18 | Flammen in der Dunkelheit

Die nächste Zeit verläuft quälend langsam. Ein Tag folgt auf den nächsten, vielleicht sind es irgendwann sogar Wochen, die ich eingesperrt und gefesselt in dem kahlen Krankenzimmer mit dem kühlen Licht verbringe. Immer wieder aufs Neue muss ich mir auf der Leinwand traumatische Erlebnisse anschauen.

Ich sehe meine Eltern und meine Verbündete in den Spielen sterben, mich selbst andere Tribute töten und auch den Moment, in dem Friedenswächter meine kleine Schwester Aline blutig schlagen. Es dauert - unzählige, schmerzhafte, schreckliche Stunden dauert es, doch irgendwann beginne ich, abzustumpfen gegenüber dem, was ich sehe. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, was schlimmer ist.
Einzig, wenn ich drei Mal am Tag etwas zu essen bekomme, zwischendurch das Badezimmer benutzen darf, oder doch noch irgendwie ein paar Stunden Schlaf bekomme, lässt mich die Foltermeisterin in Ruhe.

Das Einzige, was mich morgens noch dazu bewegt aufzustehen, ist der Gedanke an zuhause. Doch auch er bleibt kein Guter. Egal, was ich auch anstelle, die Ärzte im Kapitol verlieren kein Wort mehr über die Zustände in den Distrikten. Das Gespräch zwischen Rosana und ihrer Kollegin, welches ich mitgehört habe, bleibt ein Einzelfall.

Somit plagen die Vermutungen und Spekulationen mich jeden Tag mehr. Obwohl an sich vielleicht allerhöchstens ein Monat zwischen dem Angriff auf die Distrikte und dem Hier und Jetzt verstrichen ist, fühlt es sich an wie mehrere Jahre. Dazu bekomme ich immer mehr das Gefühl, das meine Erinnerungen an das Geschehene schrumpfen, je mehr Zeit ich in Gefangenschaft verbringe. Und somit bleibt mir nichts anderes übrig, als mich Tag für Tag mit den selben Fragen zu quälen.

Wo sind die Kinder jetzt? Wie geht es dem Rest meiner Familie? Wie sieht das Dorf der Sieger aus - und gibt es noch Anzeichen von Leben dort? Haben die Friedenswächter auch Atala verschleppt oder konnte sie vor ihnen fliehen? Soweit ich weiß sind die Spiele vorüber und ein paar der Tribute wie ich hier im Kapitol - doch was ist mit den restlichen Siegern? Was ist mit Giorgia, Marlim, Rivenna, Sohail, Finnick und Annie geschehen? Und vor allem - wann nimmt das hier ein Ende?

„Librae, bist du bei mir?"
Rosanas piepsige Stimme reißt mich auch an diesem Tag wieder aus den Gedanken. Erschrocken blicke ich auf und sehe jetzt erst wieder, was auf der Leinwand vor mir läuft. Eine Szene aus den 66. Hungerspielen, einem Jahr, in dem ich den Tributen als Mentorin zur Seite stand. Gerade stapft unser männlicher Tribut, ein dürrer sechzehnjähriger Karriero, durch den Tannenwald der Arena.

Er kehrt zu dem Lager unserer weiblichen Tributin zurück, die röchelnd in einer Blutlache auf dem Boden liegt. Er kniet sich neben sie in das weiche Moos. Ich keuche überrascht auf, als er ihre Hand greift. „Es tut mir so leid", wispert er seiner Distriktpartnerin kaum vernehmbar zu. „Du hast es gleich geschafft."

Blut quillt aus dem Mund des Mädchens und sie sieht ihren Mittribut an. Ich weiß noch genau, dass die zwei Kindheitsfreunde waren. Anstatt sie zu töten, hält der Junge ihre Hand, bis das Licht in den Augen seiner Freundin erlischt.

Der Schmerz macht mich darauf aufmerksam, dass ich heftig schluchze. Dieses Mal allerdings nicht wegen unserer toten Tributin, sondern wegen des Jungens, der genau wie so viele andere, zu sanft für diese Spiele war.

Rosana betrachtet mich scharf. „Was ist an diesem Tod anders?", fragt sie und klingt unverhohlen verwundert. Ich schaffe es nicht, ehrlich zu sein. Sie würde es eh nicht verstehen. „Mehr Blut" antworte ich knapp.

Sie nickt und lässt mich das Ganze ein weiteres Mal ansehen. Jetzt bin ich vorbereitet und behalte meine Emotionen wie durch ein Wunder in mir. „Ausgezeichnet!". ruft meine Beraterin und klatscht begeistert in die Hände.
„Dann können wir ja nun endlich zur nächsten Einheit übergehen!" verkündet sie vergnügt. „Fürs Erste war das alles, was sich in deinem Leben als Traumata herausgestellt hat."

Ich runzle leicht die Stirn, doch zum Glück scheint Rosana meine Gedanken nicht zu erraten. Sie hat ja recht - in den letzten Wochen haben wir wirklich alles durchgegangen, was mir in meinem Leben auf welche Art auch immer Schmerzen zugefügt hat. Alles, außer Jinia.
Misstrauisch beäuge ich die Ärztin, dessen hellblaues Haar mich mittlerweile in so manchen nächtlichen Albträumen verfolgt. War es laut ihren eigenen Worten nicht eigentlich Jinias Tod, der das Kernthema meiner Behandlung werden sollte?

„Kann ich nicht endlich ... gehen?" frage ich nach einer Weile.
„Nun, wir wollen nichts übereilen. Denn selbst von dir geht zurück in deinem Heimatdistrikt mittlerweile eine Gefahr aus, die das Kapitol nicht so einfach dulden kann. Aber keine Sorge - ich weiß schon genau, wie wir sie beseitigen."

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Das Lächeln in Rosanas Gesicht, als sie mein Zimmer das nächste Mal betritt, lässt nichts Gutes ahnen. Offenbar hat sie etwas Neues gefunden, mit dem sie mich foltern kann - oder festigen, wie sie es nennt. Obwohl ich den Prozess mittlerweile gewohnt bin, verfolge ich jede ihrer Bewegungen argwöhnisch.

Vor allem, als sie die Fesseln an meinen Gelenken erneuert, werde ich misstrauisch. Zuvor jagt sie mit eine Art Kabel in den Unterarm, das mit einem neuen Elektrogerät verbunden ist. „Was haben Sie vor?" frage ich sofort, doch Rosana tätschelt mir nur den Arm. Instinktiv ziehe ich ihn zurück, trotz der Fesseln an den Gelenken.

„Du wirst sehen. Zu Anfang wird es vermutlich ein wenig ungemütlich werden, aber keine Sorge, dieses Mal wirst du dich schnell an die Behandlung gewöhnen. Ich habe festgestellt, dass du nach den vielen Stunden Vorbereitung nun endlich bereit bist."
„Bereit wofür?" erwidere ich sofort. Rosana lächelt nur und ihre seltsam blauen Augen scheinen mich direkt zu durchdringen, als sie weiterspricht. „Für die Wahrheit."

Ohne mir noch Gelegenheit für eine weitere Frage zu geben, wendet Rosana sich ab und schaltet summend die Leinwand gegenüber vom Bett ein. Nervös sehe ich dabei zu, wie dort die Schemen einer Arena langsam sichtbar werden. Doch dieses Mal handelt es sich nicht um einen Dschungel, weder den aus meinen eigenen Spielen, noch um den aus dem Jubeljubiläum.

Ich spüre, wie irgendetwas Kaltes durch meine Adern fließt, doch ich achte nicht länger darauf. Denn im nächsten Moment begreife ich, was dort auf der Leinwand vor sich geht. Ich bin unfähig, wegzusehen, als die Kameras sie zeigen. Die dunklen, widerspenstigen Locken sind unverkennbar, die Haut hat den gleichen karamellbraunen Ton wie die meine und die Augen leuchten in zwei unterschiedlichen Farben. Jinia.

Ich schnappe heftig nach Luft, im selben Moment, als eine neue Ladung kalte Flüssigkeit durch meine Adern fährt. Doch meine Augen bleiben weiterhin felsenfest auf die Leinwand gerichtet. Die Kameras zeigen den Ring von vierundzwanzig Tributen, die in einem Kreis um das Füllhorn versammelt stehen und auf den Startschuss zu den 73. Hungerspielen warten.

Ich schluchze, noch bevor die Kanone ertönt und die Tribute aufeinander losgehen. Ich mache mich bereit für den elektrischen Schmerz, der mir sonst ja jedes Mal zugefügt wurde, wenn ich eine Reaktion gezeigt habe, doch überraschenderweise bleibt er dieses Mal aus.
Stattdessen spüre ich bloß, wie mir ein bisschen schwummerig wird. Vor meinen Augen verschwimmt die Leinwand ein wenig, doch seltsamerweise sehe ich Jinia weiterhin klar. Sobald der Countdown am Füllhorn vorüber ist, stürzt sie sich ins Gemetzel.

Irgendetwas in mir sagt, dass ich die Szene so schon kenne und doch scheint mein Unterbewusstsein gerade etwas völlig Neues dabei zu empfinden. Ich lehne mich ein wenig vor, um besser erkennen zu können, was vor sich geht, doch mein Kopf bleibt so nebelig.
Die Geräusche des Blutbads tönen in meinen Ohren - Schreie, Schwerter, die aufeinanderprallen und Tribute, die tot zu Boden fallen. Langsam sucht mein Hirn nach Jinia auf der Leinwand, bis es begreift, dass sie schon die ganze Zeit zu sehen ist.

Mit einem eisernen Zorn in ihrem Blicken stürzt Jinia vorwärts, ihre Schritte poltern auf dem sandigen Boden der Arena. Ich versuche, vorauszudenken, was als Nächstes geschehen wird, doch im selben Moment, als erneut etwas Kaltes durch meine Adern schießt, ist mein Kopf wie leergefegt.

Also bleibt mir nichts anderes übrig, als entsetzt auf die Leinwand vor mir zu starren. Mit jedem Schritt, den Jinia aus das Füllhorn zurennt, beschleunigt sich mein Herzschlag immer mehr. Den eiserne Zorn meiner Tochter habe ich so noch nie zuvor gesehen und er jagt mir mit einem Mal eine schreckliche Angst ein.

Keuchend richte ich mich auf und schüttele verwirrt den Kopf, doch das seltsame Gefühl bleibt. Ich sehe kurz hinab auf meine Hände, und sie zittern heftig. Wie in Zeitlupe richte ich meinen Blick zurück auf die Leinwand - im selben Moment, als sich Jinia dort auf eine kleine Tributin stürzt, das Mädchen aus Distrikt sechs.

In der Hand hält Jinia mit einem Mal ein gewaltiges Messer und im nächsten Moment - sticht sie damit auf das kleine Mädchen ein. Ich zucke heftig zusammen und horche in mein Inneres - doch da ist nichts. Keine Verwunderung über die Szene. Nein, im Gegenteil, was spielt mir mein Kopf bloß für einen Streich - ich kenne die Szene doch schon längst!

In der Aufnahme sehe ich Jinias Gestalt ihre Arme ausstrecken, doch ihre Bewegung scheint mir viel zu langsam, fast, als hätte sich die Luft in eine dicke, undurchdringliche Masse verwandelt. Trotzdem steckt die lange Klinge mit einem Mal direkt im Herzen von Jinias Gegenüber.

Den Kanonendonner höre ich fast garnicht mehr, denn mit einem Mal wird ein schriller Ton laut, den ich nicht ganz zuordnen kann. Hektisch presse ich mir die Hände auf die Ohren, so lange, bis ich begreife, dass es mein eigener Schrei ist, den ich da höre. Mit einem Mal realisiere ich, wie heftig mein Herz gegen meine Rippen hämmert und wie mir eiskalter Schweiß die Stirn hinabrinnt. Was ist hier los?

Ich starre zurück auf die Leinwand und blicke direkt in die Augen einer Mörderin. Jinias Augen leuchten gefährlich und sie verzieht die Mundwinkel zu einem gruseligen Lächeln. Voller Anspannung bohre ich meine Fingernägel tief in mein Fleisch, bis sich mein Blut mit dem der getöteten Tributin vermischt.

Die kleine macht erneut ihren letzten Atemzug, als Jinia ihren Speer in ihr Herz bohrt und alles verrät, was vorher einmal in ihr steckte. Wie in einem Spiegel sehe ich jemanden schreiend zusammenbrechen, bis ich begreife, dass es ich selbst bin.
Mit aller Kraft stoße ich die schreckliche Erinnerung von mir und kralle die Finger in die Unterarme. Ich klettere empor aus der tiefen Dunkelheit der Vergangenheit, und kämpfe blinzelnd um Orientierung. Heftig keuchend lasse ich den Blick durch das helle Zimmer wandern, dessen Umrisse sich langsam wieder vor meinen Augen abzeichnen.

Ich brauche einige Minuten, um meine Gedanken wieder ganz zu ordnen und um meine panische Angst unter Kontrolle zu bekommen. Mit letzter Kraft erinnere ich mich an die die Frage, die Atala mir immer stellt, wenn eine schreckliche Halluzination mich heimsucht.

Ganz fern, ganz leise höre ich ihre Stimme in meinem Kopf flüstern. „Ist es echt, Librae? Ist es wirklich geschehen?"
Voller Angst und Zweifel und mit einem rasenden Herzen denke ich nach. Die Erkenntnis bohrt sich wie Feuer in meine Gedanken ein. Dann antworte ich.
„Ja, das ist es."

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