1 : DAY ONE
"Jisung, rette mich!" Jaemin lässt nicht einmal Zeit für eine Begrüßung, und er hofft bloß, dass er weit genug vom Hotel entfernt ist, dass er sich ohne weitere Vorfälle aufregen kann.
"Hm?" Das Mausklicken im Hintergrund verrät ihm, dass sein bester Freund ihm gar nicht richtig zuhört, denn im Gegensatz zu ihm hat Jisung sich dem E-Sport verschrieben und verbringt dementsprechend ungefähr so viel Zeit vor seinem Computer wie Jaemin auf dem Fußballplatz.
"Ich hatte sowieso schon keinen Bock auf den Mist hier", platzt es aus Jaemin heraus, "weißt du, eine Woche mit einem oder zwei Idioten auf einem Zimmer war schon schlimm genug als Vorstellung, aber das– Wirklich, das ist die Krönung! Mir fehlen die Worte, Ji! Das ist ein– Ein totaler Reinfall! Scheiß doch auf das Geld, ich fahr nach Hause!"
"Dafür dass dir die Worte fehlen, hast du aber noch ziemlich viel zu sagen", murmelt Jisung, Jaemin erkennt das Quietschen im Hintergrund als das seines Schreibtischstuhls.
"Irgendwie muss ich ja an deine Aufmerksamkeit kommen, scheiß Suchti." Eigentlich ist Jisung der Letzte, den er so blöd von der Seite anmachen will, aber gerade kann er nicht anders. Er ist doch einfach nur wütend und will das irgendwo rauslassen, und dann wird ihm nicht einmal zugehört.
Aber Jisung weiß das und sagt deshalb nichts dazu. "Jetzt red schon weiter, was ist passiert?"
"Ich bin mit jemandem aus einem anderen Team in ein Zimmer gekommen", presst Jaemin zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, damit er es nicht über die Straße brüllt. "Und wir sprechen die gleiche Sprache, was leider heißt, dass ich ihn nicht beleidigen kann und so tun kann, als wäre es ein Kompliment."
"Entspann dich, Jaem. Kann doch nur besser werden als jemand aus deinem Team, oder?"
"Ach ja? Meinst du? Fucking Jeno Lee ist auch Fußballer, was erwartest du denn von meinem Leben, dass er auf einmal superlieb und ganz anders als neunzig Prozent aller Fußballspieler ist? Klar, Jisung, das ist total realistisch! Definitiv ist jemand, der Jeno Lee heißt und in seiner Fußballjacke und Adidas-Hose rumrennt, ganz anders!"
Jisung seufzt. "Okay, Jaemin, atme bitte mal tief durch und sag mir, was wirklich das Problem ist."
Jaemin bleibt an einem Metallzaun stehen, durch den hindurch er auf einen Fluss säumende Bäume blicken kann. Am liebsten will er durch sein Handy greifen und Jisung schlagen, boxen und treten – aber er atmet einmal durch, wie er gesagt hat, und noch ein zweites und drittes Mal, um wieder Kraft in seine Stimme zu bringen.
"Ich wollte doch sowieso nicht mit." Es klappt aber nicht so wirklich, da sie schon nach dem ersten Satz wieder bricht. "Nur weil meine Mutter das wollte und meine Trainerin mich überredet hat. Und ich hatte eh schon Schiss, weißt du, weil ich bei irgendwem ins Zimmer gesteckt worden wäre und einfach nur hätte hoffen müssen, dass es vielleicht noch– wer ist, dem es egal ist, aber– Ich kenn ihn nicht, ich kann ihn nicht einschätzen, und so supertoll, wie das bisher jetzt alles schon lief, wäre ich nicht überrascht, wenn irgendwer ihm das mit mir steckt und er–" Jaemin beißt sich fest auf die Unterlippe, damit sie aufhört zu zittern. "Ich will nach Hause, Ji."
"Ich weiß, Jaem." Das Sanfte in Jisungs Stimme fühlt sich an wie seine Hand in Jaemins Haaren, und der Ältere beißt noch fester zu. "Aber ich weiß auch, dass es jetzt gerade viel schlimmer ist, als es nachher sein wird."
"Du weißt gar nichts, Ji", flüstert Jaemin.
"Oh doch, ich weiß wie du bist. Und dazu gehört auch, dass du das zwar gehörig scheiße findest, aber wenigstens aus Trotz weitermachst, weil du nämlich ein verdammter Dickkopf bist."
Ein Lächeln huscht über Jaemins Gesicht. "Selber Dickkopf, du Arsch."
"Was denn? Hab ich Unrecht?"
"Nein." Jaemin schnieft. "Trotzdem wär's mir lieber, ich wär nicht hier."
"Ja, ich weiß. Und, Mann, das ist auch echt kacke. Aber du machst das Beste draus, und wenn's ganz schlimm wird, googel ich für dich, wie man einen gebrochenen Knöchel faket."
"Ich nehm auch einen echten in Kauf, wenn ich dann hier wegkomme", mault Jaemin zurück, "aber dann ist Mama nur wieder enttäuscht und darauf hab ich auch keinen Bock. Warum hast du mich überhaupt gehen lassen, Jisung Park?"
"Weil du eigentlich total Lust darauf hast, Jaemin Na. Darf ich dich an die Begeisterung erinnern, mit der du mir von diesem– Wie heißt er noch?"
"David Cup", murmelt Jaemin. "Weil sie es aus irgendeinem Grund für eine gute Idee hielten, eine Bibelgeschichte als Namensgeber zu nehmen, wo die Teilnehmer Jugendliche sind."
"Bei deinen Teammates könnte man aber echt denken, Teilnahmevoraussetzung ist strenger katholischer Glaube."
"Und bei mir denkt man dann wieder, wie zum Teufel bist du durch die Anmeldung gekommen?"
"Hier ist das aber ein deutliches Kompliment, Jaem." Jisung gähnt. "Na komm, ich will doch mehr Geschichten von deinem Zimmernachbarn hören, und das kann ich nur, wenn du aufhörst, mit mir zu telefonieren und wieder auf dein Zimmer zurückgehst."
"Ich will nicht", stöhnt Jaemin langgezogen, aber dreht schon um und schlurft Richtung Hotel. "Ich frag meine Trainerin, ob wir Zimmer tauschen können."
"Jetzt stell dich nicht so an. Du kriegst auch einen Jeno Lee in Vereinsjacke und Adidas-Hose mit deinem Charme von dir überzeugt."
"Klar." Jaemin ist da nicht halb so optimistisch wie Jisung, aber wenn er jetzt widerspricht, drehen sie sich nur im Kreis, und darauf hat er auch keine Lust. "Also dann, Ji. Ich meld mich bei dir."
"Hallo? Das Wichtigste fehlt doch noch! Du hast mir noch gar nicht gesagt, ob er hübsch ist!"
"Tschüss, Jisung", faucht Jaemin. Es kommt ein Lachen zurück.
"Ciao, Jaem!"
Schmollend schiebt Jaemin sein Handy zurück in die Hosentasche, denn Jisungs Frage war leider nicht unberechtigt: Vereinsjacken- und Adidas-Hosen-Jeno Lee ist nämlich wirklich hübsch.
↯
"Mark– Mark. Du hast mir noch nicht mal zu Ende zugehört!"
"Muss ich das überhaupt? Das kann ja nur besser werden!" Mark kann sich kaum halten vor Lachen, und wo Jeno vor zwei Minuten noch genervt war, steckt es ihn jetzt an.
"Halt die Klappe und hör mir zu."
"Okay, okay." Mark seufzt und lacht doch wieder los. "Nein, Mann. Mit einem Kissen– Das ist so geil!"
Jeno verdreht grinsend die Augen. "Er hat sich immerhin entschuldigt. Naja, und ich bin dann halt reingekommen und hab mir das zweite Bett reserviert, und ich glaube, er war eh schon angepisst von irgendwas – ich meine, er hat ja nicht aktiv nach mir mit dem Kissen geworfen–", und schon gackert Mark wieder laut los. Jeno muss lachen. "Mein Gott, bleib doch mal ernst!"
"Sorry", quiekt es durch die Leitung, "warte– ich mach mich stumm."
"Auf jeden Fall hab ich ihn gefragt, was er spielt. Weil der 'David Cup' ja nicht nur Fußball ist und er nur in diesem mintgrünen Hoodie gesteckt hat, aber er hat nicht geantwortet. Und ich war so, okay, dann führ ich halt das Gespräch weiter, und hab gesagt, dass ich Fußball spiel. Er war schon so auf dem Weg nach draußen und hat sich aber nochmal umgedreht und mich gefragt, wie ich heiße, und– Ich glaub, wenn ich dir das sage, stirbst du."
"Hau raus", Mark atmet tief ein, "ich bin für alles gewappnet."
"Ich hab's ihm halt gesagt. Und er einfach nur so, keine Ahnung, ich meine, wir haben uns gerade mal kennengelernt– Und er haut einfach Leck mich, Jeno Lee raus."
Mark bricht in Gelächter aus. "Leck mich, Jeno Lee", japst er, "oh mein Gott, ich sterbe wirklich. Leck–" Jeno findet, er klingt ein bisschen wie eine erstickende Möwe, aber er muss sich selbst auf die Seite drehen, weil das so ansteckend ist.
"Ich meine, wer macht sowas? Ganz im Ernst!"
"Leck mich, Jeno Lee! Das ist das Highlight der Woche, nein, des Jahres! Boah, ich liebe ihn!"
"Jaja." Grinsend fährt Jeno sich durch die Haare. "Und er sagt mir nicht einmal, wie er heißt."
"Vielleicht– Ich krieg keine Luft mehr." Also hört Jeno ihn eine Weile nur japsen, gluckst dabei selbst los, weshalb Mark einen nächsten Lachanfall bekommt.
"So, okay." Lange atmet er aus, hickst, seufzt. "Mint Boy ist ganz schön auf Krawall gebürstet, wie mir scheint?"
"Ja, mir auch. Ich weiß nicht, ich glaub nicht, dass er's persönlich gemeint hat." Jeno dreht sich wieder auf den Rücken und starrt an die Decke. "Aber was weiß ich, ich will mich auch nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Mal sehen, vielleicht taucht er ja auch nie wieder hier auf."
"Aber er muss doch nochmal Leck mich sagen. Oh Mann, meine Depressionen sind geheilt."
"Ich hab's doch verstanden." Er schließt die Augen. "Aber... Mann, ich weiß auch nicht. Eigentlich sollte ich ihn doch jetzt total unsympathisch finden, oder? Erst das Kissen und dann beleidigt er mich?"
Mark schnappt nach Luft. "Oh, du Schlingel! Er ist hübsch, oder? Umwerfend attraktiv!"
"Erstens, nenn mich noch einmal Schlingel und ich leg auf. Zweitens, ich hatte nicht so viel Zeit, ihn mir anzusehen, tut mir leid. Er hat braune Haare, aber ich glaub, das ist gefärbt."
"Deine auch, wenn ich dich erinnern darf. Fällt nur weniger auf."
Allein weil er das sagt, muss Jeno mit seinen dunkelblauen Strähnen spielen. "Ja, ist auch ohne Wertung gewesen. Seine Augen sind... ziemlich expressiv. Ich dachte, gleich trifft mich der Blitz, als er mich so wütend angesehen hab."
"Also ist er hübsch", schlussfolgert Mark mit einem so breiten Grinsen, Jeno kann es vor sich sehen. "Du hast seine Augen bemerkt, Jeno, hallooo. Du kleiner–"
"Ich leg auf", droht er erneut.
"Schlingel", flüstert Mark, und Jeno findet blind den roten Hörer. Gleich darauf kommt ein Pop-Up.
Tomatenmark 🍅
S C H L I N G E L
ER IST HÜBSCH ER IST HÜBSCH ER IST HÜBSCH
LECK MICH JENO LEE-MINT BOY IST HÜÜBSCH
🕺🕺🕺🕺🕺
Immer noch grinsend wischt Jeno die Nachrichten weg und steht schwungvoll auf, denn das Gespräch über seinen kuriosen Zimmernachbarn hat ihn daran erinnert, dass er noch ein Hühnchen mit Chenle zu rupfen hat.
25.07.2022
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