8 : DAY THREE
tw: homophobia, slurs
Jeno findet es fast ein bisschen schade, dass er nicht alleine zu Jaemins Spiel gehen kann, aber gleichzeitig rettet es ihn vor dummen Aktionen, weil er dann andere von ihren abhalten muss. Besonders Chenle, der schon auf dem Hinweg mehrmals über die Straße rennen will, und Jeno überlegt ernsthaft, ob er ihm vielleicht eine Leine anlegen muss. Wie kann in jemandem so viel Energie stecken? Und sie ist nie verbraucht, das ist eigentlich noch viel schlimmer.
Sie schaffen es vor dem Anstoß auf die recht kleine Tribüne, und sobald die Spieler vollzählig sind, scannt Jeno das Feld ab. Jaemins Team in hellgrünen Trikots, das gegnerische in Feuerrot, 4-4-2-Aufstellung auf der linken, 3-4-3 auf der rechten. Jaemin sitzt auf der Bank.
Da er aufs Spiel sieht, kann Jeno ihn ansehen, trotz seiner vor der Brust verschränkten Arme erkennt er die 13 auf der rechten Seite. Im Gegensatz zu dem ein oder anderen auf dem Feld hat er einen recht guten Körperbau, den er in seinem Hoodie und den Jogginghosen ziemlich gut zu verstecken weiß, und es ist nicht so, dass Jeno ihn nicht schon in genau diesem Trikot gesehen hat – aber jetzt hat er Zeit, auch hinzusehen, und findet das alles ein bisschen attraktiver, als er sollte.
Der Anpfiff reißt ihn von Jaemins Anblick hoch, was gut ist, sonst hätte er noch angefangen zu sabbern. So will er sich am liebsten eine Ohrfeige geben und zwingt sich, das Spiel zu analysieren. Als er es dann aber tut, fällt es ihm leicht, sich vollends auf die Muster und Verhältnisse zu konzentrieren, weshalb er von dem plötzlichen Jubeln seines anwesenden Teams zusammenzuckt und zurück in die Realität gerissen wird.
"Go, Nana! Mach sie fertig!" Vollkommen verständnislos sucht Jeno das Spielfeld ab – und entdeckt Jaemin, der gerade eingewechselt wird, und ihnen grinsend einen Vogel zeigt. Nana?
Jaemin Na, erinnert er sich dann, und muss unwillkürlich schmunzeln. Ja, das passt zu ihm.
Sein Blick heftet immer noch auf Jaemin, weshalb er bemerkt, wie sich ihm ein Mitspieler nähert und irgendeine Bemerkung machen muss, denn Jaemin fällt das Grinsen so derartig schnell aus dem Gesicht, Jeno bekommt das plötzliche Bedürfnis, über die Bande zu springen und seinem Gegenüber die Faust ins Gesicht zu jagen. Aber Jaemin wehrt sich selbst mit seinem süßlichen Lächeln, sodass er abdreht und im Weggehen die Augen verdreht. Jeno wünscht ihm einen Bänderriss.
Mit Jaemin auf dem Feld läuft das Spiel etwas anders, da er wirklich so flexibel ist, wie er zu Jeno meinte. Hauptsächlich orientiert er sich noch immer am Mittelfeld, aber wenn es anderswo eine Lücke zu füllen gilt, ist er vor Ort. Im direkten Spielverlauf nimmt er nur wenig Einfluss – mal hier ein Ball abgefälscht, mal da den Gegner abgeschirmt –, aber je länger Jeno hinsieht, desto mehr beschleicht ihn das Gefühl, dass Jaemin mehr Denksport als körperlichen betreibt. Dass er wie Jeno von außen mitten aus dem Spielfeld die Züge analysiert und weiß, wo er stehen muss, um Kettenreaktionen aufzuhalten. Sein Blick scheint wie magnetisch an den Ball geheftet, er reagiert schnell und erledigt alles völlig allein.
"Können wir ihn abwerben?", murmelt Chenle neben ihm, "er ist ja wie du."
"Er analysiert, Le." Jeno ist hin- und hergerissen, ob er Jaemin zusehen oder selbst analysieren soll.
"Sag ich ja, wie du. Stell dir mal vor, er gäbe Anweisungen. Die hätten den Pokal doch easy in der Tasche!"
"Dafür müssen sie erst an uns vorbei", grinst Jeno. Ob Chenle antwortet, bekommt er nicht mit, Jaemin steht vor der Entscheidung zwischen zwei Lücken – und wählt die falsche, der Gegner wählt die andere und umspielt den Verteidiger, passt, und es fällt das erste Tor.
"Das war doch abzusehen", seufzt Renjun von rechts. "Jaemin hätte bleiben sollen, wo er war."
"Er hat kalkuliert", murmelt Jeno zurück, "und auf Teamplay gesetzt. In seiner vorherigen Position war die andere Seite völlig frei, die Neun hätte vorher gepasst und die Drei locker ein Tor gemacht. Also ist er gewechselt, um auf beiden Seiten jemanden zu haben, aber der Pass ist so nicht passiert und die eigene Verteidigung hat versagt."
Renjun sieht ihn undefinierbar an. "Wie passt das alles nur in dein Hirn?"
"Ich hab halt keine Erbse."
Jeno muss sich vor seinen Schlägen auf Chenles andere Seite retten.
↯
"Kannst du eigentlich irgendwas, du scheiß Schwuchtel?" Bevor Jaemin reagieren kann, wird er gegen die Betonwand geschubst, und da ist zwar nur ein wütendes Augenpaar, aber von den anderen hilft ihm auch niemand. Natürlich nicht. Erst recht nicht gegen den eigenen Kapitän. "Du solltest die Neun decken!"
"Ich bin nicht in die falsche Richtung gesprungen", presst Jaemin hervor.
"Du hattest einen Job und schaffst nicht einmal das." Der Kapitän spuckt ihm vor die Füße. "Drecks Tunte."
"Alex, es reicht." Jaemins Trainerin packt ihn am Kragen und schubst ihn einmal in die andere Richtung. "Mach andere nicht für deine eigenen Fehler verantwortlich, erst recht nicht Jaemin. Er ist der Einzige, der bisher überhaupt etwas gerissen hat. Und das gilt für euch alle!" Ihre Stimme hallt durch die gesamte Umkleide, sofort wird es still. "Ich hab die Schnauze voll von euch, wisst ihr das eigentlich?! Habt ihr zu viele Kopfbälle gemacht und euch die Gehirnzellen weggeballert? Nein, du brauchst gar nicht so die Augen zu verdrehen, Alex. Gerade du bist dafür verantwortlich, das Team zusammenzuhalten, und stattdessen gehst du Jaemin an für etwas, mit dem er nichts zu tun hatte. Er hängt sich rein fürs Team, und ihr seht ihn nicht einmal als Teil von euch! So schafft ihr das nicht einmal ins Viertelfinale. Eine tolle Mannschaft hab ich hier, mit nichts als Vollpfosten! Die Dreizehn ist eure Glückszahl und ihr verflucht sie vollkommen grundlos! Reißt euch zusammen!" Noch einmal wandert ihr Blick durch die Reihen, aber keiner außer Jaemin wagt es, sie anzusehen. Sie gibt sich damit zufrieden – oder muss es vielleicht, bevor sie noch platzt – und verlässt ohne ein weiteres Wort die Kabine.
"Was soll ich sagen, Jungs", seufzt ihr zweiter Trainer, "wo die Lady recht hat, will man auch nicht widersprechen."
Aber Jaemin hat trotzdem die Schnauze voll. Er ignoriert die Mini-Besprechung, wirft nur seine Jacke über und verlässt mit seiner Trinkflasche die Umkleide. Es ist ihm völlig egal wohin, hauptsache weg, aber dann fällt ihm Jeno und seine Mannschaft ein und er stratzt sofort den Flur entlang nach draußen. Sie sitzen zum Glück nicht weit weg, er muss auch nicht übers Feld, sondern kann am Rand entlanggehen und in einem Schwung über die Bande klettern.
"Was führt dich hierher?", begrüßt Jeno ihn, und Jaemin muss schlucken. Am liebsten will er ihm alles erzählen und sich aufregen und vielleicht ein bisschen weinen, so frustriert ist er, aber er verdreht nur die Augen und lässt sich zu Boden fallen.
"Alex gibt mir die Schuld", faucht er, "dabei war es nicht einmal mein Job, das aufzuhalten. Ich hab die Neun nicht gedeckt, okay. Aber erstens macht das generell fast niemand und zweitens waren da noch zwei weitere, Verteidigung und Torwart und Alex selbst, also halt die Fresse und kümmer dich um deine eigenen Fehler."
Jeno steht auf und bietet ihm seine Hand an, zieht ihn vom Fußboden hoch und hält seine Hand ein bisschen zu lange fest, denn Jaemins Augen werden wieder so groß und scheu und scheiße, doch nicht vor seinen Jungs.
"Ich kenn da wen, der regt sich gerne mit dir auf."
Damit findet Jaemin sich auf Jenos ursprünglichem Platz zwischen der Elf und der Dreiunddreißig wieder, und alle Anwesenden gehen scherzhaft auf vergangene Fehler der anderen ein. Jeno spart es sich, Details zu berichtigen, bleibt still gegen die Bande gelehnt und sieht zu, wie Jaemin ruhiger wird, anfängt mitzulachen und sogar aufhört, an seinem Flaschendeckel zu spielen.
"Jaemin", sagt er zum Ende der Pause, seine Mannschaft verstummt und Angesprochener sieht ihn fragend an. Sein seitliches Kopfnicken bedeutet ihm, mitzukommen, also steht Jaemin auf und folgt ihm ein paar Sitze weiter.
"Was hab ich falsch gemacht?" Jaemin verschränkt die Arme vor der Brust, und Jeno blinzelt ihn verwirrt an.
"Nichts. Ich wollte dich was fragen."
Seine Wangen werden heiß. "Was?"
"Als du eingewechselt wurdest, was wurde dir da gesagt?"
Jaemins Miene wird wieder hart. "Nichts Wichtiges."
"Jaemin." Es ist eine Aufforderung, eine sanfte, und es macht ihn so, so wütend.
"Du bist nicht mein Kapitän", zischt er, "kümmer dich um dein eigenes blödes Team."
Jeno hält ihn am Arm fest, als er gehen will, und sein Griff ist zwar locker, aber Jaemin bleibt trotzdem stehen. "Ich bin nicht dein Kapitän, aber deiner kümmert sich 'nen Scheiß um dich und das ist verdammt unfair. Kannst du es deinen Trainern sagen?"
"Was sollen die tun, hm? Vorträge halten? Wütend werden? Weißt du, wie oft das schon passiert ist? Es hat sich nichts geändert, Jeno, und es ist mir scheißegal geworden, also hör auf. Ich brauche deine Hilfe nicht."
"Okay." Jeno lässt ihn los, und er nimmt sofort Sicherheitsabstand. "Musst du auch nicht. Ich wollte es nur versuchen."
"Schönen Dank auch", faucht Jaemin, dreht sich um und verschwindet wieder über die Bande. Spätestens jetzt ist Jeno sich sicher, dass mehr dahintersteckt, aber bevor Jaemin ihm es nicht von sich aus sagt, wird er nicht dahinterkommen.
Zurück auf dem Spielfeld steht Jaemin vor Wut vollkommen unter Strom. Er denkt noch schneller und hat mehr Ausdauer, erzielt nach zehn Minuten das erste, fünf Minuten vor Ende das zweite Tor. Wenn er das Gefühl hat, nachzulassen, muss er nur an das hämische Dein Harem? vorhin denken und hat wieder genug Kraft, um den Ball einmal übers Spielfeld zu jagen und eine Torvorlage zu geben, die seine Mannschaft versaut. Kaum kommt der Abpfiff und es haben alle einmal abgeklatscht, stürmt er vom Feld und wechselt nur seine Schuhe, ehe er die Kabine auch wieder verlässt. Nicht einmal seine Trainerin würdigt er eines Blickes, stolpert hinaus in die schwüle Stadtluft und will einfach nur noch schreien.
Es ist unfair. Es ist alles so verdammt unfair, Jenos Kapitänsverhalten zeigt ihm nur wieder, was er haben könnte, wäre er nicht in diesem Drecksloch von Mannschaft gelandet. Jenos Team zeigt ihm nur wieder, wie schön es sein kann, Zeit mit anderen zu verbringen, und wie Zusammenhalt aussieht. Und jetzt hat er es sich mit seinem Ausbruch vorhin wohl nur versaut, und das macht es noch schlimmer, weil es seine Schuld ist.
Er will nicht einmal Jisung anrufen, rennt nur zurück zum Hotel und duscht so heiß, dass das Wasser die Fensterscheiben hinabläuft.
30.07.2022
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