19 | Weben
Verwundert lasse ich den Blick durch das Zimmer wandern. Bloß mein Atem ist zu hören. Konzentriert auf dieses vertraute Geräusch, versuche ich mich an das Geschehene zu erinnern. Mir scheint, ich müsste tot sein - und doch bin ich hier, atme, denke, lebe.
Jinia war wieder in der Arena - halt, nein, das war bloß eine Aufnahme. Ein wichtiger Unterschied. Ihre Spiele sind vorbei und das seit nunmehr als zwei Jahren. Trotzdem hat sich das, was ich gesehen habe, so seltsam nah und real angefühlt.
Mein Kopf dröhnt noch immer und scheint mir sagen zu wollen, dass etwas nicht stimmt. Und doch weiß ich nicht, was. Zögerlich lasse ich die Gedanken an Jinia zu. Aber nicht nur die schlechten Erinnerungen kehren zurück, sondern auch ganz langsam eine aus Jinias Kindheit.
Ich denke an die große Eiche zuhause, die in unserem Garten steht. Einmal im Jahr haben die Kinder dort eine Muschel aufgehängt, in der sie ihre Wünsche für die Zukunft aufgeschrieben und versteckt haben. Fast drei Jahre ist es nun her, dass ich die letzte gemeinsam mit Jinia aufgehängt habe. Ein paar Monate nach ihrem Tod habe ich mich getraut, sie zu öffnen. In ihrer feinen Handschrift standen Jinias Worte auf dem Pergament. Worte, die sie nie ausgesprochen und doch so oft gedacht hat.
Ich wünsche mir für meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde und die zwölf Distrikte einen neuen Frieden, der uns alle überdauern wird. Ich habe mir selbst versprochen, dass dieser Wunsch eines Tages wahr werden wird.
Müde reibe ich mir die Stirn. Diese Worte sind tief in mein Gedächtnis eingebrannt und vom Kapitol unberührt und ungesehen - und doch habe ich das Gefühl, dass sie nicht zu der Jinia passen, die sie in ihren Hungerspielen geworden ist.
Erneut flammt ein stechender Schmerz durch meinen Kopf - fast, als hätte ich zu viel nachgedacht. Aber es ist doch wahr, was ich denke - das, was ich gestern von Jinia gesehen habe, die Aufnahme, in der sie das kleine Mädchen am Füllhorn brutal tötet und sich daraufhin weiter ins Gemetzel stürzt...
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich kaum noch, welche die richtige Jinia ist. Jahrelang hatte ich sie Tag und Nacht an meiner Seite, habe sie aufwachsen und älter werden gesehen - und doch sagen die Aufnahmen, die sie mir zeigen, kein bisschen das Mädchen, was ich einst meine Tochter genannt habe.
Verzweifelt will ich mir die Hände vor den Kopf schlagen, doch durch den Druck an meinen Gelenken werde ich schmerzhaft daran erinnert, dass das schon lange nicht mehr möglich ist. Ich beschließe, bei den nächsten Aufnahmen, die Rosana mir zeigt, nach der Wahrheit zu suchen.
Seufzend lasse ich mich in das Kissen sinken. Wenn ich etwas habe, wofür es sich noch lohnt, weiterzuleben, dann sind es die Kinder, meine Geschwister - und Atala. Die Menschen, die ich liebe. Der Gedanke wärmt mein Herz. Ich habe die Hungerspiele überlebt - dann werde ich auch das hier überleben.
Diese neue Entschlossenheit wird jedoch mehr als einmal auf die Probe gestellt. Alle paar Stunden kommt Rosana herein und zeigt mir Jinias Spiele, wieder und wieder. Ich sehe erneut, wie sie das kleine Mädchen am Füllhorn tötet, dann folgen weitere Aufnahmen. Jinia stürzt durch die Arena, beinahe einem Karriero gleich, und stellt sich jedem Tribut gegenüber, der ihr in die Quere kommt.
Die ersten Tage in der Wüstenarena verstreichen und mit jedem Schritt, den Jinia über die sandigen Ebenen poltert, beschleunigt sich mein Herzschlag. In regelmäßigen Abständen schickt die „emotionale Beraterin" mir die kühle Flüssigkeit durch die Adern und damit werde ich zunehmend verzweifelter.
Ich kann es garnicht beschreiben, welche Emotionen alle in mir toben. Doch jedes Mal, wenn Jinias Gesicht auf der Leinwand erscheint, packt mich ein unkontrolliertes Zittern, mein Herz beginnt sich schmerzhaft zu verkrampfen und ich bekomme solche Angst, dass ich am liebsten laut schreien würde.
Ich weiß nicht, wie lange es so weitergeht - Tat für Tat verfolge ich Jinia in ihren Spielen, die Tage gehen schneller und schneller vorbei. Ich fühle mich wie in einem blassen Nebel eingehüllt, der mich dichter und dichter zu durchdringen scheint.
Ich versuche, mir die anderen Sieger vorzustellen, etwas ganz unabhängiges von Jinia. Fest klammere ich mich an diese letzte Glückseligkeit. Im Kopf beschwöre ich unseren Garten hinauf und bilde mir den Geschmack von frischen Erdbeeren auf der Zunge ein.
Ich rufe mir das Gefühl der kalten Erde unter den Fingern in die Erinnerung, genau wie das friedliche Summen der Insekten.
Überraschenderweise halte ich so die nächsten Aufnahmen durch - bis sich die 73. Hungerspiele schließlich ihrem Ende zuneigen. Die Angst vor dem, was geschehen wird, ringt in meiner Brust einen Kampf mit der Trauer.
Kurz ist es still, dann erwacht die Leinwand an der Wand des Krankenzimmers erneut zum Leben.
„Wir werden uns nun das Finale der Spiele anschauen.", erzählt Rosana und macht mich damit noch nervöser.
„Librae, ich wünsche mir von dir, dass du dir die Spiele genau ansiehst und versuchst, zu verinnerlichen, was Jinia zustößt."
Bei ihrer Formulierung läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter und als sie den Namen meiner Tochter sagt, zucke ich heftig zusammen. Was hat sie mir bloß angetan? Mittlerweile ist mein Gedächtnis so völlig zugenebelt, dass ich nichts anderes tun kann, als eisern auf die Leinwand zu starren.
Dort sieht man gerade einen Kameraflug über die Wüstenarena. Irgendwo in meinem Unterbewusstsein mischt sich Caesar Flickermans Stimme dazu, die kommentiert, was vor sich geht.
„Mein liebes Publikum, hier sind wir nun, in den allerletzten Minuten der 73. Hungerspiele. Nur noch drei Tribute sind am Leben: unser gewiefter Farmjunge Gray aus Distrikt zehn, der starke Wade Rankine aus Distrikt zwei und natürlich nicht zu vergessen: Jinia Olgivy aus Distrikt vier, die trotz ihrer Größe einer eiskalten Killerin in nichts nachsteht. Nun, genug der Worte, sehen Sie selbst, wie unsere Tribute die 73. Hungerspiele zu einem Ende bringen!"
Die Sprints von Gray und Wade zum Füllhorn werden nur kurz gezeigt, schnell ist Jinia Hauptziel der Kameras. Mit zugebissenen Zähnen stürzt sie auf das Füllhorns zu - und obwohl sie schnell rennt, scheinen ihre Bewegungen auch in dieser Aufnahme wie in eine warme, weiche Masse getaucht.
Jedoch wandelt dieses Bild sich schnell. Wie immer spüre ich, wie mir Rosana kalte Flüssigkeit durch die Adern jagt - und dann beginnt es. Der Bereich in meinem Hirn, der für die Angst zuständig ist, scheint wie auf Knopfdruck eingeschaltet und schon richte ich mich kerzengerade in meinem Bett auf.
Mein Herz pocht so schnell gegen meine Rippen, dass es schon fast wehtut. Keuchend verfolge ich, wie Jinia sich auf Wade und Gray stürzt, einen silbernen Dreizack fest in der Hand. Mit aller Kraft versuche ich, meine Emotionen in mir zu behalten, doch es fällt mir zunehmend schwerer.
Nicht nur mir gegenüber, sondern auch hinsichtlich Jinia. Die Art, wie sie erbarmungslos auf ihre zwei Gegner einschlägt, während deren rotes Blut sie bespritzt, schnürt mir die Kehle zu. Doch dann wendet sich das Blatt - ich reiße verzweifelt an meinen Fesseln. Trotz allem will, nein, muss ich zu Jinia retten. Ich kann sie nicht sterben lassen, nicht hier, nicht jetzt, nicht schon wieder!
Wade aus Zwei packt Gray aus Zehn am Hals und mit einem furchtbaren Geräusch ist sein Genick gebrochen. Sofort bricht der dürre Zehner in sich zusammen und in der Ferne ertönt eine Kanone. Dann stürzt sich Wade auf Jinia - und mein Herz bleibt stehen.
Mit einem kräftigen Schubs befördert er sie zu Boden, wo sie sofort mit dem Hinterkopf auf dem Stein aufkracht. „Nein!" kreische ich, doch dann ist es bereits zu spät. Wade tritt über Jinia, hebt sein Schwert - und bohrt es mitten in ihr Herz.
Ich schreie alles heraus, was ich noch in mir trage, doch nichts geschieht. Ich blicke direkt in die Augen einer Toten.
Und damit verabschiede ich mich endgültig von den Mädchen, das meine Tochter einst gewesen ist. Das Mädchen, das so gerne mit ihrer Mutter fischte. Das Mädchen, was zu singen, zu zeichnen und zu dichten liebte. Das Mädchen, das am Meer saß und Blumenkränze flocht. Das Mädchen, das in ihrer kleinen, heilen Welt zufrieden war und in Frieden lebte. Nun ist sie fort, für immer.
Das Mädchen, das ich dort auf dem eingefrorenen Bild auf der Leinwand sehe, mit dem Schwert in ihrem Herzen, ist nun jemand Neues, doch das ist in Ordnung. Bei dem Gedanken an Zuhause wird mir klar, dass ich trotzdem glücklich sein kann. Es gibt Sachen, für die es sich zu leben, für die es sich die Panik zu überwältigen lohnt.
Und dann lässt Rosana endlich von mir ab. Nach dieser Sitzung verschwindet sie - und kommt nicht wieder. Wie lange ich daliege, den Blick auf die Decke gerichtet, ist schwer zu sagen.
Der Nebel, inzwischen ein alter Bekannter von mir, lähmt meinen Körper, doch fortan nicht mehr meinen Verstand. Im Kopf habe ich mich eng zusammengerollt, eine dicke Decke um mein Bewusstsein gewickelt. Mags wäre stolz.
Bevor ich jedoch weiterdenken kann, nähern sich mit einem Mal Schritte. Neugierig richte ich mich auf und blicke zur Tür - ist es womöglich doch wieder Rosana? Oder die andere Ärztin, Dr. Gaul? Holen sie mich nun vielleicht endlich hieraus und bringen mich nach Hause?
Je lauter die Schritte werden, desto größer wird meine Hoffnung, dass es stimmt. Als sich die metallene Tür langsam aufschiebt, beuge ich mich neugierig vor. Im selben Moment kommt jemand herein - und mein Herzschlag setzt aus. Es ist kein Friedenswächter. Es ist keine Ärztin.
Es ist eine Siegerin.
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