Kapitel 35


„Tristan, deckst du bitte noch den Tisch?", rief Mama aus der Küche. Es duftete schon köstlich.

„Ja, bin hier gleich fertig", antwortete ich. Ich war gerade dabei, die letzten Kugeln an den Weihnachtsbaum zu hängen. Maja stand mit kritischem Blick in einiger Entfernung und gab mir Anweisungen. Was den Weihnachtsbaum betraf, war sie immer sehr perfektionistisch. „Warte, häng' die Kugel mal bisschen weiter nach links, da ist irgendwie noch so ein Loch."

Ich verdrehte die Augen, kam ihrem Wunsch aber ohne Widerworte nach.

„Ja, perfekt! Danke! Jetzt noch das Lametta. Ich kann das machen, dann kannst du den Tisch decken", meinte sie und wühlte schon in der Dekokiste, um nach den goldenen Metallfäden zu suchen.

Ich ging in die Küche. Mama hatte schon die weihnachtliche Tischdecke – weinrot mit goldenen Schneeflocken – auf dem Tisch ausgebreitet. Ich stellte das Geschirr, die Gläser und das Besteck ordentlich darauf. Danach schnappte ich mir die dunkelgrünen Servietten und faltete daraus kleine Weihnachtsbäume. Die Serviettenweihnachtsbäume legte ich anschließend auf die drei Teller.

„Was muss ich mit den Dingern jetzt nochmal machen?", fragte Mama plötzlich und zeigte mit skeptischem Blick auf die veganen Seitan-Rouladen. Maja und ich waren heute Morgen schon zusammen in der Küche gestanden und hatten uns darin geübt, ein veganes Rezept nachzukochen. Wir hatten Lust auf ein typisches Weihnachtsessen ohne gekaufte Ersatzprodukte. Es war ziemlich chaotisch gewesen, da sich unsere Koch-Skills bisher auf Nudeln mit Tomatensoße beschränkten.

„Die muss man jetzt nur noch anbraten", antwortete ich Mama.

„Okay, gut. Also Knödel müssen noch ins Wasser, Gemüse ist fertig, Bratensoße ist fertig. Dann muss ich noch mein Putenfleisch und eure Rouladen anbraten", sie dachte kurz nach, während sie vor sich dahinredete, „dann können wir so in fünfzehn bis zwanzig Minuten essen."

„Nice! Ich sag' Maja Bescheid", antwortete ich. Zurück im Wohnzimmer musste ich mir ein Lachen verkneifen. Maja stand vor dem Weihnachtsbaum und legte gerade das Lametta über die Tannenzweige. Dabei hatte sie selbst überall an ihrem Oberteil und in ihren Haaren die goldenen Metallfäden hängen.

„Es gibt in fünfzehn Minuten essen", sagte ich grinsend und riss meine Schwester aus ihrer Konzentration.

„Oh Mist, ich wollte mich noch umziehen. Na ja, das reicht so schon", meinte sie und betrachtete ihr Kunstwerk. Dann stopfte sie die ganzen Reste in die Dekokiste und hüpfte die Treppe hoch. Ich räumte noch das restliche Wohnzimmer auf und ging dann ebenfalls nach oben, um meinen schwarzen Gammelpulli und die Jogginghose gegen mein schwarzes Hemd und eine schwarze Jeans zu tauschen. Als ich fertig war und aus dem Zimmer kam, trat Maja ebenfalls aus ihrer Tür. Sie trug ein elegantes weinrotes Strickkleid. „Schön siehst du aus", meinte ich. „Danke, du auch Brudi", lächelte sie zurück. Wir gingen beide nach unten in die Küche.

„Schick seht ihr beiden aus", lächelte Mama uns an, „ich zieh' mir auch eben noch was anderes an und dann können wir sofort essen."


Ich war so voll, ich platzte gleich. Die veganen Rouladen hatten nur so halb gut geschmeckt, was vermutlich mehr an unserer Unfähigkeit, als an dem Rezept lag. Dafür waren Mamas Knödel und Gemüse so lecker, dass ich zwei volle Teller davon verspeisen musste. „Nachtisch passt jetzt aber keiner mehr rein", grinste ich.

„Ich schlage vor, wir machen jetzt Bescherung und dann können wir immer noch Nachtisch essen", meinte Mama. Oh ja, Geschenke!

Zusammen begaben wir uns ins Wohnzimmer und Maja schaltete die Lichter des Weihnachtsbaumes ein. Der ansonsten abgedunkelte Raum wurde in gemütliches goldenes Licht getaucht. Die kleinen Lämpchen der Lichterkette spiegelten sich in den Weihnachtsbaumkugeln wider, sodass es wirkte, als würde der ganze Baum glitzern. Ich machte meine Bluetoothbox an und stellte eine Liste mit cozy Weihnachtsliedern ein.

Während Frank Sinatra direkt Weihnachtsstimmung verbreitete, betrachtete Mama den Baum. „Den habt ihr wirklich schön geschmückt", sagte sie mit glänzenden Augen. Unter der bunt behangenen Tanne lagen schon unsere Geschenke und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich.

„Wollt ihr meine Geschenke als Erstes auspacken?", fragte ich. Ich hatte mir für die beiden ganz besondere Sachen überlegt und war gespannt, was sie dazu sagen würden.

Ich reichte Maja zwei rosa Päckchen. Zuerst packte sie das flachere der beiden aus. Darin befand sich eine Blu-ray von ihrem Lieblingsanime Belle. „Oh wie lieb von dir, danke Tristan!" Sie freute sich mit strahlenden Augen. Erst vor kurzem hatte sie noch gejammert, dass man den Anime nirgends streamen könne. Jetzt konnte sie ihn sich so oft anschauen, wie sie Lust hatte. „Und jetzt das andere Päckchen", forderte ich sie ungeduldig auf. „Wenn wir weiter in dem Tempo auspacken, sind wir in drei Minuten fertig ... Ich will das zelebrieren", lachte sie. 

Bedächtig nahm sie das andere Päckchen, wog es in der Hand ab und betrachtete es genau von allen Seiten. Ich wusste, dass sie mich nur ärgern wollte und wurde langsam ganz hibbelig. Dann packte sie es endlich aus. „Wie cool!", meinte sie und hielt die runde Dose mit rosa Haarfarbe in der Hand. 

„Du meintest doch, dass du deine Haare gerne mal rosa machen würdest, dich aber nicht traust ... Jetzt hast du keine Ausrede mehr. Ich färb' sie dir morgen rosa", grinste ich sie an. „Abgemacht", schmunzelte sie zurück. Über den Babymetal-Anhänger, den ich selbst gebastelt hatte, freute sie sich ebenfalls sehr und befestigte ihn direkt an ihrem Schlüsselbund.

Mama schenkte ich eine selbst gezeichnete Skizze von ihr, wie sie im Sessel saß und las, und ebenfalls ihren kleinen Anhänger. Vor allem das selbstgemalte Bild hatte es ihr angetan. „Das ist wirklich wunderschön! Vielen Dank, mein Liebling."

Ich grinste stolz und freute mich, dass meine Geschenke so gut bei den beiden angekommen waren.

„So, jetzt bist du dran, Tristan." Mama überreichte mir drei Geschenke, die verdächtig nach Büchern aussahen. Ahnungsvoll riss ich das Papier schnell ab. Wie erwartet, waren darin die drei neusten Teile der One Piece Mangas, die mir in meiner Sammlung noch fehlten. „Mega! Danke Mama! Jetzt hab' ich für die Ferien was zu tun." Sie lächelte glücklich. „Gerne, mein Schatz."

„Und jetzt meins", grinste Maja und streckte mir einen schwarzen Briefumschlag entgegen. Vorne drauf war mit silberner Schnörkelschrift mein Name geschrieben. Vorsichtig öffnete ich den Umschlag und zog ein Ticket heraus. Ungläubig starrte ich auf das Stück Papier in meiner Hand, dann schaute ich mit offenem Mund zu Maja. „Na, freust du dich?", fragte sie schmunzelnd.

„Ob ich mich freue?" Ich raste gleich komplett aus vor Freude!

In meiner Hand hielt ich ein Ticket für das Heartache-Harmony-Festival. Einer der Headliner war meine Lieblingsband Bring me the Horizon. Das war schon länger bekannt, aber ich hatte es gedanklich schon abgehakt dort hinzugehen, da eh kein Geld da war.

Ich sprang auf und umarmte Maja stürmisch. „Vielen Dank, Schwesterherz! Das ist ein so so cooles Geschenk! Ich freue mich riesig darüber!" Sie strahlte ebenfalls. „Sehr gerne Brudi. Ich gehe ja jedes Jahr mit meinen Freund*innen hin und als ich gesehen habe, dass Bring me the Horizon kommt, wusste ich, das ist das perfekte Geschenk für dich! Du wirst dann auch mit uns mitkommen, das war Mamas Bedingung."

Ich war so glücklich. Ich war bisher noch nie auf einem Konzert oder einem Festival und wusste jetzt schon, dass das ein mega Erlebnis werden würde. Auch wenn ich nicht wusste, wie ich die Zeit bis dahin aushalten sollte.

„Da liegt noch ein kleines Geschenk und ein Briefumschlag unterm Baum", unterbrach Mama meinen Gedankengang. Ah, Stimmt!

„Das ist von Timothy", antwortete ich, während Maja mir beides reichte. Zuerst packte ich das kleine Geschenk aus. „Ach, wie nice", meinte ich und betrachtete das Gameboy Pokémon Spiel Blaue Edition. In dem Fall war es nicht an ihm vorbeigegangen, als ich ihn einmal einen kompletten Nachmittag mit den verschiedenen Pokémon-Spielen zu geschwafelt hatte und darüber gejammert hatte, welche Spiele mir noch fehlten und ich noch unbedingt spielen wollte. Die Blaue Edition war eine davon. 

Dann widmete ich meine Aufmerksamkeit dem Briefkuvert. „Ich hoffe, er schenkt dir nicht auch noch ein Heartache-Harmony- Ticket", scherzte Maja. Doch es kam noch besser. In dem Kuvert war ein zusammengefaltetes DIN A4 Papier. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich checkte, was das war. „Nicht sein Ernst", flüsterte ich vor mich hin. „Was ist es denn?", fragte Maja neugierig.

„Das ist die bezahlte Anmeldung für die Wintersporttage nächste Woche. Snowboardkurs und Ausrüstung mit dabei." Auf einem kleinen gelben Post-it stand:

Jetzt können wir zusammen Snowboard fahren lernen.
LG Timothy

„Oh, das ist aber lieb von ihm!", meinte Mama, „da laden wir seine Eltern als Dank zum Essen ein!"

„Gute Idee, Mama", antwortete ich, wobei ich ihr anmerkte, wie unangenehm es ihr war, dass jemand anders die Wintersporttage für ihren Sohn bezahlt hatte. Aber das war mir gerade egal. Ich schaute überglücklich auf den Zettel in meiner Hand. „Also so viele coole Geschenke auf einmal habe ich, glaube ich, noch nie bekommen!"

Ich schrieb Timothy eine Nachricht und bedankte mich überschwänglich mit mindestens hundert Herz-Emojis für das tolle Geschenk. Danach schickte ich ein Foto von der Anmeldung in die Mindfuck-Gruppe, um allen mitzuteilen, dass ich nun auch dabei war, als das Telefon plötzlich klingelte.

Wir schauten einander an, denn wir wussten schon, wer anrief, aber keiner hatte Lust auf ein Gespräch mit ihm. „Tristan, geh du ran", meinte Maja. Ich seufzte und ging zum Telefon.

„Hey Dad", meinte ich.

„Wesołych Świąt mój synu. Jak się masz?", brummte die tiefe Stimme meines Vaters durch den Hörer.

„Mir geht's gut, aber rede bitte Deutsch mit mir, Dad", antwortete ich ihm genervt.

„Ja ja, mach' ich schon. Wie geht's deiner Mutter und deiner Schwester?" Es war jedes Jahr dasselbe. Wir tauschten kurz unsere Floskeln aus und eigentlich hoffte ich nur, dass das Gespräch schnell wieder vorbei sein würde. Er war ein herrischer Typ und obwohl ich erst sieben war, als sich Mama von ihm getrennt hatte, wusste ich, dass das eine gute Entscheidung war. Ich hatte ihn nie als liebevollen Vater erlebt und war froh, dass er so weit von uns weg wohnte. Nur einmal im Jahr, wenn er zu Weihnachten anrief, wurde ich an seine Existenz erinnert.

„Du und Maja könnt doch in den nächsten Ferien nach Hamburg kommen." Skeptisch zog ich meine Augenbrauen zusammen. Das letzte Mal, als ich bei ihm zu Besuch war, hatte er mitbekommen, dass ich schwul bin und war ausgerastet.

„Warum?", fragte ich ihn.

„Warum nicht?", fragte er zurück. Mir fallen tausend Gründe ein!

„Ich überleg's mir", antwortete ich, „sonst noch was Dad?" Ich wollte ihn loswerden.

„Nein. Sag Maja und deiner Mutter einen Gruß."

„Mach' ich. Bye."


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Ihr Lieben,

ich wünsche euch eine besinnliche Weihnachtszeit mit euren Liebsten und hoffe, dass ihr mindestens genauso viele coole Geschenke wie Tristan bekommt :D Falls ihr kein Weihnachten feiert, wünsche ich euch trotzdem eine schöne und erholsame Ferienzeit! <3

Wie es das Schicksal wollte, darf Tristan nun doch mit zu den Wintersporttagen, worüber nicht nur er sich freut ;D

Nur das Gespräch am Ende mit seinem Dad, hat die Stimmung ein wenig gekippt, aber das wollen wir alle jetzt einfach ganz schnell mal wieder vergessen. ^^

Das nächste Kapitel kommt übrigens erst am Sonntag, pünktlich zu Silvester online.

Hab euch lieb!
Eure Elena :) <33

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