17 | Glasscherben
Die Nacht über - zumindest glaube ich, dass es Nacht ist - werde ich in Ruhe gelassen. In meinem Zimmer ist es stockdunkel, bis auf das rote Licht der Kamera. Für einige Stunden lang liege ich in einem traumlosen Schlaf, doch trotzdem drängen sich gegen Morgen leise Stimmen in mein Unterbewusstsein.
Sie klingen ganz fern und doch nah, als würde ich sie von unter der Wasseroberfläche aus hören. Es sind zwei Frauen, die sprechen, und falls mir das Mittel, was sie mir gespritzt haben, nicht irgendeinen Streich spielt, scheinen sie nur ein paar Meter entfernt von meinem Bett zu stehen.
„Ja, sie hier ist nicht zu unterschätzen. Taffer, als ich es in Erwartung hatte."
Eine Weile lang ist es still und ich vermute, dass die Ärzte mich gerade beobachten. Also versuche ich, mich kein bisschen zu bewegen und meinen Atem gleichmäßig zu halten. Sie dürfen auf keinen Fall bemerken, dass ich nicht mehr im Tiefschlaf bin.
Eine andere lacht schrill. Ich meine, die quietschende Stimme meiner „Beraterin" Rosana zuordnen zu können.
„Na ja, sie ist nicht ohne Grund hier, Shine. Macht nicht weniger Arbeit als die anderen Sieger. Trotzdem bin ich froh, dass Montins mich nicht stattdessen der Krawallbürste aus Sieben zugeteilt hat. Das muss jetzt wohl Titania übernehmen. Das arme Ding. Für solche Aufgaben sucht sich der Präsident ständig junge Leute aus, frisch aus der Akademie."
Bei ihren Worten fühle ich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit etwas anderes außer Schmerzen und Müdigkeit - doch was? Angestrengt versuche ich, das Gesagte zu verarbeiten, doch mein Gedächtnis scheint noch immer völlig zugenebelt, als wäre es in Watte gehüllt.
Irgendetwas klappert und ich vermute, dass die zwei Ärztinnen mit irgendwelchen Geräten herumhantieren, die mich weiter foltern sollen, sobald ich aufwache. Also presse ich meine Augen noch fester zu und lausche weiterhin gebannt.
„Das soll aber wohl immer noch nichts sein, gegen das, was sie dem armen Peeta Mellark antun. Weißt du noch, was sie uns damals im letzten Semester über diese eine ganz bestimmte Psychologie gelehrt haben?" fragt die mutmaßliche Shine. „M-hm" tönt es von Rosana.
„Einweben, so hieß es doch. Sorgt dafür, dass sich der Patient durch eine ganz bestimmte Behandlung völlig verzerrt an etwas erinnert. Grausam, wenn man mich fragt. Da kann einem selbst der junge Mellark ein wenig leidtun."
„Du hast überhaupt nichts zu sagen, was das angeht, Shine. Willst du dich etwa gegen die Praktiken unseres Präsidenten stellen?" tönt es von meiner Beraterin in einem höchst vorwurfsvollen Ton.
„Nein, natürlich nicht..." antwortet ihre Kollegin flüchtig und danach ist es kurz still.
„Nun gut. Wäre auch höchst unangebracht, wo es doch deine Familie war, die diese Technik einst entwickelt hat, Shine. Es wäre besser, du beeilst dich hier jetzt, ich muss schließlich weiterkommen mit Librae."
Ein Zischen ertönt und Schritte entfernen sich, dann klingt es so, als würde eine Tür zufallen. Im selben Moment enden meine letzten Bemühungen, wach zu bleiben und der Schlaf übermannt mich erneut.
Erst nach Stunden bekomme ich wieder Besuch, dieses Mal erneut von der Ärztin mit den lila Haaren, die ich gestern schon kennengelernt habe. Bei ihrem Anblick atme ich erleichtert auf. Sie trägt ein Tablett in den Händen, auf dem eine dampfende Schüssel und ein Glas Wasser stehen.
Ein himmlischer Geruch steigt davon auf und mein Magen knurrt verräterisch. „Du bist bestimmt hungrig" sagt die Ärztin mit dem gleichen Lächeln wie bei unserer ersten Begegnung. Ich erkenne schnell, dass sie es war, die ich mit meiner Beraterin reden gehört habe.
„Ich dachte, ich bringe dir was aus der Kantine. Es gibt Besseres, aber es macht satt."
Dankbar nicke ich. Die Furcht der jungen Ärztin gegenüber ist für den Moment besänftigt. Was kann sie mich schon Schlimmeres antun als Rosana? Und dem Gespräch nach zu urteilen, scheint sie zumindest etwas mehr gesunden Menschenverstand zu besitzen.
Sie platziert das Tablett recht wackelig auf meinen Beinen und ich erkenne geradeso, dass sich Eintopf mit Gemüse in der Schüssel befindet. Speichel sammelt sich an dem Gummistück im Mund, das ich bereits vergessen habe.
„Lass mich dir helfen." Die Frau nimmt mir das Stück ab und dann - mein Herz macht einen Hüpfer - löst sie die Fesseln an den Händen. Am liebsten will ich gierig das Essen herunterschlingen, doch ich halte inne, aus Angst, dafür bestraft zu werden. Ich warte ab, was die Besucherin tut, doch sie setzt sich nur an mein Bett und sieht mich erwartungsvoll an.
„Magst du keine Suppe?"
Ich schüttele schnell den Kopf und greife mit zittriger Hand nach dem Löffel. Das erste Bisschen Suppe schmeckt himmlisch. Fast so gut wie das Essen am Ende eines anstrengenden Tages auf hoher See.
„Oh, wie furchtbar unhöflich von mir", sagt die Frau plötzlich. „Ich habe mich noch garnicht richtig vorgestellt. Ich bin Dr. Shine Gaul, aber du kannst mich gerne Shine nennen."
Aus dem Augenwinkel betrachte ich sie und frage mich, ob auch sie Menschen foltert. Ihr herzförmiges Gesicht und die strahlenden Augen wirken zu freundlich dafür. Andererseits geben sich auch Saphire und Rosana immer fröhlich - und arbeiten trotzdem für das Kapitol.
„Ich bin seit ein paar Jahren schon hier, bin nicht mehr ganz so frisch aus der Akademie." plaudert sie vergnügt weiter, als würde mir das irgendetwas sagen. Stumm löffle ich die Suppe, bis nicht einmal die kleinste Pfütze übrig bleibt.
„Danke" flüstere ich heiser. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit höre ich meine Stimme und erschrecke darüber, wie rau sie klingt. „Kein Problem," entgegnet Dr. Gaul. „Ich hab gesehen, du schlägst dich tapfer. Du hast es dir verdient."
Draußen auf dem Gang werden mit einem Mal Schritte laut. Ob das Rosana ist?
„Wann darf ich zurück?" frage ich schnell. Dr. Gauls Blick wandert an mir vorbei in Richtung Tür.
„Das ... bald, wenn du dich wieder so gut schlägst."
Ihre Stimme erscheint mir eine Spur höher als eben.
„Entschuldige, aber ich muss dich jetzt wieder festmachen, bevor deine Therapie weitergeht."
Nur widerwillig lasse ich zu, dass sie mich daraufhin wieder am Bett festkettet. Nach der frischen Brühe schmeckt das Gummistück umso widerlicher. Enttäuscht sehe ich Dr. Gaul hinterher, die eilig aus dem Zimmer schlüpft. Erst jetzt, wo sie weg ist, fällt mir auf, dass das rote Licht an der Kamera nicht mehr leuchtet.
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Es dauert eine Weile, bis Rosana auftaucht. Mit meiner Vermutung, dass eine Nacht vergangen ist, liege ich wohl richtig, denn sie trägt jetzt ein hellgrünes Kleid. Sonst hat sich jedoch nichts geändert. Sie nimmt am Bett Platz, zückt ihre Fernbedienung und die Leinwand erwacht.
Ich fürchte schon, erneut den Tod meiner Eltern zu sehen, aber stattdessen zeigt sie mir eine andere Szene. Eine Arena aus irgendeinem Jahr der Hungerspiele wird gezeigt. Noch kann ich sie nicht zuordnen. Heftiger Regen prasselt auf zwei Tribute ein, die am Ufer eines Sees stehen. Durch den Regenvorhang hindurch kann ich nur ihre Umrisse erkennen.
Den Spielmachern war wohl langweilig, wenn sie solch eine Wetterextreme hervorrufen. Ein Blitz fährt durch die Gegend und mein Herz schlägt schneller. Etwas daran kommt mir nicht richtig vor, nein, fast schon ... bekannt.
Und schon bevor der nächste Blitz die Szenerie beleuchtet, weiß ich, um welche es sich handelt. Wir befinden uns im Finale in den 51. Hungerspielen. Meinen Hungerspielen. „Nein" wispere ich beim Anblick des muskulösen Tributs, der einst mein Distriktpartner war. Sein blondes Haar ist von dem Regen ganz durchnässt und klebt ihm in der Stirn.
Seinen Dreizack hält er noch immer fest in der Hand, als er und die zweite Gestalt aus dem seichten Ufer des Sees hinausstapfen, welcher das Füllhorn umgibt. Obwohl ich diese Aufnahme so noch nie zuvor gesehen habe, weiß ich natürlich, was geschehen wird.
Mich selber zu sehen, Momente, bevor die Welt für immer zerbricht, ist ein eigenartiges Gefühl. Alles, was an diesem schicksalshaften Tag geschehen ist, ist felsenfest in meine Erinnerung eingebrannt, und trotzdem ist die Perspektive neu.
Ich bin unfähig, wegzusehen, als die Kameras erneut Jaceks Gesicht zeigen. Sein strahlendes Gesicht mit den eisblauen Augen erinnert mich so sehr an die Zeit vor diesen Spielen, als ich ihm und seiner Schwester das Leben gerettet habe.
Ich schluchze, bevor überhaupt etwas geschehen ist. Er hätte nie sterben dürfen. Selbst nach all den Jahren kann ich mir nicht vergeben, ihn getötet zu haben. In der Aufnahme sehe ich, wie meine Gestalt ihre Arme ausstreckt, nur für Sekunden, nicht für die Ewigkeiten, nach denen es sich anfühlte.
Mein altes Ich macht ihren letzten Atemzug, als sie ihren Dreizack direkt in das Herz ihres Verbündeten bohrt und alles verrät, woran sie jemals geglaubt hat. Wie in einem Spiegel sehe ich mich zusammenbrechen. Ich schreie wie ein verwundetes Tier, heute wie damals. Rosana und unsere Umgebung sind vergessen.
Eiskalter Regen durchweicht meine Kleidung, doch das ist egal. Vor mir liegt Jaceks Leichnam. Bleib bei mir, versuche ich zu flehen, doch es kommen keine Worte aus meiner Kehle. Er ist fort, einfach weg. Ich stoße die leblose Erinnerung an ihn von mir und kralle die Finger stattdessen in die Unterarme.
Ich will den Schmerz spüren, bohre die Fingernägel tief ins Fleisch, bis warmes Blut sich mit dem Regen vermischt. Vielleicht vergeht es dann. Ich presse meinen Kopf zwischen die Knie, um alle Geräusche zu vertreiben. Vielleicht hört die Welt auf diese Weise auf, sich zu drehen.
Doch das ist eine Lüge, gestrickt, um zu Überleben. Die Erinnerungen bohren sich wie Glasscherben in mein Herz, zerreißen es, und lassen mich verbluten. Und ich begreife: dieser Schmerz ist für immer Mein.
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