4 : DAY TWO

Eine Weile lässt Jeno seinen Wecker klingeln, weil er aufstehen muss, aber nicht will, bevor er sich erinnert, dass noch jemand im Raum ist, und hochschießt, um das Klingeln wegzudrücken. Ein Seitenblick verrät ihm, dass Jaemin nichts davon mitbekommen hat, und er atmet erleichtert auf, ehe er aufsteht.

Gestern Abend ist nichts mehr passiert; Jaemin ist vor ihm ins Badezimmer gegangen, und Jeno wollte eigentlich abwarten, ob er mitbekommt, dass der andere einschläft, aber stattdessen hat es ihn ausgeknockt, sobald er die Augen einen Moment zu lange geschlossen hat. Er ist auch jetzt noch etwas erschlagen von der Fahrt gestern, aber nach dem bevorstehenden Morgenlauf wird davon sehr wahrscheinlich nichts mehr übrig sein.

Gerade als er im noch schwachen Sonnenlicht seine Laufschuhe gefunden hat, ertönt ein Klingeln aus Jaemins Bett, ein Rascheln, ehe es aufhört, und ein gemurmeltes "Fuck".

"Guten Morgen", sagt Jeno fröhlich zurück und schlüpft in seine Schuhe. Jaemin braucht einen Moment, richtet sich auf und sieht ihn angewidert an.

"Sag mir nicht, dass du ein Morgenmensch bist."

"Weit davon entfernt." Jeno zieht schwungvoll den Schnürsenkel fest und hebt den zweiten Fuß auf den Stuhl. "Wir wurden verpflichtet."

"Wir auch", nuschelt Jaemin zurück. Dann weiten sich seine Augen, er springt aus dem Bett und hechtet ins Bad. Scheinbar hat er realisiert, dass er losmuss, und Jeno muss unwillkürlich schmunzeln.

Er verlässt das Zimmer, bevor Jaemin zurückkommt, da er an jeder Tür seiner Mannschaft noch einmal klopft und im Anschluss mit Chenle ein Wettrennen die Treppen hinunter macht, um ihn wachzukriegen. Draußen sind sie bei Weitem nicht die einzige Laufgruppe, wobei nicht alle von einem Trainer begleitet sind. Jeno ist etwas überrascht, dass so viele Leute in dem Hotel untergebracht sind, aber vermutlich sind sie die einzigen Gäste momentan. Hoffentlich, bei dem Lautstärkepegel auf dem Platz, der auch ihm selbst das Bedürfnis verpasst, wieder ins Bett zu gehen. Er sieht schon einen großen Zug Gleichaltriger durch die Straßen rennen, wie früher bei den Lauftagen, und darauf hat er wirklich keine Lust.

Während sie auf ihren Trainer warten, sieht er sich weiter um, wobei die ersten schon loslaufen. Etwas weiter entfernt entdeckt er auch seinen Zimmernachbarn, wieder im mintgrünen Hoodie, in dem er zwischen den anderen uniform in roten Jacken hervorsticht. Er nimmt an den Dehnübungen teil, die sie machen, aber Jeno kann kabellose Kopfhörer in seinen Ohren erkennen, und ihm wird klar, dass das gestern keine Einbildung war; Jaemin isoliert sich wirklich von seiner Mannschaft. Oder vielleicht auch sie ihn von sich, was irgendwie die schlimmere Vorstellung ist. Es wird ihm nur noch bestätigt, als ihre Trainerin – er hat sie vorhin schon bemerkt, und irgendwie ist er fast neidisch – sie von den Übungen erlöst und sich alle in ihren Gruppen zusammenfinden, außer Jaemin, aber der interessiert sich dafür gar nicht, sondern schnürt seine Schuhe erneut und tippt im Anschluss auf seinem Handy herum.

Weiter kann Jeno ihm dann auch nicht mehr zusehen, obwohl er sich erwischt, wie er seinem angekommenen Trainer nur halb zuhört und wieder zu Jaemin sieht, bis dieser hochsieht, Jeno Panik bekommt und sich ruckartig wieder nach vorne wendet.

Jaemins Team ist weg, als sein eigenes mit ihrer kurzen Aufwärmrunde fertig ist, und er muss trotzdem noch an ihn denken. Nicht zuletzt, weil ihm die Situation so schrecklich bekannt vorkommt – nicht im Fußball, das niemals. Die zwanzig Jungs, die damals noch weniger und zum Teil andere, ältere waren, haben niemals irgendjemanden ausgegrenzt und selbst die Zurückhaltenden, wie Shotaro, werden jederzeit eingebunden. Der einzige Zeitpunkt, an den Jeno sich erinnert, an dem es angespannt war, war bei der Auswahl der Rückennummern vor zwei Jahren, und das nur, weil sie sich angestellt haben.

Nein, an Jaemins Stelle stand er schon immer in der Schule. Selbst jetzt tut er es nur nicht, weil Chenle letztes Jahr zu ihm gewechselt ist, als seine Noten es erlaubt haben. Es kümmert ihn nicht besonders, immerhin ist er fast jeden Tag auf dem Fußballplatz und hat dort seine Freunde, aber früher kam es für ihn manchmal an den Punkt, dass er sich sicher war, er selbst sei das Problem. Selbst in seinem alten Verein war es noch so – mehrmals ist er gewechselt, weil er nirgendwo den Anschluss gefunden hat, und dann kam sein momentanes Team. Er musste zum ersten Training noch eine Stunde mit dem Zug fahren, der Umzug stand erst noch bevor, und er hat beinahe die ganze Zeit auf der engen Toilette gesessen, weil ihm so unfassbar schlecht war. Aber als er ankam und der Trainer ihn vorgestellt hatte, wurde er sofort vom damaligen Kapitän an die Hand genommen und war schon vor der Anmeldung im Verein Mitglied der Mannschaft.

Deshalb kann er sich vielleicht ein bisschen zu gut in Jaemins Situation hineinversetzen, und es deprimiert ihn ziemlich. Gerade in den älteren Teams sollte man doch für Zusammenhalt sorgen, nicht umsonst heißt es Teamgeist, aber Jaemins Mitspieler scheinen das anders zu sehen. Dabei fragt Jeno sich, was das Problem ist, denn wenn sie nicht alle absolut gegen gefärbte Haare sind, scheint es keinen Unterschied zwischen ihnen und seinem Zimmernachbarn zu geben.

"Jeno! Kommst du?" Blinzelnd kommt er wieder in der Realität an und merkt, dass der Rest schon losgelaufen ist. Chenle winkt ihn lachend zu sich, also joggt Jeno an seine Seite.

"Woran hast du bitte gedacht, dass du das Startsignal nicht mitbekommen hast?", gluckst der Jüngere.

"Keine Ahnung", lügt er zurück, "ich schlafe noch halb."

"Ausreden", schnaubt Chenle, aber fragt nicht weiter nach, und das war alles, was Jeno erreichen wollte. Wenn er ihm jetzt sagt, dass er in Gedanken an Jaemin versunken war, hört er wohl niemals auf, ihn damit zu nerven.

Die Meisten gehen direkt in Laufkleidung zum Frühstück, Jeno wird von Chenle mitgezerrt, und nach der Runde Morgensport ist die allgemeine Stimmung für eine so frühe Uhrzeit wirklich gut. Sogar zwischen den Mannschaften kommt es zu ersten Gesprächen, und nicht selten zerrt einer seiner Mitspieler Jeno mit sich, sodass Jaemin schon längst aus der Mensa verschwunden ist, als er sich endlich verdrücken kann. Wirklich, er liebt die zwanzig Jungen von Herzen, aber manchmal wünschte er, er hätte mehr soziale Ausdauer – oder sie mehr Verständnis, dass er sie nicht hat.

Dementsprechend ist Jaemin quasi auf dem Absprung, als Jeno ins Zimmer kommt, und sieht dabei nicht einmal auf.

"Jaemin", platzt es aus Jeno heraus, bevor dieser aus der Tür ist und er selbst darüber nachdenken kann. Also dreht er sich wieder um und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Wand.

"Was?"

"Nur– Sorry, ich weiß, das geht mich nichts an, aber– Hast du in deiner Mannschaft... Freunde?"

Einen Moment sieht Jaemin ihn nur an – eigentlich will er sagen, dass Jeno recht hat, dass es ihn einen Scheiß angeht, aber da ist wieder sein lieber Blick und Jaemin hat das Gefühl, ihm alles sagen zu können.

"Nein", antwortet er knapp. "Will ich auch nicht."

"Okay." Warum?, aber das traut Jeno sich dann doch nicht. "Lauft ihr jeden Morgen?"

"Ist so geplant, ja."

"Willst–" Jeno bereut es, überhaupt von dem Thema angefangen zu haben. Er kann sowas doch nicht, und vor allem nicht bei jemandem, den er kaum kennt. Aber er will irgendwie auch nicht, dass Jaemin alleine ist, also— "Willst du morgen mit uns laufen? Du musst auch nicht mit mir reden, aber sonst sind da auch noch andere Leute, oder du hörst halt Musik, keine Ahnung?"

Für den Bruchteil einer Sekunde huscht ein Lächeln über Jaemins Gesicht, das Jeno aber nicht sieht, weil er über sich selbst und seine nicht vorhandene Kommunikationsfähigkeit die Augen schließt, als hielte ihn das davon ab, im Erdboden versinken zu wollen.

"Okay."

Jeno öffnet die Augen wieder. "Okay?"

"Ja?" Jaemin lacht auf. "Warum bist du so überrascht?"

"Naja, weil du– Ich dachte halt, dass du Nein sagst."

"Ich bin eben voller Überraschungen. Und jetzt solltest du dich vielleicht beeilen, wenn ihr auch um zehn anfangt." Schwungvoll zieht er die Tür hinter sich zu, und auf dem Weg nach unten tippt er hastig eine Nachricht in sein Handy.

Ji ❤️‍🩹

Jisung wtf
Es ist der zweite Tag und Jeno 😃⁉️
Augenscheinlich stalkt er mich oder so??
Okay nein nicht Stalking aber er hat einfach JETZT schon bemerkt, dass niemand mich mag, ich meine hallo nimm deine Nase aus meinen Angelegenheiten 😐
Aber jetzt hat er mich einfach gefragt, ob ich morgen - also wir gehen jeden Morgen joggen, super oder? - mit seinem Team mitlaufen will
Und ich meine 🥺 sorry aber irgendwie ist das so aufmerksam und damit kriegst du mich halt einfach aber 😶 wir kennen uns nicht und ich weiß nicht, ob er einfach Mitleid mit mir hat oder sich jetzt mit mir anfreunden will?? 😥
Boah okay ich muss mich beeilen, aber wenn du mich nachher nicht anrufst 😠😠
📷 Photo (7)
Gelb ist meins 🙃
Bis dann ❤️

Und weil er weiß, dass er der Letzte ist, der sich Zuspätkommen erlauben kann, steckt er damit sein Handy weg und legt noch einen Zahn zu.

27.07.2022

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