18 : DAY FIVE
Im Stadion gibt es einen derart beständigen Luftzug, dass Jaemin sich nach nicht einmal fünf Minuten fragt, wie er das aushalten soll, und warum zum Teufel er nicht an eine Jacke gedacht hat. Beim letzten Mal ging es, da war es nicht so windig, aber jetzt pfeift eine Böe nach der anderen über sie hinweg und Jeno ist gerade mal in Richtung der Umkleiden verschwunden, als ihm die erste Gänsehaut über die Arme zieht.
Zur Ablenkung sieht er sich um, weil diesmal auch niemand da ist, der ihn dafür aufzöge. Er lässt seinen Blick über die hellblauen Plastikstühle gleiten, mehrere zehntausend Menschen passen auf die Ränge, und auch wenn der David Cup solche Größen wohl niemals erreichen wird, ist es doch schon beeindruckend, in einem so großen Stadion überhaupt spielen zu dürfen.
Von der Kamera, die über seinen Kopf schwenkt, abgelenkt bemerkt er Jeno zuerst nicht, der auf einmal mit einem nervösen Gesichtsausdruck neben ihm aufploppt, ohne den Rest der Mannschaft, wo Jaemin fest damit gerechnet hatte, ihn die nächsten drei Stunden nicht mehr alleine zu sehen.
"Ich hab Schiss", platzt es aus Jeno heraus, seine Ohren werden ganz heiß, als Jaemins überraschter Blick seinem begegnet. "Ich kann das nicht. Die filmen das, und Gott weiß wie viele Menschen das sehen, u-und–" Der Satz bleibt ihm im Hals stecken, und er will sich nur noch vergraben gehen, aber Jaemins Verwirrung weicht genau in dem Moment einem sanften Ausdruck, als er umdrehen und abhauen will.
"Jeno", lächelt er, "hast du Lampenfieber?"
"Was? N-Nein, ich, das, also–" Im Erdboden versinken will er. Warum hat er überhaupt erst den Mund aufgemacht?
"Das ist okay", versichert Jaemin ihm. "Ich weiß genau, wie das ist, und ehrlich gesagt glaube ich, dass es mir morgen genauso gehen wird."
"Ich hab einfach aufgehört zu funktionieren." Jeno deutet auf seine Beine. "Die Dinger sind wie Wackelpudding und ich weiß überhaupt gar nichts mehr über Fußball. Und das dauert noch eine Stunde, bis wir überhaupt anfangen, das überleb ich doch nicht."
"Doch, natürlich. Hey." Jaemin nimmt ihn an der Hand und zieht ihn mit sich weiter weg vom Gang zu den Umkleiden, ergreift vorsichtig auch Jenos andere Hand, als sie wieder zum Stehen kommen.
"Pass auf", sagt er leise, "du atmest jetzt ein paar Mal tief durch, okay? Durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Guck nicht so, das fühlt sich vielleicht bescheuert an, aber ich versprech dir, es hilft. Okay?" Ein schnelles Nicken. "Okay. Also, ein."
Unwillkürlich atmet Jaemin mit ihm, drückt seine Hände sacht und beruhigt ihn damit gleich doppelt.
"Sicher, dass ich nicht sterbe?", flüstert Jeno, nachdem Jaemin sich versichert hat, dass es ihm besser geht, und der Jüngere gluckst leise.
"Sicher. Du und deine Jungs, ihr mäht die Gegner nachher vom Feld."
"Ich hab wirklich Schiss, Jaemin." Es kommt tief aus Jenos Herzen, weshalb der Braunhaarige kurzschließt und ihn umarmt.
"Ich weiß", sagt er in Jenos Trikot, "aber ich weiß auch, dass du das überwinden kannst. Sobald du im Spiel bist, merkst du das auch gar nicht mehr. Und danach kannst du mächtig stolz auf dich sein, dass ihr das durchgezogen und gewonnen habt."
"Das weißt du doch gar nicht", murmelt Jeno zurück, aber immerhin steht zumindest in seinem Mundwinkel ein Lächeln.
"Natürlich weiß ich das", beschwert Jaemin sich, "ich hab euch– noch nicht wirklich spielen sehen, und dich gar nicht, aber ich weiß das trotzdem. In eurer Gruppe habt ihr doch auch komplett rasiert, du hast jedes Recht, mit der Erwartung eines Sieges ins Match zu gehen."
"Ungern", sagt Jeno leise und klammert sich noch etwas fester an ihn. "Übermut tut selten gut."
"Aber es ist ein verdammt gutes Gefühl, wenn man damit recht hat."
"Ja vielleicht." Jeno seufzt. "Ich will nicht."
"Natürlich willst du", mault Jaemin zurück und schiebt ihn von sich, "du hast bloß Schiss, aber davon kannst du dich doch jetzt nicht unterkriegen lassen! Sonst lässt du deine Mannschaft im Stich, und das nehm sogar ich dir übel."
Ein Schmunzeln huscht über Jenos Gesicht. "Okay, ich hab's verstanden. Danke", ergänzt er noch leise, Jaemin muss lächeln.
"Dass mir das ja nicht nochmal passiert", mahnt er scherzhaft, Jeno verdreht die Augen.
"Kann ich doch nichts für."
Ein Windstoß. Jaemin bekommt Gänsehaut.
"Willst du meine Jacke haben?", fragt Jeno vorsichtig, streicht über seinen Oberarm.
"Ich will meinen Hoodie haben", erwidert Jaemin maulig, "ich hab echt alles vergessen."
"Außer deinem Handy." Mit einem Schmunzeln zieht Jeno sich die Jacke aus und hält sie Jaemin hin, der hastig hineinschlüpft und innerlich unter Jenos Wärme wegschmilzt.
"Danke", flüstert er, und Jeno lächelt ihm nur noch einmal zu, ehe er zum bereits anwesenden Teil seiner Mannschaft geht.
Der Jüngere sieht ihm hinterher und ballt die Hände zu Fäusten, so präsent ist ihm Jenos Berührung dort und vor allem aber seine Umarmung noch. Von der Jacke will er gar nicht erst anfangen, denn wenn er bei der Wärme beginnt, hört er noch lange nicht bei dem Geruch auf. Wie ihn die Schmetterlinge aufregen. Aber aufhalten kann er sie auch nicht, weshalb er sich einen Sitzplatz sucht und von dort aus Jenos Mannschaft beim Aufwärmen zusieht.
Auf dem Weg zurück in die Kabine sieht Jeno ihn recht spät, aber strahlt trotzdem noch heller als die Sonne, winkt ihm, und Jaemin hebt hastig die Hand, ehe er aus seinem Blickfeld verschwindet.
Zurück kommen sie zum Anstoß, Jeno läuft ganz vorne, und Jaemin muss zweimal hinsehen, aber als er es richtig erkennt, schlägt er sich die Hand vor den Mund: Die Kapitänsbinde an seinem Arm ist in einem Regenbogen-Muster.
War er deshalb so nervös? Weil so viele Menschen sie sehen werden und er jetzt sozusagen ein Massen-Coming Out hat? Jaemin wird ja schon bei dem Gedanken unwohl, und als ihm dann noch seine Eltern einfallen, fragt er sich, wie Jeno es überhaupt geschafft hat, den Platz zu betreten.
Aber es wird doch nicht das erste Mal sein, dass er sie trägt, oder? Wenn doch, dann erfährt es ja auch seine Mannschaft erst jetzt, und Jaemin kann nicht anders – was wenn Jeno jetzt das Gleiche passiert wie Jaemin mit seiner? Und wo er gerade schon bei seinem Team ist, es gibt kein Universum, in dem sie sich nicht darüber lustig machen werden, dass die beiden Schwuchteln zusammen in einem Zimmer sind, und Jaemin wird nur bei der Vorstellung schon übel. Noch schlimmer ja, dass sie teilweise recht hätten, weil Jaemin wirklich verknallt ist, wie armselig, und wenn Jeno morgen bei ihm zusieht, dann ist es sowieso vorbei, und niemand kann ihn beschützen, wenn er es selbst nicht schafft, und—
Schmetterlinge. Sie breiten sich in seinem ganzen Körper aus, er hat das Gefühl, sich übergeben zu müssen, weil sie ihm beinahe aus der Kehle kommen. Er hat sich das nicht eingebildet. Und es war auch keine Wahnvorstellung, dass Jeno viel zu nett zu ihm ist. Als hätte es nicht ausgereicht, dass sie dreimal zusammen in einem Bett geschlafen haben, nein, aus irgendeinem Grund musste Jaemin das Brett vor den Kopf geschlagen werden, und er will wirklich kotzen, als ihm der Gedanke kommt, dass das ja vielleicht ganz eventuell heißen könnte, dass Jeno—
Er hat sich nicht eingebunden. Als er von seinen queeren Jungs erzählt hat, da hat er sich nicht selbst mitgemeint. Außerdem sind Allies ein Ding, zwar selten, gerade im Fußball, aber sie existieren. Und selbst wenn es wirklich wahr sein sollte, dass Jeno selbst queer ist, dann heißt das noch lange nicht, dass er damit gleich schwul ist, und auch nicht bi+, und Jaemin war ein Idiot, so vorschnell zu urteilen. Die Schmetterlinge sterben wieder.
Aber dann ist da Jenos Blick und Lächeln, nur für den Bruchteil einer Sekunde, sodass es auch Einbildung sein könnte, aber es ist dennoch genug, dass sie sofort zum Leben erwachen und vollkommen irrational herumflattern. Jaemin vergräbt das Gesicht in den Händen und hofft, dass der Anpfiff bald kommt.
08.08.2022 happy xiaojun day
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