Kapitel 32


Es dauerte nicht lange, bis Timothy meine aufgeschürften Hände entdeckte. Sanft nahm er sie in seine, schaute mich besorgt an und flüsterte: „Was ist passiert?" Ich wartete, bis unser Physiklehrer weiter redete und meinte dann leise: „Nichts. Mich hat's mit dem Longboard hingelegt."

Plötzlich schnellte sein Blick zu meinem Unterarm. „Tristan ... Nein!", flüsterte er. Ich bemerkte die Enttäuschung in seiner Stimme. Woher weiß er das? Er kann nichts bemerkt haben.

„Was?", flüsterte ich zurück und tat so, als wüsste ich von nichts.

Dann zog er meinen rechten Arm näher zu sich, der Ärmel meines schwarzen Pullis rutschte etwas zurück und gab den Verband darunter zu erkennen. Schnell zog ich meinen Arm weg und versteckte ihn unter dem Tisch.

„Ich hab' nichts gemacht", versuchte ich, meine Lüge aufrechtzuerhalten. Doch es war zu spät. Schon bekam ich seinen besorgten Blick zu spüren. „Tristan ...", flüsterte er, „du hast es doch versprochen."

Ich fühlte mich ertappt und reagierte trotzig. „Nur, dass ich es versuchen werde ... Hat nicht geklappt."

„Tristan, Timothy! Würdet ihr jetzt endlich aufhören meinen Unterricht zu stören und eure Privatgespräche auf die Pause verschieben", motzte unser Physiklehrer Herr Geiselhart.

„Entschuldigung", murmelten wir beide gleichzeitig und drehten uns wieder zur Tafel.

Im Augenwinkel bemerkte ich, wie Timothy etwas auf einen Zettel schrieb und ihn anschließend zu mir schob.

„Ich will doch nur, dass es dir gut geht! <3"

Ich kritzelte meine Antwort darunter:

„Mir geht's super!"

Er schaute mich skeptisch an. Aber er spürte wohl, dass es gerade keinen Sinn hatte, vernünftig mit mir zu reden und entschied sich, wieder dem Unterricht zu folgen. Ich wusste nicht genau warum, aber irgendwie machte es mich wütend. Timothy war der Erste, der bemerkt hatte, dass ich mich selbst verletzte. Bisher hatte ich es vor jedem versteckt. Bisher konnte ich es sozusagen ohne schlechtes Gewissen immer wieder tun. Aber jetzt war da plötzlich jemand, der mich davon abhalten wollte.

Es war Hofpause. Nachdem ich meine Zigarette geraucht hatte, ging ich zu meinen Freund*innen. Irina saß wieder bei Timothy, Robin und Henry auf der Bank. Auch diesmal war kein Platz für mich. Ohne, dass ich diesmal jammerte, wollte Timothy wieder nach meiner Hand greifen und mich zu sich ziehen. Doch diesmal zog ich meine Hand weg: „Ich stehe heute lieber", murmelte ich.

Er guckte mich erstaunt an, doch akzeptierte es. Schnell schaute ich mich um. Hat Andrew uns gesehen?

Andrew beobachtete uns tatsächlich. Ich spürte, wie meine Hände zu zittern begannen. Vorsichtshalber entfernte ich mich nochmal einen halben Schritt von Timothy. Die restliche Pause starrte ich stumm auf meine Schuhe, ohne mich am Gespräch meiner Freund*innen zu beteiligen.

In der Mittagspause sahen mich alle vier etwas fragend an, als ich mich nicht neben Timothy setzte und auch sonst eher abwesend wirkte. Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie Robin versuchte, unauffällig auf mich zu zeigen und Timothy einen fragenden Blick zuwarf. Timothy zuckte nur mit den Schultern. Ich tat so, als hätte ich nichts bemerkt und zog mich noch weiter in meinen imaginären Schildkrötenpanzer zurück.

Die restliche Woche ging es genauso weiter. Ich war inzwischen total paranoid. Überall vermutete ich Andrew, der mich heimlich beobachten könnte und seine Drohungen wahr machen würde. Jeder von Timothys Versuchen, mir wieder näherzukommen, wurde von mir vereitelt. Er nahm das eine ganze Weile schweigend hin, bis ihm am Freitag der Kragen platzte.

Ich öffnete ihm gerade die Tür zu unserem Lerngruppentreffen. Wie immer wollte er mich zur Begrüßung in den Arm nehmen, doch als ich Andrews Golf im Hintergrund stehen sah, wich ich seiner Berührung aus und ging vor ihm weg in die Küche.

Ich hatte ihn einfach so im Flur stehen lassen, doch jetzt reichte es ihm. „Sag mal, was ist los mit dir?", fragte er aufgebracht und kam mir hinterher.

„Was soll sein?", versuchte ich gleichgültig zu klingen.

„Du gehst mir schon die ganze Woche aus dem Weg?"

„Ich gehe dir nicht aus dem Weg!"

„Natürlich tust du das!"

„Ich hab' meine Gründe", sagte ich nur und spürte, wie mein Herz zerbrach, während er mich nur wütend und verständnislos anstarrte.

Er wollte gerade etwas erwidern, als es an der Tür klingelte. Erleichtert ging ich aus der Küche und ließ Robin, Henry und Irina ins Haus. Irina hatte diese Woche von unserer Lerngruppe mitbekommen und gefragt, ob sie sich anschließen dürfe. Wir waren sofort alle einverstanden gewesen.

Die drei Neuankömmlinge spürten, dass irgendetwas zwischen mir und Timothy nicht stimmte.

„Ärger im Paradies?", fragte Robin einfach geradeaus. Sein Lachen erstarb, als Timothy und ich ihn gleichzeitig wütend anstarrten.

„Frag ihn", sagte Timothy sauer und zeigte auf mich.

„Oh, sorry. Ich frag' nicht weiter", ruderte Robin schnell zurück, „wollen wir Mathe machen?"


Unsere Gemüter beruhigten sich wieder, wobei natürlich eine gewisse Anspannung zwischen Timothy und mir übrig blieb. Trotzdem arbeiteten wir einige Zeit konzentriert an den Matheaufgaben.

„Übrigens", unterbrach ich die Stille, „meine Mum meinte, wenn ihr Lust habt, könnt ihr freitags auch immer direkt nach der Schule hierherkommen. Dann kocht sie für euch mit."

„Würde ich ja gerne", meinte Robin, „aber ich glaube, da hätten meine Mums etwas dagegen."

„Deine Mums?", fragte Irina sofort neugierig.

„Ja, ich hab zwei Mums", grinste Robin.

„Cool", antwortete Irina und lächelte zurück.

„Bei mir geht's leider auch nicht", meinte Henry, „mein Dad sagt immer, dass er will, dass wir wenigstens an einem Tag als Familie zusammen essen. Und das ist bei 5 Kindern echt nicht so einfach zu organisieren. Aber ansonsten können wir uns gerne Freitagmittag auch mal bei mir daheim treffen."

„Okay, alles klar", antwortete ich.

„Ich müsste mal daheim fragen und gebe dir dann Bescheid", sagte Irina. Ich nickte ihr lächelnd zu.

Timothy antwortete mir nicht und ich fragte ihn auch nicht extra nochmal.


Nachdem wir unsere Aufgaben erledigt hatten, zockten wir noch eine Runde Mario Kart. Wir staunten nicht schlecht, als Irina uns alle abzog.

„Geht's noch?", fragte Robin lachend.

„Ich habe zwei große Brüder", antwortete Irina nur grinsend.

Dann war es Zeit meine Freund*innen zu verabschieden. Ich umarmte alle nacheinander. Außer Timothy, der noch dabei war, sich auf der Treppe sitzend, seine Schnürsenkel zu binden. Ich wusste, dass er extra langsam machte und machte mich schon auf das Donnerwetter gefasst.

Sobald die anderen weg waren, stand er auf und kam auf mich zu.

„Und jetzt redest du mit mir!", sagte er und schaute mich ernst an.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das mit Andrew konnte ich ihm einfach nicht erzählen. Ich hatte Angst vor Andrew, mehr als vor Micha.

„Ich kann's gerade nicht erklären", sagte ich nur und schaute dabei auf meine Socken, „aber ich glaube, ich brauche momentan ein bisschen Abstand."

„Was meinst du mit Abstand? Willst du mich nicht mehr sehen?", fragte er erschrocken. Oh Gott, was mache ich hier!

„Nein, nein!", entgegnete ich schnell, „eher so auf der körperlichen Ebene." Ich wurde rot.

An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er gerade die Welt nicht mehr verstand. Doch dann verhärteten sich seine Gesichtszüge. „Gut. Wie du willst!", sagte er, stürmte zur Tür raus und knallte sie hinter sich zu.

Fuck!

Ich ließ mich auf die zweitletzte Treppenstufe fallen. Legte mein Gesicht auf meine angezogenen Knie und fing an zu weinen. „Fuck! Was hab ich gerade getan?", schluchzte ich.


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Es wird echt nicht besser hier :'((    und alles nur wegen Andrew, der sich unbedingt in Timothys Leben einmischen muss ...

Denkt ihr Tristan wird mit Timothy darüber reden?

Freue mich sehr über eure Votes und Kommentare! <3

Eure Elena <3

P.s.: Das nächste Kapitel kommt schon am Dienstag um 14 Uhr online :)

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