21 | Unausgesprochenes


„Warum liebst du das Kapitol so sehr?" frage ich die Siegerin aus Distrikt zwei nach einer Weile nachdenklich.
Enobaria antwortet sofort.
„Ich liebe es nicht. Genau so, wie ich Distrikt zwei nicht liebe. Aber wir leben nun mal in diesem System. Wir haben nun mal die Hungerspiele. Man könnte seine Kindheit in den Distrikten überstehen und hoffen, dass man um alles in der Welt nicht gezogen wird, und dann den Rest seines Lebens in Armut verbringen. Oder aber man nimmt es hin, dass es so ist, trainiert für die Spiele und gewinnt. Danach ist es viel leichter, durchzukommen."

„Aber was, wenn es garnicht zu dieser Armut kommen müsste? Wenn wir garnicht jedes Jahr auf neue unschuldige Kinder und Jugendliche in der Arena sterben lassen müssten? Wenn es kein Kapitol gäbe, was alle Distrikte kontrolliert und unterdrückt?"

Enobaria saugt die Luft durch die Zähne ein.
„So ist es aber nunmal nicht, Vier. Vielleicht wird diese Zeit eines Tages kommen, aber..." brummt sie und blickt finster zu Boden. Ich richte mich auf und zum ersten Mal bringe auch ich meiner Gesprächspartnerin Verachtung gegenüber.

„Zeit, Zeit, ich kann es wirklich nicht mehr hören. Wie lange wollen wir noch warten? Bis wir alt und grau sind? Wie viele willst du noch sterben sehen? Hast du noch nicht genug? Wer waren sie, all deine jungen, toten Tribute? Jetzt Brutus, Gloss und Cashmere? Und Jinia? Meine Tochter, Jinia? Hunderte Messerstiche haben sie zerstochen, ein Junge hat sie getötet, ein Junge! Sie ist unter Qualen gestorben! Und für was? Für diesen Zirkus, der uns bis auf die Seele entblößt, uns vorführt..."

Zitternd vor Wut blicke ich Enobaria an. „Wie lange noch?" rufe ich ihr entgegen. „Wie lange noch? Wann ist es genug?"
„Olgivy, das..." versucht sie mich ein wenig verwirrt zu beschwichtigen, doch mein plötzlicher Zorn behält die Überhand.
„Sei still." zische ich genervt und vergrabe das Gesicht in den Händen, soweit das noch möglich ist. In meinem Hinterkopf melden sich mit stetigem Pochen Kopfschmerzen.

„Glaubst du denn, mir geht es anders?" wispert Enobaria nach einer Weile und ich blicke auf. Zum ersten Mal seit Minuten sieht man eine andere Emotion als Gleichgültigkeit in ihren Zügen.
„Aber jetzt irgendetwas zu probieren, wäre doch reiner Selbstmord! Und damit müsstest du dich doch bestens auskennen, was deine Tochter angeht." zischt sie.

Irgendetwas in meinem Unterbewusstsein flammt auf, doch die Erinnerung zurück an die Stunden, die ich mit Rosana vor der Leinwand verbracht habe, löschen es aus. „Wovon redest du? Jinia ist nicht auf diese Weise gestorben." zische ich.
Enobaria will etwas sagen, doch ich bin schneller.
„Was auch immer, ist auch egal. Jedenfalls möchte ich nicht die Hoffnung aufgeben. Denk an die Aufstände, denk an Katniss Everdeen, denk an das Ende des Jubeljubiläums! Wir sind bald am Ziel, Enobaria."

Mein Gegenüber schüttelt den Kopf. Ein kurzes Grinsen huscht über ihre Lippen.
„Du bist ja doch nicht das Weichei, als das ich dich in Erinnerung hatte, Olgivy. Du hast ja recht - wenn ich könnte, würde ich Snow hier und jetzt den Kopf abschlagen."
„Ich weiß" antworte ich.

„Dann sag mir bitte, dass du irgendeinen Plan hast. Egal, was. Die Mächtigen da draußen wollen ja offenbar nur zusehen."
Ich seufze. Wir haben einen Plan, und was für einen. Im Moment stehen die Distrikte stärker denn je Seite an Seite. Der Letzten Welle und den anderen Rebellen ist es gelungen, dem Spottölpel das Leben zu retten, und vermutlich setzten sie sie nun als eine Waffe gegen das Kapitol ein. In Distrikt dreizehn bereiten sich die Rebellen auf einen Krieg vor, vielleicht halten sie dabei ja irgendwie fest an meiner Idee, dass die Sieger die Bewohner, die Starken die Schwachen trainieren. Das ist mehr als irgendein Plan.

Und doch zögere ich, Enobaria das alles zu erzählen. Ihre letzten Worte haben mir gezeigt, dass hinter ihr vielleicht etwas mehr steckt als eine stumpfe Karrieretributin, ja vielleicht sogar auch eine Rebellin. Irgendwie. Und doch habe ich Angst. Angst, dass all das in sich zusammenbrechen könnte, wenn ich der falschen von der Rebellion erzähle. Und Enobaria könnte eine von ihnen sein. Das Risiko ist einfach zu groß.

Also seufze ich, und sage nur: „Ich weiß es nicht."
Enobaria scheint für eine kurzen Moment so, als wolle sie mir ein triumphierendes „Siehst du" an den Kopf werfen, doch dann klappt ihr Mund wieder zu. Mit einem Mal sieht sie trotz ihrer guten Verfassung beinahe schon ... müde aus.

Nach einer Weile tut sie mir beinahe schon leid, also erhebe ich erneut die Stimme.
„Hauptsache ist doch, dass wir denen, die wir lieben, ein besseres Leben ermöglichen können, oder? Bei mir zum Beispiel sind es die anderen Sieger, meine Familie, meine Kinder und Atala. Und bei dir?"

Mit einem Mal senkt Enobaria geschlagen den Kopf.
„Snow würde jetzt wollen, dass ich „Mavius Plinth" oder „Edward Townes" sage. Männer hier im Kapitol, an die er mich verkauft hat, genau wie bei euerem Finnick."

Betroffen lasse ich meine Schultern sinken.
„Überraschung -  er ist nicht der Einzige. Aber zumindest hat er zuhause jemanden, mit dem er wirklich zusammen sein kann, bei mir hingegen ... ach, vergiss es." murmelt Enobaria.

„Na red schon." antworte ich und tatsächlich erhebt die Siegerin daraufhin erneut die Stimme. Ihr entrinnt ein Seufzen.
„Du kannst dir vermutlich garnicht vorstellen, wie oft ich dich schon beneidet habe, Fischerin."

Ich hebe verblüfft die Brauen. „Du hast mich be-" Enobaria fällt mir ins Wort.
„Bild dir bloß nichts drauf ein. Ganz ehrlich, in puncto körperliche Fähigkeiten und Kampfskills bin ich dir meilenweit überlegen. Wenn du mir nicht glaubst, kann ich es dir beweisen, auf der Stelle. Aber du, du hast etwas viel Wertvolleres. Eine Frau, mit der du den Rest deines Lebens Seite an Seite verbringen kannst."

„Hast du denn wirklich niemanden in Distrikt zwei?" frage ich vorsichtig. Von Enobaria kommt ein spöttisches Kichern.
„Verdreh mir nicht die Worte im Mund. Da gibt es jemanden. Ja, ich liebe sie wirklich."
Ein wenig abwesend bohrt Enobaria ihren Blick auf den weißen Fliesenboden.

„Wie heißt sie?" frage ich nach einer Weile.
„Geht dich nichts an." zischt Enobaria, doch fügt kurz darauf hinzu: „Tut mir leid. Ist auch egal, wie sie heißt, oder wer sie ist, oder wie sehr ich sie liebe, für die Leute in Zwei zählt nur, dass sie eine Frau ist. Und ich auch. Du kannst dich glücklich schätzen, dass es bei dir zuhause anders ist, aber meine Eltern halten daran fest, dass ich eines Tages einen Mann heiraten soll. Am besten noch einen Sieger, oder zumindest jemanden, der reich und wohlhabend ist. Gegen jemanden aus dem Kapitol hätten sie vermutlich auch nichts einzuwenden. So schrecklich er auch sein mag. Für sie zählt nur, dass ich eines Tages Kinder bekomme, damit der Name unserer Familie weiterhin bestehen bleibt. Was ich wirklich fühle ist ihnen völlig egal. Und wenn ich ehrlich bin - mir mittlerweile auch."

Eine Weile lang ist es ganz still und ich beobachte Enobaria verstohlen aus dem Augenwinkel. Ich hätte nicht gedacht, dass hinter ihrer steinharten Fassade in Wahrheit jemand so verletzliches und verletztes steckt.

Ich habe mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, wie es für andere in Distrikt vier wirkte, dass ich mich damals in meine beste Freundin und nicht wie sonst so typisch in meinen besten Freund verliebt habe. Atala und ich bekommen zwar so gut wie immer komische und teils sogar verachtende Blicke zugeworfen, doch das scheint nun garnichts zu sein gegen das, was Enobaria soeben erzählt hat.

„Verkehrte Welt.", grummelt sie nach einer Weile und reißt mich aus den Gedanken.
„Finnick und mir kaufen sie unsere Beziehungen mit den Kapitolern sofort ab, genau so wie alle da draußen glauben, dass Katniss Peeta wirklich liebt. Die, die sich nicht lieben, spielen es aller Welt vor und die, die sich wirklich lieben, müssen es verstecken. Ich wette, jemand würde diese Geschichte feiern."

Darauf weiß auch ich dann keine Antwort mehr. Stattdessen findet Enobaria noch ein letztes Mal Worte, während sie noch einmal vielsagende Blicke über meine Fesseln und das Krankenzimmer schweifen lässt.

„Wie auch immer, Olgivy. Ich will garnicht wissen, was sie dir hier antun, sonst würdest du mir glatt noch leidtun. Und das kann ich mir nicht leisten." Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile richtet sich Enobaria wieder auf, strafft die Schultern, und scheint sich daran zurückzuerinnern, wie sie auftreten möchte.

„Ich bin aus Distrikt zwei, verdammt. Leben heißt Überleben. Also muss ich wohl weitermachen. Ich will ja nicht so enden wie du oder die arme Annie Cresta."

Mit hochgezogenen Brauen sieht sie mich noch ein letztes Mal an, dann will sie sich umdrehen und aus der Tür gehen - aber dann hält sie noch einmal inne. Ich sehe ihren Gesichtsausdruck nicht, da sie mir den Rücken zuwendet und daraufhin auch aus dem Raum geht - doch vorher hört sie mir noch ein letztes Mal zu. Ich erhebe die Stimme und sage:

„Es gibt einen Unterschied zwischen dem einfachen Weg und dem richtigen Weg."

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