20 | Unerwarteter Besuch
Wenn ich ehrlich bin, konnte ich Enobaria Golding noch nie gut leiden. Dabei hat mich der Fakt, dass sie eine klassische Karrieretributin ist, garnicht gestört - schließlich sind meine eigenen Freunde, Rivenna, Finnick und Sohail selbst welche - sondern vielmehr, dass sie das Kapitol geradezu zu vergöttern scheint.
Dazu kann ich mich noch gut an ihre Spiele erinnern. Sie hat genau elf Jahre nach mir gewonnen und ist und bleibt das komplette Gegenteil von mir. Ich habe noch lebhaft das Bild vor Augen, wie sie einem Tribut mit ihren Zähnen die Kehle aufschlitzt und sich somit einen riesigen Haufen an Bewunderern angesammelt hat.
Und als wäre das nicht schon genug, hat sich die junge Siegerin daraufhin direkt die Zähne zu noch messerschärferen Waffen umwandeln lassen. In dem Teil, den ich zuletzt von den 75. Hungerspielen gesehen habe, blieb sie ihrem Ruf als Karrieretributin treu und arbeitete Hand in Hand mit den anderen aus Eins und Zwei.
In den Jahren, in denen wir gemeinsam als Mentoren im Kapitol waren, war sie zwar nicht sonderlich unfreundlich zu mir, doch mehr als ein paar gehässige und abschätzende Blicke war ich ihr wohl auch nicht wert.
All das zusammen formt sie in meiner Ansicht eine Person, mit der ich eigentlich nur ungerne in einem weißen Krankenzimmer mitten im Kapitol eingesperrt sein will. Und trotzdem versetzt mich der Fakt, dass sie jetzt auf einmal vor mir steht, in helle Aufregung. Vermutlich könnte wirklich jeder in diesem Moment hereingekommen sein und ich würde das gleiche denken. Ich muss nach diesen ewigen Wochen in Gefangenschaft endlich einfach einmal ein anderes Gesicht als das von Rosana sehen.
Mit großen Augen beobachte ich die junge Siegerin, als sie die Tür ins Schloss fallen lässt und sich daraufhin mit verschränkten Armen an die Wand daneben lehnt. Sie mustert mich zunächst wortlos von Kopf bis Fuß, und das lässt mir Zeit, im Gegenzug auch sie genauer zu beobachten.
Enobaria sieht gut aus - wohlgenährt, athletisch, um die Beine trägt sie eine schicke Stoffhose und um den Oberkörper eine weiße Bluse. Ihr schwarzes Haar trägt die Siegerin in dem für sie typischen Hochzopf und auch sonst scheint es ihr körperlich an nichts zu fehlen. Keine Anzeichen dafür, dass das Kapitol ihr das selbe angetan hat wie mir.
Trotzdem bin ich so überrascht von ihrem plötzlichen Auftreten, dass ich kein Wort herausbringe. Da bin ich fast schon froh, dass es meinem Gegenüber leichter zu fallen scheint.
„Was haben sie denn mit dir angestellt..."
Es ist das Erste, was sie seit Ewigkeiten zu mir gesagt hat und den stets leicht vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme hat sie auch heute nicht verloren. „Ich... also..." stammele ich, doch daraufhin hebt Enobaria bloß unbeeindruckt die Brauen.
„Wie kommst du hierher?" kommt es im Gegenzug von mir, wie aus der Pistole geschossen. Mein Gegenüber verzieht ihren Mund zu einem Grinsen, bei dem sie es schafft, sämtliche scharf angespitzte Zähne zu zeigen. Der kurze erschrockene Ausdruck in meinem Gesicht scheint sie noch mehr zu amüsieren.
„Hier im Kapitol bedarf es nur an den richtigen, wie sage ich es - Beziehungen."
Mit einem Kopfnicken weißt sie auf die Kamera in der oberen Ecke des Krankenzimmers. Überraschenderweise blinkt ihr rotes Licht nicht mehr - sie zeichnet also nicht auf, dass Enobaria hier ist.
Ich schlussfolgere, dass ihr Auftritt also wohl weder geplant noch erlaubt war. Trotzdem scheint es sie aber jetzt hierher verschlagen zu haben. Warum? Enobaria scheint meine Gedanken zu kennen.
„Bild dir bloß nichts drauf ein, Olgivy. Ich war keineswegs auf der Suche nach dir, sondern nach anderen Siegern aus Distrikt zwei. Nicht, dass ich mich für ihr Schicksal interessiere, aber ... ich habe keine Ahnung, wo sie stecken und wer von ihnen noch am Leben ist. Die meisten werden bei dem Angriff auf die Distrikte getroffen worden sein, aber man hat mir gesagt, dass ein paar Sieger aus den Dörfern hierher gebracht wurden. Aber nun ja, wenn sich eine Gelegenheit bietet, soll man sie ja bekanntlich ergreifen."
Ein erneutes Mal mustert mich Enobaria mit einem beinahe schon scannenden Blick. Sie scheint wohl zu entscheiden, ob die Zeit, die sie mit mir hier verbringt, verschwendet ist. Ich muss sie vom Gegenteil überzeugen. Egal, was ich von der jungen Siegerin aus zwei halte, sie ist ein Beweis. Ein Beweis dafür, dass noch andere Sieger am Leben sind. Und das hat etwas zu bedeuten.
„Was ist mit den Spielen? Haben sie geendet, nachdem Everdeen das Kraftfeld zerstört hat? Hat man euch alle hierher verschleppt?" Enobaria stößt einen Laut aus, der halb Lachen, halb Knurren ist.
„Schön wär's. Ein paar waren so leichtsinnig, sich von den Rebellen rausholen zu lassen, nachdem das Kraftfeld zerbrochen ist. Keine kluge Idee, wenn man mich fragt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Kapitol ihr geheimes Versteck ausmacht und dann war's das endgültig mit den anderen."
„Wer?", frage ich sofort. „Wer wurde von den Rebellen aus der Arena gerettet?"
„Na wer wohl?", zischt mein Gegenüber. „Die Everdeen natürlich. Ach, und dazu Beetee aus drei und euer Schönling."
Finnick. Eine Welle der Erleichterung durchströmt mich und nimmt mir zumindest einen kleinen Teil der schrecklichen Angst, die mich in den letzten Wochen fast in den Wahnsinn getrieben hat. Trotzdem entstehen damit auch neue Fragen, viel zu viele für solch ein Gespräch.
„Und was tust du hier?", beginne ich und werfe nochmal einen flüchtigen Blick auf die Überwachungskamera. Ihr Licht bleibt aus.
„Haben die Ärzte dich auch ... also, behandelt?"
Ich wage es nicht, etwas anderes auszusprechen. Trotzdem scheint Enobaria zu ahnen, wovon ich spreche. Sie schüttelt den Kopf.
„Was denkst du denn. Ich bin keine Rebellin, so wie du, oder Johanna oder der armselige Mellark. Ich bin aus Distrikt zwei. Das Kapitol hat mich schon geliebt, bevor ich zur Siegerin wurde."
„Was soll das heißen?" frage ich vorsichtig. „Dass es uns in Distrikt zwei vergleichsweise schon immer viel besser ging als den anderen. Das Leben ist jetzt nicht unbedingt schön, aber wir haben immer genug von allem. Die Hungerspiele sind eine Ehre, und wer es schafft, zu gewinnen, den lieben die Leute bei uns, egal, was man getan hat."
„Aber das Kapitol wird dein Zuhause doch nicht etwa verschont haben in jener Nacht?" frage ich entsetzt. Enobaria schüttelt den Kopf, dass ihr langer Zopf hin und her fliegt. „In jener Nacht nicht, fortan aber schon. Wir sind der einzige Distrikt, den sie nicht regelmäßig mit Bombenladungen überraschen, weil wir uns den Rebellen nicht angeschlossen haben."
Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Damit sind die Kinder und Atala weiterhin in großer Gefahr - und vielleicht auch schon tot. Aber wenn es offenbar ein geheimes Versteck der Rebellen gibt ... vielleicht ist es ja Distrikt dreizehn? Die Letzte Welle hat doch mit ihnen zusammengearbeitet. Was ist, wenn meine Familie es womöglich geschafft hat, dorthin zu fliehen?
Gerade will ich den Mund aufmachen, da halte ich inne. Prüfend lasse ich meine Blicke über Enobaria schweifen. Ihren Worten nach zu urteilen scheint sie das, was das Kapitol den Distrikten angetan hat, zwar nicht zu unterstützen, doch ich habe keinerlei Ablehnung oder Hass in ihrer Stimme gehört. Es ist wohl besser, wenn ich ihr nichts von den Rebellen erzähle. Wer weiß, mit wem sie unter einer Decke steckt. Vielleicht hat Rosana sie auch insgeheim zu mir geschickt, um mir falsche Hoffnungen zu machen.
Trotzdem muss ich dem Glauben bleiben, dass dies nicht so ist. Mit einer anderen Siegerin zu sprechen, auch, wenn es Enobaria ist, ist eine Gelegenheit, die ich mich nicht entgehen lassen darf.
„Und was machst du dann hier?" frage ich schließlich und fange wieder den Blick in Enobarias haselnussbraune Augen auf. „Wenn sie dich nicht foltern, was hat Snow dann für dich vorgesehen?"
„Propaganda." tönt es von Enobaria sofort. Für einen kurzen Moment zuckt ihr Mundwinkel, als hätte sie etwas falsches gesagt, doch dann rückt ihre Fassade wieder zurück zu dem abschätzenden und undurchdringlichen Gesichtsausdruck.
„Ich muss Interviews geben, Reden halten, Szenen kommentieren, beinahe jeden Tag. Ich kann Flickerman schon nicht mehr sehen, seit Wochen hängt er mir Tag und Nacht am Hals. Da ist es gut, dass er vor ein paar Tagen endlich mal Peeta dazu verdonnert hat anstatt mich."
„Das soll also heißen, dass das Kapitol dir nichts antut, wenn du tust, was sie sagen?" flüstere ich ungläubig.
„Wenn ich sage, was sie sagen, das trifft's besser. Die Leute hier lieben mich, sie kaufen mir alles ab, was ich im Fernsehen über Zustände in den Distrikten oder über die Rebellen ausplaudere."
„Auch, wenn es garnicht stimmt?" frage ich im Gegenzug. Enobaria zuckt nur gleichgültig mit den Schultern.
„Mir ist es egal, Olgivy. Mal ehrlich, das sollte es dir eigentlich auch sein. Dann wärst du diese Dinger dort-", sie weist auf die ledernen Fesseln an meinen Händen, „schon längst wieder los."
Nachdenklich beobachte ich die Karrieretributin. Scheinbar uninteressiert spielt sie mit einer ihrer glatten Haarsträhnen, wohl in der Hoffnung, nonchalant und gleichgültig zu wirken. Und doch bekomme ich immer mehr das Gefühl, dass sie das nicht ist. Ich glaube ihr, dass sie nicht auf der Suche nach mir war, und doch muss es einen Grund geben, warum sie noch immer hier ist. Doch welchen?
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