es war so seltsam. Ich wusste, dass mich niemand an der Schule leiden konnte, beziehungsweise der Großteil mich einfach ignorierte, da störte eine Person mehr oder weniger auch nicht. Doch bei Timothy war irgendetwas anders. Es verletzte mich extrem, dass mich dieser neue Junge ignorierte und hasste, obwohl er sich nicht mal die Zeit genommen hatte, auch nur ein Wort mit mir zu wechseln, geschweige denn, mich einfach erst kennenzulernen, bevor er sein Urteil über mich gefällt hatte.
Was ist eigentlich falsch mit mir?
Der Schultag schien nicht enden zu wollen. Was nicht nur an der unangenehmen Stille zwischen mir und meinem Nebensitzer lag, sondern auch daran, dass ich montags weder Mathe noch Kunst hatte. Ich quälte mich durch die Doppelstunde Deutsch, Spanisch, Englisch und am Nachmittag durch Ethik und eine Doppelstunde Geschichte. Während ich bei Geschichte fast einschlief, fragte ich mich, welches Monster diesen Stundenplan entwickelt hatte.
Auch am nächsten Tag wurde ich wieder von Timothy ignoriert. Dieses ständige Gefühlschaos machte mich noch verrückt. Außerdem schmerzte nicht nur mein Herz, sondern auch mein geschundener Unterarm inzwischen so sehr, dass ich mir vornahm, endlich etwas dagegen zu unternehmen. Ich erinnerte mich wieder an das Gespräch mit Grace. Am Ende der Foto-AG hatte sie mir versprochen, mit Timothy zu reden. Das hat ja gut geklappt.
In der Hofpause zündete ich mir wie immer eine Zigarette an und ließ meinen Blick über den Hof schweifen. Es dauerte nicht lange, bis mein Blick auf Grace traf. Sie trug heute ein kurzes schwarzes Kleid und darunter eine schwarz-weiß geringelte Strumpfhose. Über dem Kleid lag ein langer schwarzer Wollmantel, den sie lässig offen trug. Dazu ein dicker schwarzer Schal und ihre schwarzen Boots. Ihre Hände steckten in den Taschen ihres Mantels.
Sie erschien mir immer noch etwas fehl am Platz, wie sie da so leicht unsicher im Kreis von Göksu, Aisha und Lijana stand. Und obwohl Grace optisch so gar nicht in die Mädchenclique passte, hatten die beliebten Mädchen wohl einen Narren an ihr gefressen: Sie belagerten sie mindestens genauso oft, wie Mia, Irina und Luisa ständig Timothy.
Ich versuchte all meinen Mut zusammenzunehmen. Meine Hände zitterten und ich steckte mir schon die zweite Zigarette an. Ich überlegte, was ich ihr sagen könnte. Erst wollte ich sie wütend fragen, ob sie wirklich mit ihrem Bruder gesprochen hatte. Dann wollte ich sie anflehen, irgendetwas zu tun, damit sich irgendetwas an meiner Situation verbesserte. Und bevor ich mich für eine der beiden Optionen entscheiden konnte, klingelte es zur nächsten Stunde.
Zwei Schulstunden und viele Gedankengespräche später stand ich wieder vor der gleichen Entscheidung. Dank goldenem Sonnenschein, war es heute angenehm warm und anstatt sich in der Mensa zu verkriechen, saßen die meisten Schüler*innen draußen auf den Bänken. Auch Grace saß mit ihren Freundinnen auf einer Bank im Halbschatten einer großen Buche und biss gerade in einen Apfel.
Ich überlegte noch, ob ich wirklich mit ihr reden sollte, oder vielleicht doch einfach bis zur Foto-AG am Donnerstag warten wollte. Da hörte ich plötzlich Mias lautes Lachen. Mein Blick folgte dem Laut und ich entdeckte sie bei Timothy, der wie immer in ihrer Nähe sein höfliches Lächeln auf den Lippen trug. Wieder dieser Stich in meinem Herzen und die aufkommende Wut, die mich nun in Richtung Grace bewegten.
„Hallo", sagte ich leise, als ich vor Grace und den anderen Mädchen stand. Göksu und ihre Freundinnen betrachteten mich skeptisch. Die Anführerin wollte gerade Luft holen, um mir vermutlich an den Kopf zu werfen, dass ich mich schnellstmöglich in Luft auflösen solle, als Grace mich anlächelte und mit einem freundlichen „Hey Tristan, schön dich zu sehen", begrüßte. Ich lächelte zurück und musste ein Lachen unterdrücken, als ich die verblüfften Blicke der Mädchenclique bemerkte.
Doch bevor es für alle Beteiligten noch unangenehmer wurde, fragte ich Grace, ob ich kurz alleine mit ihr reden könne. Sie nickte und wir gingen ein paar Schritte auf die große Wiese, wo wir keine direkten Zuhörer in der Nähe hatten. „Also, dann erzähl mal", sagte sie immer noch mit ihrem schönen Lächeln. Ich atmete einmal tief ein und aus und begann dann zu erzählen: „Du meintest doch letzte Woche, dass du mit Timothy reden würdest. Also egal, ob du das getan hast oder nicht, er verhält sich mir gegenüber immer noch wie ein Arsch. Wenn ich wenigstens wüsste, was ich ihm getan habe, dann könnte er mich zu Recht ignorieren. Aber ich verstehe und ertrage sein komisches Verhalten nicht. Ich meine, er sitzt im Unterricht neben mir. Will er es jetzt das ganze Schuljahr vermeiden, auch nur ein Wort mit mir zu wechseln und mich für immer ohne Grund ignorieren?"
Es sprudelte plötzlich nur so aus mir heraus. Es tat gut, endlich jemandem von meinem inneren Wirrwarr zu erzählen. Und während ich redete, wurde Grace' Blick immer besorgter, bis sie mich schließlich unterbrach: „Tristan, das tut mir wirklich sehr leid. Ich habe mit Timothy geredet, ehrlich, aber er war auch mir gegenüber ziemlich verschlossen, was das alles betrifft. Ich werde auf jeden Fall nochmal mit ihm sprechen, weil egal welches Problem er hat, er hat nicht das Recht dich so zu behandeln."
Ich war erleichtert: „Danke, ich hoffe, das bringt etwas."
„Bestimmt", meinte sie ermunternd.
Wir verabschiedeten uns und sie ging wieder zurück zu ihren Freundinnen. Dachte ich zumindest, bis ich bemerkte, dass sie an ihren Freundinnen vorbeiging und auf ihren älteren Bruder Andrew zusteuerte. Sie packte ihn am Ärmel seiner Collegejacke und zog ihn beherzt aus der Traube von Sportlern, die ihn umringt hatten.
Ein paar Meter weiter weg, drehte sie sich zu ihm, um mit ihm zu reden. Ihr Gesicht wirkte wieder sehr besorgt. Ich blickte nun besorgt zu Timothy, der die beiden ebenfalls bemerkt hatte und mit einem genervten Blick beobachtete. Oje, hätte ich gewusst, dass Grace daraus gleich ein Familiendrama macht, hätte ich lieber doch bis zur Foto-AG am Donnerstag gewartet.
Während Grace immer noch auf ihn einredete, wanderte Andrews Blick erst zu Timothy und dann weiter zu mir. Ich spürte, wie mir direkt wieder die Röte ins Gesicht schoss und schaute schnell auf meine Schuhe. Peinlich!
Als ich mich wieder traute, hochzuschauen, sah ich, wie Andrew indessen etwas zu Grace sagte, abwinkte und sich wieder in Richtung Sportlergruppe bewegte. Grace sah ihm wütend hinterher, seufzte theatralisch und stapfte dann Richtung Timothy.
OH MEIN GOTT! WAS TUT SIE DENN DA? Sie soll doch nicht JETZT mit ihm darüber reden. Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott, ist das peinlich!
Jetzt war Timothy es, der energisch von seinem Platz gezerrt wurde. Grace hatte wieder ihre besorgte, fast schon mütterliche Miene aufgesetzt. Timothy schaute wütend drein wie ein bockiges Kleinkind. Doch er schien ebenfalls wenig beeindruckt von ihrer Rede zu sein und ließ Grace, genauso wie Andrew zuvor, alleine stehen. Während er wieder zu Mia lief, warf er mir einen vernichtenden Blick zu. Na, das lief ja super. In Zukunft kläre ich meine Probleme wieder selbst. Grace, die sichtlich genervt war von ihren Brüdern, stapfte wieder zurück zu ihren Freundinnen.
Ich setzte mich auf meinen Platz. Das Blut pulsierte unter meinen Wangen, als Timothy zusammen mit Mia ins Zimmer kam. Es war mir so unangenehm, vor allem da ich nicht wusste, was genau Grace zu ihm gesagt hatte. Ich rechnete schon mit dem Schlimmsten – ein Wutausbruch, oder ein Schlag ins Gesicht – doch es kam noch schlimmer. Er ignorierte mich einfach immer noch.
Innerlich platzte ich vor Wut und überlegte mir schon meinen nächsten Schritt, als Timothy sich neben mir plötzlich regte und mir unauffällig einen kleinen zusammengefalteten Zettel zu schob. Wieder begann mein Herz lautstark zu pulsieren. Aus irgendeinem Grund hoffte ich inständig auf irgendetwas Nettes. Doch natürlich wurde ich enttäuscht:
Lass mich verdammt nochmal in Ruhe!
Und hör gefälligst auf, meine Geschwister gegen mich aufzuhetzen!
Mir wurde schlecht. Wenn ich nur wüsste, was ich ihm getan hatte, dass er mich so sehr hasste. Und das mit seinen Geschwistern war doch gar nicht so geplant gewesen. Ich hatte einfach nur verzweifelt nach irgendeinem Rettungsseil gegriffen. Stattdessen hatte ich die ganze Situation nur noch schlimmer gemacht.
Doch anstatt ihm eine Erklärung zurückzuschieben, schrieb ich einfach nur „Fick Dich!" auf den Zettel und schob ihn wieder zu ihm. Ohne meine Antwort zu lesen, zerknüllte er das Stück Papier und ließ es neben sich auf den Boden fallen. Er hätte genauso gut mein Herz zerknüllen und auf den Boden werfen können.
--------------------------------------------------------------------
Hallöchen,
hui, ganz schön was los hier.
Trotzdem wissen wir immer noch nicht, was eigentlich mit Timothy los ist.
Und Grace hat die Situation, trotz Bemühungen, auch eher noch schlechter gemacht, schade ...
+++ Noch eine kurze organisatorische Anmerkung, da ein paar von euch gefragt haben:
Es wird mindestens jeden Freitag ein neues Kapitel hochgeladen. Zwischendurch, vor allem jetzt am Anfang, wird auch mal an anderen Tag ein Kapitel online kommen (z.B. heute :D).
Ich habe schon einige Kapitel vorgearbeitet und nach meiner Planung sollte so bis Ende Oktober/Anfang November regelmäßig ein Update kommen. Da Anfang Oktober mein Semester wieder startet, weiß ich noch nicht, wie oft ich dann noch zum Schreiben komme. Eventuell gibt es da dann mal eine Update-Pause, aber das werde ich auf jeden Fall nochmal ankündigen. +++
P.s.: Zukünftige Ankündigen und Organisatorisches schreibe ich nicht mehr hier ins Buch, sondern schicke ich ab jetzt direkt als Nachricht an meine Follower. Also wenn ihr nichts verpassen wollt, dann folgt mir gerne :)
So, aber jetzt genug von mir ;)
Liebe Grüße Elena <3
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top