Kapitel 44
Auch in dieser Nacht konnte ich nicht richtig schlafen und ich war einfach nur froh, als Robins Wecker am Morgen endlich klingelte. Ich wollte nur noch nach Hause. Nachdem wir alle nacheinander im Bad waren, gingen Timothy und Henry schon mal vor zum Frühstück.
Robin und ich mussten unsere Koffer noch fertig packen. Die ganze Zeit plagte mich das schlechte Gewissen, weil ich mich ihm gegenüber so dämlich verhalten hatte. Ich wollte ihn nicht komplett vergraulen und nahm meinen ganzen Mut zusammen.
„Rob?"
„Mhm?", grummelte er, ohne von seiner Tätigkeit aufzuschauen.
„Sorry, dass ich gestern so scheiße zu dir war", meinte ich und schaute dabei auf den Boden.
Jetzt drehte er sich zu mir um und ich erkannte schon wieder ein Lächeln auf seinen Lippen. „Alles gut, Tris. Wir haben alle mal 'nen schlechten Tag, auch wenn du dich wirklich saudämlich benommen hast."
„Sorry."
„Willst du darüber reden?"
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass ich dann wieder heulen würde und das wollte ich jetzt nicht mehr. „Aber kannst du im Bus vielleicht neben mir sitzen?"
Er kam zu mir und legte seine Hand freundschaftlich auf meine Schulter. „Ich kläre es mit Henry ab, aber das wird bestimmt gehen." Er machte eine kurze Pause. „Tristan, du solltest das aber mit Timothy klären, was auch immer da zwischen euch vorgefallen ist."
Ich wich seinem Blick aus und drehte mich wieder zu meinem Koffer und dem Klamottenberg daneben. „Mach' ich", murmelte ich.
Die Busfahrt zog sich ewig. Ich hatte mich neben Robin am Fensterplatz verschanzt und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Kopfhörer in meinen Ohren dröhnten auf voller Lautstärke.
Endlich am Busbahnhof angekommen, warteten schon einige Eltern. Ich hielt Ausschau, aber meine Mum war noch nirgends zu sehen. Unser Busfahrer hievte die Koffer aus dem Bauch des Busses. Als ich meinen entdeckte und aus dem Gewühl heraus zog, fuhr gerade Mamas Auto her.
Ohne mich von meinen Freund*innen zu verabschieden, lief ich in schnellem Schritt zu ihr. Noch bevor sie aussteigen konnte, hatte ich mein Gepäck in den Kofferraum geschmissen und saß neben ihr auf dem Beifahrersitz.
„Na mein Liebling. Wie war's?"
„Mama ..." Schon schossen mir die Tränen in die Augen.
„Mein Schatz, was ist passiert?", sagte sie, während sich schon eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn bildete. Dann versuchte sie, mich in den Arm zu nehmen, was im Auto etwas umständlich war.
Ich wollte nicht, dass andere Mitschüler*innen etwas mitbekamen. „Kannst du bitte schnell heimfahren?", schluchzte ich deshalb. Sie nickte immer noch sorgenvoll und startete dann den Motor.
Sobald wir ums Eck waren, schaute sie wieder zu mir. „Was ist los, mein Liebling?" Ich versteckte mein Gesicht in den Händen und schluchzte laut los. Ich wollte nicht darüber reden. Soweit es das Autofahren zuließ, streichelte sie mir immer wieder tröstend über den Arm. Es dauerte nicht lange, bis wir endlich in unsere Hofeinfahrt einbogen.
„Ich nehm' deinen Koffer. Geh gleich rein."
„Danke, Mama." Doch als ich die Haustür öffnete, kam schon Maja angehüpft.
„Na Brudi, wie ...?" Sie stockte, als sie mein verweintes Gesicht sah. Schnell nahm sie mich in den Arm, wo ich von Neuem anfing zu weinen. Jetzt war auch Mama hinter mir und streichelte mir ebenfalls sanft über den Kopf.
„Magst du erzählen, was passiert ist?", fragte jetzt auch Maja. Ich schniefte noch ein paar Mal und schluchzte dann: „Ich hab' Streit mit Timothy."
„Ach Liebling." Mama hörte sich irgendwie erleichtert an. Vermutlich hatte sie Schlimmeres erwartet. Aber für mich gab es gerade nichts Schlimmeres. „Das wird schon wieder. In jeder Freundschaft streitet man sich mal. Ihr vertragt euch bestimmt ganz schnell wieder."
Ich schüttelte den Kopf und Maja, die etwas mehr wusste als Mama, schaute mich mitfühlend an. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Ich wollte, dass Mama verstand, warum es so schrecklich für mich war. „Ich bin verliebt in Timothy, aber er hat mir einen Korb gegeben." Wieder schluchzte ich laut und Maja drückte mich erneut an sich. Es laut auszusprechen, schmerzte noch viel mehr, als nur darüber nachzudenken.
Jetzt umarmte mich auch Mama. „Mein armer Liebling", flüsterte sie mir liebevoll ins Ohr.
Als ich mich nach ein paar Minuten wieder beruhigt hatte, schlug Maja vor, einen Filmmittag zu machen, um mich abzulenken. „Das machen wir und ich mach' uns Popcorn und Eiscreme haben wir auch noch im Gefrierfach", meinte Mama enthusiastisch.
Ich musste ein bisschen grinsen, weil die beiden sich so viel Mühe machten. Doch ich wollte jetzt lieber alleine sein. Ich wischte mir die Tränen am Ärmel meines schwarzen Pullovers ab. „Ich glaube, ich gehe lieber nach oben. Ich habe die letzten Nächte nicht so gut geschlafen und lege mich ein bisschen hin."
Mama sah fast ein bisschen enttäuscht aus, doch Maja nickte mir liebevoll zu. „Meld' dich, wenn du was brauchst", meinte sie.
„Mache ich", antwortete ich und ging die Treppe nach oben. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis der schwarze Sumpf in meinem Kopf mich wieder vollkommen eingehüllt hatte. Ich kannte nur eine Möglichkeit, mich daraus zu befreien. Schon saß ich an meinem Schreibtisch und zog die silberne Box zu mir.
Mein Gesicht war noch nicht ganz trocken, als erneut Tränen darüber rannen. Ich packte die Rasierklinge aus und ließ sie ohne zu zögern über die Haut meines rechten Unterarms gleiten. Ich starrte auf die feinen roten Linien, die sich langsam mit dicken Blutstropfen füllten, bis diese zu schwer wurden und an meinem Arm hinunterrannen.
Ich hörte nicht auf, bis mein Arm blutüberströmt war. Erst jetzt realisierte ich, dass sich nicht der übliche Schmerz einstellte, der die Dunkelheit durchbrechen konnte. Ich fühlte einfach gar nichts. Nichts, bis auf diese unendliche Leere in mir.
Ich nahm die Klinge in meine andere Hand und schnitt mir in meinen bisher narbenfreien linken Unterarm. Doch immer noch nichts. Als auch mein anderer Arm nass und rot glänzte, bekam ich Panik. Verzweiflung breitete sich in mir aus. Was, wenn ich nie wieder etwas fühlen kann?
„FU...", ich unterdrückte einen Schrei. Mama und Maja durften nichts bemerken. Dann starrte ich wieder auf meine geschundenen Arme. Was sollte ich jetzt tun? Als Erstes musste ich ins Bad.
Doch als ich aufstand, wurde mir schlagartig schwindelig. Ich griff nach der Lehne meines Schreibtischstuhls, doch der rollte durch den Druck unter mir weg. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie.
„Shit", flüsterte ich. Der Schwindel ließ nicht nach. Ich muss mich schnell hinlegen. Ich rollte mich auf den Rücken und lag einfach mitten in meinem Zimmer, die blutenden Arme links und rechts von mir gestreckt. Es drehte sich immer noch alles vor meinem inneren Auge. Mir wurde übel. Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Ich würgte. Doch da ich die letzten zwei Tage kaum etwas gegessen hatte, konnte ich auch nicht kotzen.
Nach einigen Sekunden schaffte ich es, mich wieder zu beruhigen, als es unerwartet leise an meine Tür klopfte und die Türklinke nach unten gedrückt wurde. Nicht hereinkommen!
„Tristan, alles in Ordnung?", hörte ich Majas Stimme durch den Türschlitz flüstern. Ich versuchte zu antworten. Ich wollte ihr sagen, dass alles gut ist und sie wieder gehen kann. Aber es kam kein Ton aus meinem Mund. Sie öffnete die Tür ein Stück weiter. Ich sah, wie ihre eisblauen Augen im Bett nach mir suchten und ihr Blick dann auf mich am Boden fiel.
Sie riss die Augen auf und schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund, um ihren Schreckensschrei zu unterdrücken. Von einer Sekunde auf die andere war sie kreideweiß geworden. Dann sprang sie zu mir und ließ sich neben mir auf die Knie fallen. „Gott, Tristan! Was tust du?" Sie flüsterte.
Als ich sah, dass sie zu weinen begann, versuchte ich mir ein Lächeln abzuringen. „Alles gut, ist nicht so schlimm, wie es aussieht."
„Spinnst du?", fragte sie hysterisch. „Ich ruf' einen Krankenwagen."
„Nein!" Ich hielt ihre Hand fest, die nach ihrem Handy in der Hosentasche suchte.
„Es ist wirklich nicht schlimm. Hilf mir einfach, das im Bad sauberzumachen, bitte", flehte ich sie an.
Sie zögerte.
„Die Schnitte sind nicht tief", versuchte ich, sie zu überzeugen. Sie nickte geschlagen. Dann half sie mir auf. Ich fühlte mich immer noch etwas wacklig. So leise wie möglich schlichen wir ins Badezimmer. Ohne ein Wort zu sprechen, half Maja mir, meine Arme zu waschen, zu desinfizieren und dann zu verbinden. Doch währenddessen liefen ihr unaufhaltsam Tränen übers Gesicht. Es zerbrach mir das Herz. Genau aus diesem Grund hatte ich es immer geheim gehalten.
Nachdem ich verarztet war, half mir meine Schwester zurück ins Zimmer und setzte sich mit mir aufs Bett. Sie schaute mich ernst an. „Tristan, du musst das Mama erzählen."
„Nein, nicht Mama!"
„Doch. Sonst erzähle ich es ihr."
„Bitte nicht! Bitte Maja! Ich mache es auch nie wieder! Versprochen! Sag es nicht Mama! Bitte!"
Sie schüttelte den Kopf. „Sei ehrlich! Seit wann machst du das schon, Bruderherz und wie oft hast du dir selbst schon versprochen damit aufzuhören?" Wie immer durchschaute mich meine Schwester. Betrübt starrte ich auf meine verbundenen Arme.
Beim ersten Mal war ich Vierzehn gewesen. Ein einziger kleiner Schnitt hatte gereicht, um die Dunkelheit zu durchbrechen und mich in die Realität zurückzuholen. Damals hatte ich mir das erste Mal geschworen, es nie wieder zu tun. Dieses Versprechen an mich selbst hatte ich daraufhin unzählige Male gebrochen.
Mein Schweigen war Antwort genug für Maja. „Ich gehe jetzt zu Mama. Ich weiß, dass du das beschissen findest, aber ich kann das hier nicht verantworten, okay?" Ich wusste, dass sie recht hatte und nickte. Bevor sie aus dem Zimmer ging, nahm sie meine silberne Box und die Rasierklinge darin mit sich.
Es dauerte nur einige Minuten bis jemand mit schnellen Schritten die Treppe hochkam. Dann stand Mama im Türrahmen. Mindestens genauso kalkweiß wie Maja zuvor und mit Tränen in den Augen. Ich schämte mich so unglaublich, als ihr mitleidvoller Blick mich traf.
Dann kam sie zu mir, setzte sich aufs Bett und zog mich in ihren Arm, wo wir beide anfingen zu weinen. „Es tut mir leid, Mama", flüsterte ich zwischen den Schluchzern. „Es wird alles gut mein Schatz", antwortete sie mir und drückte mich noch stärker an sich, „es wird alles wieder gut. Ab jetzt bin ich für dich da!"
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