22 | Dornen im Herzen
Als sich die Tür zu meinem Krankenzimmer das nächste Mal öffnet, hätte nach meiner Vorstellung jeder hereinkommen können, doch um alles in der Welt nicht mein Vorbereitungsteam aus dem Kapitol. Mein seltsam nebelig gewordenes Gedächtnis braucht ein paar Sekunden, um überhaupt zu erkennen, wer dort vor mir steht. Mit großen Augen starre ich auf die drei Kapitolsbewohner, die mir, wenn auch größtenteils zu meinem Unbehagen, schon all die Jahre zur Seite standen.
Doch den dreien scheint im Gegenzug auch mein Anblick die Sprache verschlagen zu haben. Ihre Aufmachung bleibt jedoch so verrückt wie eh und je. Selyn und Jake sind beide in ein seltsam mintgrünes Ensemble gekleidet, die Stoffe ihrer Kleidung schimmern im ungemütlichen Neonlicht des Zimmers hell. Saphire thront in der Mitte der beiden, ihre dunkelblaue Haarpracht ist unverändert, und auch sonst steht sie ihrer Rolle als alljährlichen, übermütigen Betreuerin der Tribute aus Distrikt vier in nichts nach.
Bloß in den drei leuchtenden Augenpaaren sind so etwas wie Emotionen zu erkennen - etwas, das jeder im Kapitol zu verstecken lernt. Während Jake und Selyn entsetzte Blicke über meinen ganzen Körper wandern lassen, starrt Saphire mir geradewegs in die Augen. Etwas, was sie sonst nur selten tut.
Erst jetzt fallen mir die plumpen Koffer auf, welche die zwei Stylisten in ihren Händen tragen. Schnell schlussfolgere ich, dass sie wohl hierher geschickt worden sind, um mich nach all der Zeit in Gefangenschaft mithilfe von Make-up-Pinseln, glitzernden Haarklammern und einem prunkvollen Outfit wieder „schön" zu zaubern. Doch wofür? Warum um alles in der Welt sollten sie mich hier rausholen? Doch nicht etwa, um...
Weiter komme ich nicht. Denn zum ersten Mal seit der unangenehm eingetretenen Stille scheint sich zumindest Saphire gefangen zu haben. „Librae!" quietscht sie und klatscht versucht motiviert in die Hände. „Wie schön, dich wiederzusehen!"
Von dort an kommen ihr die typischen Kapitolsfloskeln wieder ganz leicht über die Lippen. Sie erzählt so viel, dass mir gar kein Platz für eine Frage bleibt und doch sind all ihre Worte völlig belanglos und verraten mir rein garnichts. Wie aus dem Nichts sind Jake und Selyn an meiner Seite. Binnen Sekunden lösen sie jegliche Fesseln von meinem Körper und freuen sich wohl darüber, dass ich mich ausnahmsweise mal ganz von selbst auf die Bettkante setzte und alles zulasse, was sie von nun an mit mir anstellen.
„Was habt ihr mit mir vor? Wo bringt ihr mich hin?" frage ich jedoch sofort, während die Stylisten ihre Koffer aufs Bett platzieren und unzählige Utensilien herausholen. Saphire, die noch immer an der Tür steht und ihren Kollegen bei der Arbeit zuschaut, setzt ein Lächeln auf. „Diese ganze ..." beginnt sie, und lässt einige vielsagende Blicke über das Krankenzimmer schweifen, „Sache ... hat dir eine Vorladung zum Präsidenten eingebracht."
„Wie bitte?" rufe ich entsetzt und reiße mich aus den Griffen von Jake und Selyn. Auf diese Reaktion scheinen sie jedoch vorbereitet gewesen zu sein. „Oh, bitte halte still, es ist sowieso besser, wenn du stehst." Entnervt schüttele ich den Kopf über die ignorante Ausdrucksweise der Stylistin.
„Keine Sorge.", piepst Saphire ein wenig nervös. „Ich werde dich begleiten."
„Aber wofür?", entfährt es mir sofort. „Sie haben mich wochenlang, ja vielleicht sogar monatelang hier festgehalten, ich weiß kaum noch, wer ich bin! Und jetzt soll ich all das einfach so hinter mir lassen und im Glitzerkleidchen zu Snow spazieren?"
Aus dem Augenwinkel sehe ich Selyns entrüsteten Gesichtsausdruck, doch dem schenke ich keine Beachtung. Ich kenne mein Vorbereitungsteam nach all den Jahren gut genug, um zu wissen, dass ich, wenn überhaupt, Saphire zum Reden bekommen kann. Also starre ich die Moderatorin weiterhin an und warte auf eine Antwort.
„Es handelt sich um eine reine Formalie, da bin ich sicher." stellt diese fest und zupft ein wenig nervös ihr Rüschenkleid zurecht. Mich beschleicht das Gefühl, dass sie mit ihren Worten nicht nur mich, sondern vor allem auch sich selbst beruhigen will.
„Wann?" frage ich.
„Sofort. Also, sobald wir dich wieder ein wenig in Form gebracht haben natürlich." kichert sie, doch mir ist ganz und garnicht zu Lachen zumute. Eine stachelige Dornenranke scheint sich um mein Herz zu wickeln. Von jetzt an bedeutet jeder Atemzug ein Stechen in der Brust.
Auf ein Treffen mit dem alten Tyrannen bin ich nicht im geringsten vorbereitet. In Snows Büro zitiert zu werden, heißt nie etwas Gutes, das habe ich gelernt. Das Letzte Mal ist zwar schon mehrere Jahre her und doch erinnere ich mich noch genau daran, wie der Präsident von mir verlangte, meinen Distriktpartner Jacek in den Spielen zu töten, um das Leben meiner Schwester zu retten.
Und obwohl ich auf seine grausame Abmachung sogar eingegangen bin und Jacek tatsächlich umgebracht habe, wartete zurück im Distrikt keine Aline auf mich. Snow hatte mich von Anfang an betrogen und das habe ich ihm bis heute nicht verziehen.
Während Jake mit irgendwelchen Werkzeugen an meinem Gesicht herumfummelt und Selyn mit meinen Haaren beschäftigt ist, versuche ich, Informationen aus Saphire herauszubekommen.
„Lassen sie mich danach endlich hier raus? Wartet Snow auf Irgendetwas, bevor er mich zurück nach Distrikt vier schickt? Bevor er mich endlich zurück nach Hause lässt?"
Schützend verschränkt Saphire die Hände vor dem Bauch.
„Unsere Anweisungen lauteten klar und deutlich, dass wir dich zum Präsidenten bringen, da er um eine Audienz gebeten hat. Mehr darf ich dir leider nicht erzählen, meine Liebe, sonst riskiere ich gar noch, meinen Job zu verlieren!"
Gespielt lacht Saphire auf und blickt mich hoffnungsvoll an.
„Aber du weißt mehr! Du weißt, wo all die anderen Sieger sind, du weißt, was mit Distrikt vier passiert ist, du weißt, wo meine Familie ist, du weißt, ob meine Kinder noch am Leben sind!" rufe ich entsetzt.
„Ich glaube nicht, dass der Präsident davon erfahren würde.", beginne ich auf ihre ausgebliebene Reaktion hin und werfe einen flüchtigen Blick auf die Überwachungskamera.
„Nicht, wenn du es ihm nicht sagst."
Den Mund zu meinem falschen Siegergrinsen verzogen lege ich einen Finger auf die Lippen, was Jake zurückschrecken lässt.
„Ich zumindest werde es für mich behalten."
Endlich wandert der Blick von Saphire noch einmal richtig zu mir. Hellblaue Augen, wie so viele Töchter des Kapitols. Kein Wort verlässt ihre Lippen. Sie bleibt also ein braver Schoßhund von Snow und das, obwohl ich dachte, dass sie sich in den letzten Jahren ein wenig verändert hat. Mit meiner Geduld am Ende, strenge ich mich an, meine Hände nicht zu Fäusten zu ballen.
„Hörst du dir eigentlich jemals selber zu, Saphire? Merkst du denn nicht, was für ein Unrecht uns allen hier zuteil wird? Deine Leute haben meine Eltern und meine Schwester getötet und mich in die Spiele geschickt. Deine Leute haben mir meine Tochter genommen. Deine Leute haben mich von meinem Zuhause verschleppt und mich hier Tag für Tag aufs Neue gefangen, festgehalten und auf Art und Weisen gefoltert, die du dir nicht einmal vorstellen kannst! Sie halten mich hier wie ein Tier in einem Käfig und ich weiß nichts, garnichts darüber, was in Panem geschieht! Ich weiß nicht einmal, ob meine Kinder, meine Frau noch am Leben sind und geschweige denn, ob ich sie jemals wieder sehe!"
Für einen ganz kurzen Moment sehe ich ein winziges Anzeichen des Sturms, der wohl in Saphires Inneren tobt, in ihren Augen aufblitzen, doch schnell hat sie sich wieder gefangen. Ihre perfekt gezupften Augenbrauen verschwinden beinahe unter ihrer Lockenpracht, so hoch zieht sie diese.
„Du...", beginnt sie mit bebender Stimme. „Du wagst es, frech zu werden?" Mit lautem Stampfen tritt sie ein paar Schritte auf mich zu. Den Zeigefinger anklagend erhoben setzt sie zu einer ihren üblichen Predigten an. Blitzschnell reiße ich mich endgültig von den Stylisten los und verschränke die Arme vor der Brust.
„Falls du es noch nicht gemerkt hast, Saphire...", ich spucke ihren Namen förmlich aus, „ganz im Gegensatz zu euch Kapitolern sind wir in Distrikt vier ein Team und halten zusammen. Und wenn du mir wirklich nichts Hilfreiches zu sagen hast, dann schlage ich vor, du haust ab, Selyn und Jake, ihr genauso! Falls ihr denkt, dass ihr immer noch die Kontrolle über uns Sieger habt, dass wir euch wie zahme Schoßhündchen gehorchen und all das tun, was ihr uns auftragt, dann irrt ihr euch! Und ob meine Familie tot ist oder lebendig, Distrikt vier wird sich nicht unterkriegen lassen!"
„Das werden wir ja noch sehen!" schnaubt Saphire. „Vergiss nicht, was ich in all den Jahren für dich und deine Tribute getan habe! Und außerdem - es ist auch egal, ob deine ... Atala tot ist oder nicht, genützt hat sie dir sowieso niemals etwas!"
Sie kreischt laut auf, denn in der nächsten Sekunde bin ich bei ihr und packe ihr Handgelenk.
„Noch ein Wort und du wirst es bereuen." zische ich.
Ich sehe die Furcht in ihren Augen aufblitzen, als würde sie sich daran erinnern, dass ich zwar abgeschwächt durch die Zeit hier in Gefangenschaft und bloß in Leinenkleidern vor ihr stehe, aber auch eine Mörderin bin, die in ihren Spielen Kinder getötet hat.
Schlagartig lasse ich ihr Handgelenk los und spüre Scham in mir aufwallen. Die Spiele sind ein Teil der Vergangenheit und ich würde ihr nie etwas antun, auch, wenn sie noch so schreckliche Dinge sagt. Einen Moment lang sehen wir einander stumm an.
„Sorg lieber dafür, dass unser Team wieder vollständig ist. Bring mich zu den anderen Siegern."
Bei diesen Worten ist die Schärfe aus meinem Tonfall verschwunden. „Bitte", setze ich fast schon flehend hinzu. „Du bist die Einzige, die hier etwas bewegen kann."
Saphires Unterlippe zittert leicht und selbst durch die dicke Schicht Make Up ist zu sehen, wie Hitze in ihre Wangen steigt. „Ich..." beginnt sie und ich sehe ihren flüchtigen Blick in Richtung Überwachungskamera, deren Licht noch immer rot blinkt.
„Entschuldige meinen Tonfall, meine Liebe. So redet man schließlich nicht mit einer Siegerin. Ich bin sicher, der Präsident wird dir mehr Auskunft geben können."
Und für einen ganz kurzen Moment sind ausnahmsweise alle Emotionen in ihrem Gesicht echt. Sie beugt sich ein wenig vor und flüstert dann mit leiser, kaum hörbarer Stimme: „Heute bei Sonnenuntergang werden die Wellen das Kapitol erreichen und dich zurück ins Meer ziehen."
Und ich bin nicht sicher, ob Angst ihre Stimme zittern lässt - oder Hoffnung.
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