Kapitel 1
*Triggerwarnung: Das folgende Kapitel enthält Inhalte zum Thema Mobbing. Wenn Du Dich damit nicht wohlfühlst, solltest Du es nicht lesen. Oder lese es zusammen mit einer Vertrauensperson. Bist Du selbst betroffen von Mobbing, findest Du hier Hilfe: https://www.hilfetelefon.de/gewalt-gegen-frauen/mobbing.html *
Ein paar Schüler*innen standen noch in Grüppchen beisammen und redeten miteinander. Ich hatte es eilig und ging im Laufschritt durch den schon fast leeren Schulflur. Mal wieder hatte ich es am Montagmorgen nicht geschafft, mich früh genug aus dem Bett zu quälen.
Erst nachdem der Wecker das fünfte Mal geschrillt hatte, war ich aufgesprungen, hatte mir schlaftrunken meine schwarze Röhrenjeans angezogen, darüber ein schwarz-grau kariertes oversized Flanellhemd. Im Bad dauerte es dann wie immer länger.
Jetzt hetzte ich, um noch pünktlich zu Deutsch zu kommen. Unsere pummelige kleine Klassenlehrerin Frau Haas war nämlich gar nicht erfreut über Zuspätkommende und ich hatte keine Lust, dass sie wieder meine Mum anrief. Die hatte auch so schon genug um die Ohren und ich wollte es verhindern, dass sie sich auch noch um mich Sorgen machen musste.
In meine Gedankengänge vertieft, erkannte ich plötzlich Micha, Leon und Raffi. Sie standen zusammen an der dunkelgrünen Wand vor den Bioräumen. Leon redete aufgeregt auf Micha ein, der lässig an der Wand lehnte, die Hände tief in den Hosentaschen. Raffi stand daneben und scrollte gelangweilt auf seinem Handy.
Ich meinte, irgendetwas von einem Neuen zu vernehmen. Aber so genau wollte ich das gar nicht wissen. Wichtig war es jetzt nur, unbemerkt an den Dreien vorbeizukommen. Den Blick auf den dunkelgrünen Linoleumboden und meine schwarzen Vans Old Skool gerichtet, ging ich in schnellem Schritt auf der anderen Seite des Flures entlang.
Bitte beachtet mich nicht! Bitte beachtet mich nicht! Bitte beachtet mich nicht!
„Hey, Opfer!"
Shit, bemerkt!
Sofort ging ich über von passiv zu aktiv und griff verbal an. Keine Schwäche zeigen!
„Was willst du, Fettsack!", rief ich dem Anführer zu.
Micha grinste hämisch. Wie wir beide wussten, war er nicht fett, sondern einfach nur ziemlich muskulös. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Die Muskeln seines Oberkörpers spannten sich an und wurden deutlich unter dem hautengen weißen Shirt sichtbar.
„Ich hab' dir doch gesagt: Das nächste Mal, wenn du Großmaul mir über den Weg läufst, gibt's 'ne Abreibung!"
So eine Scheiße! Er hatte es nicht vergessen. Beim letzten Mal, als wir aneinandergeraten waren, konnte ich dank Schnelligkeit und Longboard gerade noch fliehen. Micha war zwar dreimal so breit wie ich, dafür war ich schneller als er. Aber in der jetzigen Situation hatte ich keine Chance zu entkommen. Micha und seine Kumpanen Leon und Raffi schlichen auf mich zu wie drei Raubkatzen, bereit zum Sprung. Eine Mauer aus Muskeln baute sich vor mir auf.
Ich kratzte mich mit der linken Hand am Kopf und überlegte noch, wie ich den Fleischbergen entwischen könnte, als Raffi schon auf mich zukam und versuchte mich zu packen. Ich duckte mich unter ihm weg, doch da stand schon Micha. Er ergriff mich am Arm.
Durch den Ruck strauchelte ich. Im Stolpern rutschte mir mein Rucksack, den ich immer lässig über einer Schulter trug, samt festgeklemmtem Longboard auf den Boden. Ich versuchte mich aus Michas Umklammerung zu winden, doch Raffi kam meinem Peiniger zur Hilfe und schnappte sich meinen anderen Arm.
Michas Lakai zog mir beide Arme hinter den Rücken. Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Schultern und ich keuchte auf, doch ich biss schnell wieder die Zähne zusammen. Keine Angst zeigen! Keinen Schmerz zeigen!, mahnte ich mich in Gedanken selbst und funkelte Micha böse an. Er verzog seinen Mund nun zu seinem hässlichen fiesen Grinsen: „Wird's bald Leon?"
Erst jetzt bemerkte ich, dass Leon nicht mehr in meinem Sichtfeld war. Hinter mir hörte ich Schritte. Michas Grinsen verbreiterte sich. Dann kam Leon an mir vorbei und stellte sich neben Micha. In den Händen hielt er einen grauen Eimer. Darauf stand mit schwarzem Edding schlampig gekritzelt „Restmüll".
Der Kiefer klappte mir nach unten. „Oh Mann", kam es leise aus meinem Mund.
Wieder versuchte ich mich von meiner menschlichen Fessel zu lösen, doch Raffi drückte meine Arme hinterm Rücken noch weiter zusammen. Der stechende Schmerz fuhr mir wieder durch den Körper und ich resignierte.
Inzwischen hatten sich auch ein paar Schaulustige um uns herum versammelt. Ein paar sahen kichernd zu oder tuschelten in Grüppchen. Einer zückte sogar sein Smartphone, um meine Schmach zu verewigen. Ein paar andere gingen schnell mit mitleidigem Blick weg.
Sie wollten keine Zeugen sein.
Niemand wollte sich mit Micha anlegen.
Niemand wollte mir meinen Rang als größtes Mobbing-Opfer der Schule streitig machen.
Ich versuchte, die anderen, um mich herum zu ignorieren. Micha nahm Leon den Mülleimer aus der Hand. Ohne mit der Wimper zu zucken, drehte er diesen über meinem Kopf um. Ich senkte gerade noch den Kopf und kniff Mund und Augen zu, als sich der Mülleimer über mir ergab.
Raffi ließ mich in derselben Sekunde los, um selbst nichts abzubekommen. Schallendes Gelächter umgab mich. Ohne nach oben zu schauen, schnappte ich mir meinen Rucksack vom Boden und entriss mich der Situation. Ich steuerte die Toilette an.
„Du stinkst, Opfer!", riefen mir meine Folterer hinterher. Dann erreichte ich endlich die rettende Tür und ließ sie hinter mir zufallen.
Ich hatte einen Kloß im Hals. Doch ich unterdrückte die Scham und die Wut, die in mir aufkamen. Das eben war schließlich nicht das erste und ganz sicher auch nicht das letzte Mal. Auf ein demütigendes Video mehr oder weniger, das an der Schule die Runde machte, kam es jetzt auch nicht mehr an. Ich war es genau genommen schon gewohnt.
Ich stand vor dem Spiegel und betrachtete das 16-jährige Müllmonster, das mich mit schmalen, eisblauen Augen gequält ansah. Wie ich auch schon ohne mein Spiegelbild bemerkt hatte, war in dem Mülleimer nicht nur Papier gewesen.
Von Bananenschalen, über zerkaute Kaugummis bis zu einer angebissenen Scheibe Wurst, hatte ich alles auf dem Kopf kleben. Eine bräunliche Flüssigkeit lief mir von der Stirn über die Wange. Zu meinen verhassten Sommersprossen gesellten sich jetzt auch noch einige kleine, klebrige braune Spritzer. Ich schauderte vor Ekel. Lieber nicht darüber nachdenken.
Schnell fing ich an, mir das eklige Zeugs aus dem Gesicht und aus den schwarzen, heute Morgen noch mühevoll gestylten Haaren zu zupfen. Dann ließ ich das kalte Wasser laufen und schüttete mir mehrere Hände voll davon ins Gesicht. Der dunkle Schatten, den ich mir täglich aus Style-Gründen unter die Augen malte, verlief.
In diesem Moment kamen zwei Jungs in den Toilettenraum. Sie grinsten beide, als sie mich sahen. Einer meinte nur frech: „Du stinkst, Opfer!" Beide lachten los, ich verdrehte nur die Augen und versuchte, meine Fake-Augenringe zu retten.
Die beiden Mitläufer stellten sich an die Pissoirs und begannen miteinander zu reden. Plötzlich hörte ich wieder etwas von einem Neuen. Neugierig horchte ich auf und lauschte in ihre Richtung, während ich mir immer noch wütend mit dem grauen, kratzigen Papier zum Trocknen der Hände im Gesicht rieb.
Wie ich aus dem Toiletten-Gossip erfuhr, kamen heute gleich drei neue Schüler an unsere Schule, anscheinend Geschwister. Meine Wut wurde überschattet von einem Hoffnungsschimmer.
Gleich drei Neue? Das war doch das gefundene Fressen für Micha und seine Untergebenen. Bei einer Mobbing-Erfolgs-Garantie von drei Neulingen, würden sie mich doch ziemlich sicher, zumindest für eine Weile, vergessen. Diese Aufheiterung kam gerade genau richtig für mich.
Mit meinem Aussehen wieder einigermaßen zufrieden, fiel mir plötzlich wieder der Grund ein, weshalb ich eigentlich hier war. Eventuell sollte ich vielleicht mal in den Unterricht gehen. Ich öffnete die Toilettentür und rannte los. Ich brauchte nicht sehr lange zum Klassenzimmer, aber als ich ankam, war die Tür schon geschlossen. Shit!
Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen und öffnete vorsichtig die orangene Tür. Gleich würde ich eine Standpauke erleben. Doch ich sollte Glück haben. Frau Haas war gerade von mir weg gebeugt und wühlte in ihrer großen braunen Umhängetasche.
Auf Zehenspitzen schlich ich hinter ihrem Rücken vorbei. Irina kicherte leise. Ich warf ihr einen warnenden Blick zu. Mia verdrehte ihre dunkelbraunen Augen. Ich pflanzte mich gerade auf meinen Platz in der letzten Reihe, als sich Frau Haas mit einem Ächzen aus der gebückten Position erhob.
Sie ließ den Blick kurz durch die Klasse schweifen. An mir blieben ihre Augen kleben. Sie funkelte mich skeptisch an. Ich setzte mein unwiderstehliches Lächeln auf, das meistens nichts brachte. Doch heute hatte sie vermutlich keine Lust zu diskutieren. Sie wendete den Blick wieder von mir ab.
„Guten Morgen, meine Lieben", begrüßte sie uns mit ihrer lauten und glockenklaren Stimme. Das „U" in Guten Morgen zog sie dabei immer besonders lang. Als könnte ein Montagmorgen dadurch erträglicher werden. „Ich habe schöne Neuigkeiten für euch: Wir dürfen heute einen neuen Schüler bei uns in der Klasse begrüßen. Er müsste eigentlich auch gleich ..."
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach sie. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt. Die ganze Klasse hielt den Atem an und schaute gespannt zur Tür. Ein schlanker Junge trat ein. Frau Haas lächelte ihn freundlich an: „Hallo Timothy, herzlich willkommen in der Klasse 10c!"
Timothy ging die paar Schritte zu ihr. Seine blonden Locken wippten dabei leicht mit. „Stell dich doch kurz in ein paar Sätzen vor Timothy", bat Frau Haas ihn freundlich. Er drehte sich zur Klasse und lächelte freundlich in die Runde.
„Hey, ja, also ich heiße Timothy Hoppe. Ich bin mit meinen Eltern und meinen beiden älteren Geschwistern Andrew und Grace von Hamburg nach Baden-Württemberg gezogen. Mein Dad hat hier eine neue Arbeitsstelle bekommen."
Während er ruhig, aber trotzdem sehr selbstbewusst erzählte, musterte ich ihn von oben bis unten. Unter den blonden Locken, die sich leicht in seine Stirn kräuselten, lag ein perfekt geformtes Paar Augenbrauen. Darunter zwei große bernsteinfarbene Augen, die mich sofort in ihren Bann zogen.
Dann folgte mein Blick den hohen Wangenknochen bis zu den vollen Lippen. Meine Augen wanderten weiter nach unten. Der Neue sah sportlich aus, war schätzungsweise ein kleines Stück kleiner als ich. Er trug ein eng anliegendes weißes T-Shirt und darüber eine blaue Jeansjacke. Dunkelgraue Hosen und weiße Sneakers machten das Outfit perfekt.
Seinen rechten Arm hatte er nach oben angewinkelt und hielt mit der Hand einen Träger seines Rucksacks fest, der locker über seiner Schulter hing. Ich kam zu dem Entschluss, dass der Neue insgesamt richtig gut aussah. Mein Blick wanderte wieder nach oben zu seinem Gesicht.
Er hatte gerade seinen letzten Satz beendet und schaute erwartungsvoll zu Frau Haas. Sie strahlte ihn an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nicht der einzige war, der ihn sich genau angeschaut hatte. Mia, Irina, Luisa und ein paar andere Mädels glotzten ihn mit Herzchen-Augen an. Einige der Jungs sahen eher misstrauisch aus.
Robin, von dem ich ziemlich sicher wusste, dass er in Mia verschossen war, schaute eifersüchtig zwischen ihr und dem Neuen hin und her. Er saß direkt vor mir und ich konnte sehen, wie eine Ader an seiner Stirn leicht zu pochen begann.
Frau Haas, die ebenfalls sichtlich von dem neuen höflichen Schüler angetan war, fasste sich wieder. Sie räusperte sich kurz und schaute dann mit grüblerischem Blick durch die Sitzreihen. Zum zweiten Mal heute blieb ihr Blick an mir haften. Ihre Augen verengten sich zu kleinen, schmalen Schlitzen.
Dann seufzte sie, setzte wieder ihr süßliches Lächeln auf und wandte sich zurück an Timothy. „Timothy. Ich verfrachte dich zwar nur ungern direkt an deinem ersten Tag in die letzte Reihe, aber leider scheint das momentan der einzige freie Platz zu sein." Geschockt riss ich die Augen auf. Was hatte die Frau da gerade gesagt? „Bitte nicht mein kleines Reich zerstören!", schrie ich innerlich.
Panisch blickte ich mich im Klassenraum um. Gab es denn wirklich keinen anderen freien Platz, außer dem neben mir? Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt und sehr damit angefreundet, dass ich meinen eigenen Tisch hatte. Und jetzt sollte ich mein eigenes kleines Reich mit dem NEUEN teilen müssen?
„Oh Mann", flüsterte ich leise vor mich hin. Mia drehte sich um und zischte mich böse an.
„Alles gut, ich bin gar nicht so traurig über die letzte Reihe", unterbrach Timothy meine Gedanken und zwinkerte dabei Frau Haas zu. Charmant sein konnte er. Dann setzte er sich in Bewegung. Er ging zwischen den mittleren Tischen nach hinten. Alle Augen folgten ihm. Seine Augen hingegen waren auf mich gerichtet. Und nun kam auch ich in den Genuss seines charmanten Lächelns.
Ich spürte, wie mir warm wurde, mein Herz ein kleines bisschen schneller schlug und die Hitze in mein Gesicht kroch. Schnell wandte ich den Blick ab und traf wieder auf Mias böse funkelnde Augen. Sie war wohl gar nicht erfreut darüber, dass der Neue den Platz neben dem Mobbing-Opfer einnehmen musste. Wütend zog sie eine ihrer schwarzen Afrolocken lang und wickelte sie sich um den Zeigefinger.
Timothy war jetzt bei mir angekommen, ging hinter mir vorbei und setzte sich neben meine linke Seite auf den freien Platz. „Hey", sagte er leise. Schnell zog ich meine Bücher und Blätter, die ich dort deponiert, hatte auf meine Seite des Tisches. Erst dann schaute ich zu ihm. Ich erschrak.
Er schaute mich extrem skeptisch, fast schon wütend und mit gerümpfter Nase an. Von dem charmanten Lächeln war nichts mehr zu sehen. Was zur Hölle?! Was hat denn der für ein Problem?
Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, oder sollte ich besser sagen wie angebissene Wurstscheiben? Der Müllgestank! Das hatte ich komplett vergessen. Schnell schaute ich wieder auf meinen Schreibblock vor mir und spürte schon wieder, wie ich rot wurde.
Die Deutschstunde zog sich ewig hin, bis endlich die Glocke zur 5-Minuten-Pause erlösend schrillte. Sofort sprang ich auf und rannte aus dem Klassenzimmer zur Toilette. Meine Deoflasche hatte ich mir vor meinem Sprint noch aus der Schultasche geangelt.
In dem weißgefliesten Raum angekommen, sprühte ich mich von oben bis unten mit Deo ein. Hinter mir öffnete sich wieder die Tür und Robin trat ein. Er schaute mich entgeistert an, als er mein verzweifeltes Gesicht in der Deo-Wolke entdeckte.
„Was ist denn mit dir los?", fragte er.
„Ich habe heute Morgen von meinem besten Freund Micha einen Haufen Müll abbekommen und hatte das Gefühl, das ganze Zimmer voll zu stinken", antwortete ich mit genervtem Unterton.
Robin verzog seinen Mund zu einem kurzen Lächeln und zuckte dann mit den Schultern: „Also ich kann dich beruhigen. Direkt vor dir habe ich nichts gerochen." Damit verschwand er in eine der Kabinen und ließ mich ein wenig ratlos zurück. Roch ich etwa doch nicht nach Müll?
Ich ging zurück zum Klassenzimmer. Mia lehnte an meinem Tisch und flirtete mit dem Neuen. Er lächelte höflich. Als ich näher kam, stand sie schwungvoll auf und meinte noch im Weggehen zu Timothy: „Also dann gehen wir nachher zusammen zu Französisch, ich zeig' dir den Weg." Sie warf mir einen triumphierenden Blick zu und setzte sich dann wieder an ihren Platz zwischen Irina und Luisa, die sie sofort mit Fragen löcherten.
Ich verdrehte die Augen und setzte mich auf meinen Platz. Leicht schielte ich zu Timothy. Der lächelte jetzt nicht mehr höflich. Er schaute starr auf das Deutschbuch, das vor ihm lag. Seine Nase war wieder gerümpft, als wäre er angewidert. Seine Hände lagen verkrampft zu Fäusten geballt auf dem Tisch.
Also entweder hatte er die beste Nase der Welt, oder Robin die schlechteste. Roch ich jetzt nun nach Müll oder nicht? Aber nach der Deo-Sprüh-Aktion dürfte eigentlich kein Müllgestank mehr übrig sein. Oder fand er den Deogeruch vielleicht auch schlecht? Ich seufzte leise und ließ die zweite Deutschstunde über mich ergehen.
In der 20-minütigen Hofpause stellte ich mich zu den anderen Rauchern in die Raucherecke. Obwohl hier niemand mit mir redete, abgesehen jemand wollte eine Kippe oder Feuer schnorren, fühlte ich mich hier ein wenig dazugehörig. Für Spätsommer war es heute kühl. Ich fröstelte und ärgerte mich darüber, dass ich keine Jacke mitgenommen hatte.
Aus meiner hinteren Hosentasche zog ich ein flaches schwarzes Etui, klappte es auf und zog eine der säuberlich darin aufgereihten Zigaretten heraus. Ich steckte sie mir in den Mund. Währenddessen wühlte ich in meiner anderen Hosentasche nach meinem Feuerzeug. Ich klappte mein schwarzes Zippo auf, zündete meine Kippe an und nahm einen tiefen Zug.
Meine Lunge füllte sich mit dem Rauch. Der erste Zug am Tag brannte immer etwas und ich musste leicht husten. Niemand beachtete mich. Ich ließ meinen Blick über den Schulhof schweifen, auf der Suche nach dem Neuen. Ich war neugierig, ob er bei seinen Geschwistern stehen würde.
Dann entdeckte ich Timothy und seine Geschwister. Es verschlug mir den Atem. Ich verschluckte mich am Rauch und fing diesmal richtig an zu husten. Nicht nur Timothy sah ziemlich gut aus, auch sein Bruder und seine Schwester waren schier umwerfend.
Sein Bruder war ein ganzes Stück größer und auch breiter als er. Seine Muskeln konnten sicher mit denen von Micha mithalten. Er hatte die gleichen blonden Haare wie Timothy, aber keine Locken. Er strahlte so unglaublich viel Selbstsicherheit aus, dass jedes Mädchen und vielleicht auch der ein oder andere Typ sich nach ihm umdrehte.
Bis auf die schwarze Lederjacke trug er ein ähnliches Outfit wie Timothy, allerdings aufgepeppt mit einer schwarz-weißen Collegejacke. Die Schwester stand dem in nichts nach. Sie war ebenfalls ein kleines Stück größer als Timothy. Sie war ein bisschen molliger und sah ebenfalls wie ihre Brüder sehr sportlich aus.
Ihre Haare waren dunkelbraun mit einem leichten rötlichen Schimmer. Die Haare waren glatt und gingen ihr bis zum Kinn. Sie trug ein schwarzes T-Shirt und darunter ein langärmliges, schwarz-weiß geringeltes Shirt. Dazu einen schwarzen Faltenrock und schwarze Boots. Es stand ihr unheimlich gut.
Erst jetzt fiel mir auf, dass alle drei ziemlich bleich waren, was ihrer Schönheit aber nicht schadete. Sie sahen aus wie Stars. Plötzlich wurden meine Gedanken wieder getrübt. Heute Morgen hatte ich noch die Hoffnung, die drei Neuen könnten die neuen Mobbing-Opfer werden. Aber so wie die drei aussahen, würden sie eher die beliebtesten Kids der Schule werden.
Genervt warf ich meinen Zigarettenstummel auf den Boden, trat die Glut mit der Schuhspitze aus und schlurfte deprimiert zurück ins Klassenzimmer.
Als ich den Raum betrat, bemerkte ich sofort, dass der Stuhl neben meinem leer war. Stimmt ja, Mia hatte doch vorhin erwähnt, dass sie mit Timothy zu Französisch gehen würde. Spanisch fand hier im Klassenzimmer statt, ich musste den Raum dafür also nicht extra wechseln.
Ich lümmelte mich auf meinen Platz und entspannte mich, glücklich darüber, meinen Tisch wenigstens für eine Stunde wieder für mich zu haben. Ohne diesen naserümpfenden Typen neben mir. Diesen wunderschönen, naserümpfenden, arroganten, umwerfenden, blöden Typen.
Ich grinste dümmlich vor mich hin, als Frau Gómez in schnellem Schritt zur Tür hereinwehte. „Buenos días estudiantes! Abra el libro desde la página 24!", rief sie schroff noch im Hereinkommen. Ich seufzte und richtete mich auf. Das war's dann wohl mit meiner Ruhe!
Die Spanischstunde ging einigermaßen schnell vorbei. Spanisch lag mir zwar nicht besonders, aber meine Gedanken lenkten mich an dem Tag so sehr ab, dass mir wenigstens nicht langweilig wurde. Nachdem Frau Gómez das Zimmer gleich schwungvoll verlassen hatte, wie sie 45 Minuten zuvor eingetreten war, trudelten langsam die anderen aus Französisch wieder ein.
Mia hing natürlich wieder an Timothy, als sie gemeinsam den Raum betraten. Sie lachte über irgendetwas und Timothy hatte wieder sein höfliches Lächeln auf den Lippen. Als ich ihn entdeckte, spürte ich, wie mein Herz wieder minimal schneller schlug. Doch als er bemerkte, wie ich ihn beobachtete, erstarb sein Lächeln.
Stumm setzte er sich neben mich auf seinen Platz. Auch während Englisch wurde ich wieder von Timothy ignoriert. Erst als unser Englischlehrer Herr Fürstenberg ihn ansprach und fragte, ob er aus einem englischsprachigen Land komme, vermutlich wegen seines englischen Namens, lockerte sich die Steinstatue neben mir.
Er erzählte kurz, dass seine Mutter Amerikanerin sei, er englisch-deutsch bilingual aufgewachsen sei, aber selbst erst ein paarmal in Amerika im Urlaub gewesen wäre. Danach verwandelte er sich wieder in David von Michelangelo, nur mit mehr Stoff um sich herum als nur einem Feigenblatt, aber genauso bleich, schön und bewegungslos.
Nach der endlos langen Englischstunde ging ich wie die meisten anderen Schüler*innen zur Cafeteria. Endlich Mittagspause! Ich reihte mich in die Schlange bei der Essensausgabe ein und entschied mich dafür, nur einen Apfel und eine Cola Zero zu kaufen. Seit ich vor einiger Zeit drei Tage in Folge mein volles Essenstablett von Micha und seinem Gefolge ins Gesicht geklatscht bekommen hatte, überlegte ich mir meist dreimal, ob ich nicht bis abends auf eine warme Mahlzeit warten könnte.
Dann setzte ich mich auf meinen Stammplatz im hintersten Eck der Cafeteria mit dem Rücken zur Wand. Hier hatte ich den ganzen Raum im Blick und konnte mögliche Gefahren direkt einschätzen. Außerdem konnte ich von hier aus gut alle anderen beobachten. Ich nahm einen kleinen Bissen von meinem Apfel und schaute mich um.
Ziemlich schnell entdeckte ich wieder die drei Neuen. Das war allerdings auch nicht schwer, denn sie waren umringt von anderen Schüler*innen. Timothys Schwester, ihren Namen wusste ich nicht mehr, obwohl er die Namen seiner beiden Geschwister heute Morgen bei seiner Vorstellung erwähnt hatte, wurde belagert von Göksu, Aisha und Lijana.
Die drei waren eigentlich eine typische Mädchen-Clique und ziemlich beliebt. Die Neue schien sich nicht ganz wohl bei ihnen zu fühlen, lächelte aber trotzdem höflich und tat, wie ich vermutete, interessiert. Timothys Bruder, ich hatte vorhin mitbekommen, dass er Andrew hieß – zwei Mädels, etwas älter als ich, hatten von ihm geschwärmt, als sie vor mir in die Cafeteria liefen – war umringt von den besten Sportlern der Schule.
Da war Alex, der Fußballkapitän vom Schulfußball-Team, Benni und Vitali aus dem Basketball-Team und Maksim aus der Sport-AG. Sogar unser Sportlehrer Herr Schiller, der wohl Pausenaufsicht hatte, schaute interessiert zu dem kräftigen, sportlichen neuen Schüler.
Und dann war da noch Timothy. Neben ihm saß natürlich, wer hätte es ahnen können, Mia. Sie erzählte ihm wieder irgendetwas. Ich fragte mich, ob sie ihn auch mal zu Wort kommen ließ. Irina saß neben Mia und kicherte wie üblich nach jedem zweiten Satz, den Mia von sich gab.
Und Luisa hatte die andere Seite von Timothy ergattert und begann immer zu reden, wenn Mia Luft holen musste. Ein bisschen hätte Timothy mir ja leid getan, würde er sich nicht so komisch und arrogant benehmen, sobald er neben mir saß.
Nach der Mittagspause ging ich zu Ethik. Das fand nicht in unserem Klassenzimmer statt, weil zur gleichen Zeit dort Religionsunterricht war. Ich schlenderte also zu Ethik und fragte mich, ob Timothy auch dort sein würde. Und tatsächlich, als ich den Raum betrat, sah ich schon seine blonden Locken.
Er saß natürlich neben Mia. Irina saß komischerweise plötzlich zwei Reihen weiter hinten an einem sonst freien Platz. Sie schmollte und starrte eifersüchtig zu Mia und Timothy. Ich musste innerlich über sie lachen. Arme Irina, so schnell wurde man von Mia, also durch einen hübschen Jungen ersetzt. Dann ging ich zu meinem Platz und freute mich, dass ich auch hier wieder einen Tisch für mich selbst hatte.
Nach Ethik wanderten wir wieder alle gemeinsam ins Klassenzimmer. Hier musste ich noch zwei Stunden Geschichte absitzen. Dann schrillte die erlösende Schulklingel, die diesem qualvollen Schultag endlich ein Ende setzte. Auch Timothy schien darüber mehr als glücklich zu sein.
Er schnappte sich seinen Rucksack, den er schon fünf Minuten vor Schulende zusammengepackt hatte, sprang auf und ging mit schnellem Schritt aus dem Klassenzimmer. Gerade nur so schnell, dass er nicht rannte.
Mia, die sich schon wieder an ihn hängen wollte, schaute ihm verdattert hinterher. Nicht nur ich schien mich darüber zu freuen, auch Irina. Sie hakte sich bei ihrer Freundin ein, glücklich darüber, sie endlich wieder für sich zu haben und zog sie aus dem Klassenzimmer.
Endlich dem Schulgebäude entkommen, schnallte ich mein Longboard vom Rücken. Lässig schmiss ich es auf den Boden, wo es ein Stückchen vor mir wegrollte. Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren. Die laute Metal-Musik zerschmetterte mir fast das Trommelfell.
Ich zündete mir eine Zigarette an, während ich mich mit einem Bein auf das Board stellte und mit dem anderen Schwung nahm. Der Fahrtwind blies mir die Haare nach hinten und wieder fröstelte es mich leicht. Morgen muss ich mir eine Jacke mitnehmen.
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Hallöchen,
ich freue mich sehr, dass du das erste Kapitel meines Buches gelesen hast. Ich hoffe es hat dir gefallen :)
Du hast jetzt schonmal einen kleinen Einblick, in Tristans Schulalltag, der meist kein Zuckerschlecken ist, bekommen. Nicht nur, dass ihm schon wieder Micha und seine Lakaien über den Weg gelaufen waren, sondern da waren ja auch noch diese Neuen ... besonders Timothy, der Tristans Herz ein bisschen schneller hat schlagen lassen und der mit seiner Art ziemlich viel Verwirrung in ihm ausgelöst hatte.
Wenn du Lust hast, dann lass mir doch gerne einen Kommentar zum Kapital da und wenn dir das Kapitel gefallen hat, dann würde ich mich auch sehr über einen Vote freuen.
Liebe Grüße Elena :)
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