15 | Machtlos
Da ist Licht. Wie durch die Wasseroberfläche hindurch scheint es in mein dämmerndes Bewusstsein. Doch von wo kommt es? Ich habe das Gefühl, unter etwas Schwerem begraben zu sein. Irgendetwas hält mich zurück, aber die Neugier ist stärker. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den Nebel, der mein Inneres vom Licht trennt.
Stimmen flüstern mir zu, dass ich umdrehen soll. Sie locken mit dem Versprechen auf einen sorgenfreien, traumlosen Schlaf. Dennoch macht sich ein ungutes Gefühl in mir breit - irgendetwas stimmt hier ganz und garnicht.
Doch was? Ich habe keine Ahnung. Der Schlaf erscheint wieder so verführerisch und nur mit Mühe widerstehe ich dem Drang. Irgendwie schaffe ich es, meine schweren Augenlider zu öffnen. Unmittelbar blendet mich ein gleißend helles Licht. Für einen Moment sehe ich nichts außer weißer Endlosigkeit - und dann fluten die Erinnerungen zurück.
Ich war im Siegerdorf - ich habe nach Atala gesucht ... doch warum? Was war es, was ich ihr ihr sagen wollte? Unbeholfen starre ich in das schonungslose Licht der Neonröhre über mir. Warum belügt mich mein Gedächtnis?
Ich erinnere mich an Hovercrafts. Hovercrafts über unserem Zuhause ... ja, kurz nachdem die Übertragung aus der Arena abgebrochen und der gesamte Strom ausgefallen ist. Ich war bei Jan, und er hat mich durch einen unterirdischen Tunnel geschickt, hinauf ins Siegerdorf. Und dann?
Angestrengt suche ich nach der Wahrheit, doch ich kann einfach nicht sagen, was passiert ist. Wie ich hierher gekommen bin. Doch dann dringt eine einzelne Erinnerung aus der Flut an Bildern und Wortfetzen hervor. Friedenswächter. Weiß gerüstete, direkt aus dem Kapitol stammende Friedenswächter, die Atala gefangen genommen haben, bis ... bis ich mich ihnen stattdessen gestellt habe, damit sie freikommt.
Aber ist sie das? Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, wie sie sich auf einen Soldaten gestürzt hat - und dann scheint mein Gedächtnis wie in ein Stück Watte getunkt worden zu sein - weich, weiß, aber völlig leer.
Überwältigt liege ich da und starre an die grelle Decke. Ich spüre, wie sich stechende Kopfschmerzen ankündigen, fast so, als hätte ich zu viel nachgedacht. Doch weiterhin tauchen Gedanken in mir auf - Gedanken an einen Ort wie diesen. Damals, nach meinen Hungerspielen, war ich das erste Mal hier. Ein Krankenzimmer - mitten im Kapitol.
Ich will mich aufrichten, doch da ist ein Widerstand. Verwundert wende ich den Blick von der Zimmerdecke ab. Ein karger Raum, in Weiß und Grau gehalten, gelangt in mein Blickfeld. Neben dem Bett, in dem ich liege, stehen ein einzelner Stuhl und irgendein Gerät mit blinkenden Lichtern sowie seltsam aussehenden Schläuchen.
Das ist kein Krankenzimmer von Zuhause. Ich bin im Kapitol! Ich spüre, wie mein Herz heftiger zu schlagen beginnt. Panisch sehe ich mich um - doch es gibt keine Anzeichen, dass außer mir nich jemand hier ist. Doch irgendwer hat mich zumindest umgezogen, denn anstatt meiner weiten Stoffhose und der hellen Bluse von zuhause trage ich ein knielanges, weißes Hemd.
Meine Hand ruht auf dem Bett und ich versuche erneut, sie zu bewegen. Doch ein breiter Riemen am Handgelenk hält sie zurück. Ungläubig starre ich darauf, rüttle wieder. Ohne Erfolg. Mehr als wenige Zentimeter Bewegungsspielraum bleiben mir nicht. Rasch hebe ich die linke Hand, doch genau das Gleiche.
Man hat mich gefesselt! Die Erkenntnis treibt die Gedanken an das Geschehene aus meinem Gedächtnis wie eine Welle. Zuerst überlege ich, laut zu schreien. Aber die Chance, dass jemand es hört, ist wohl gering, der schweren Tür und den fensterlosen Wänden nach zu urteilen.
Und selbst wenn, wen würde das Geschrei anlocken? Friedenswächter? Die würden mir sicherlich nicht helfen. Im Gegenteil, sie waren es, die mich hierher geschleppt haben, auf welche Weise auch immer.
Ich prüfe, ob ich mich aufsetzen kann, erkenne jedoch, dass auch unter meiner Brust ein breiter Riemen gespannt ist, genauso über den Beinen. Offenbar bin ich dazu verbannt, wie ein Fisch auf dem Trockenen zu liegen und darauf zu warten, dass mich jemand erlöst.
So weit es mir möglich ist, hebe ich den Kopf. Mein Gefängnis ist bloß dieser klinische Raum, nur eine Tür gegenüber vom Bett vermag es zu öffnen. Doch sie hat keine Klinke oder einen Knauf. Ansonsten erkenne ich nur noch eine Kamera in der einen Zimmerecke, an der ein rotes Licht leuchtet.
Gut, dann wissen sie, dass ich wach bin. Ich sinke zurück ins Kissen und schließe die Augen, alleine mit meiner Angst. Was ist hier los? Ich bin unzählige Meilen von meinem Zuhause entfernt, dass zuletzt von Hovercrafts angegriffen wurde. Ich habe keine Ahnung, wo die anderen Sieger sind, wo die Kinder sind, wo Atala ist - oder ob sie überhaupt noch am Leben sind. Vermutlich ist es nur der Nachwirkung des Mittels, das sie mir gespritzt haben, zu verdanken, dass ich nicht davon überwältigt werde.
„Schon komisch, nicht wahr?"
Ich öffne die Augen. Auf dem freien Stuhl neben dem Bett sitzt mit einem Mal Lahela, das Mädchen aus Distrikt zwei, das ich in meinen Hungerspielen getötet habe und seitdem ein Geist aus meiner Vergangenheit.
Die dunkelhaarige Karrieretributin ist in die weißen Kleider einer Ärztin gehüllt und hält ein Klemmbrett in der Hand, wie es die Doktoren in Distrikt vier bei sich tragen. Anstatt mich anzusehen, kritzelt sie darauf herum, aber ich kann nicht erkennen, was sie schreibt.
„Immer wieder kann einen das Schicksal überraschen, obwohl man doch meinen sollte, dass man sich nach all den Jahren daran gewöhnt hat." Ihre Hand hält kurz inne und sie lächelt mich an, was mir einen Schauer über den Rücken jagt.
„Mein eigener Tod hat mich schließlich auch überrascht."
Ich wende den Blick ab und schließe wieder die Augen. „Warum nur habe ich das Gefühl, dass du dich nicht freust, mich zu sehen?"
Ein erneutes Kichern.
„Wäre mein Distriktpartner Cooper dir lieber? Ich kann gerne mit ihm den Platz tauschen."
„Lass mich in Ruhe.", bringe ich tonlos hervor. „Ihr beide."
Trotzdem bekomme ich Angst, dass ein rachsüchtiger Cooper hier auftauchen könnte, an einem Ort, wo ich mich weder wehren noch fliehen kann. Lahela war schon immer die Umgänglichere der beiden. Wenn man das überhaupt so sagen kann.
„Ich dachte mir, ich leiste dir Gesellschaft, wo du doch ganz alleine hier bist. Bevor dich die Einsamkeit noch in den Wahnsinn treibt."
Die grauen Augen, die die selbe Farbe haben, wie der Stein, an dem ihr Körper zerschellen ist, blicken mich undurchdringlich an.
„Danke, aber ich bin schon verrückt." antworte ich leise.
„Oh, daran zweifle ich nicht, aber es gibt noch ganz andere Arten, den Verstand zu verlieren. Sagen wir, man vergisst alles, was einem wichtig ist, oder wer man ist, oder wen man liebt."
Verstohlen sehe ich zurück zu Lahela, die mich noch immer prüfend betrachtet. „Soweit wird es nicht kommen." sage ich ihr. „Glaubst du wirklich, dass du das bestimmen kannst? Selbst die Erinnerungen, die ja nicht einmal mehr die Realität sind, überwältigen dich doch schon immer und zwingen dich, zu schreien."
Auch jetzt droht ein Schrei in meiner Kehle emporzusteigen, doch ich schlucke ihn herunter. „Atala sagt mir jedes Mal, was real ist und was nicht. Sie ist mein Anker." halte ich mit zittriger Stimme dagegen.
Lahela lächelt süß. „Und was ist, wenn sie verschwindet? Dich nicht mehr beschützen will?"
Ich schüttele den Kopf. „Das wird nicht passieren."
„Und doch ist sie jetzt nicht hier."
Angestrengt hole ich tief Luft, in dem Versuch, mich zu beruhigen. Vor meinem Inneren Auge sehe ich Atala, wie sie mich monatelang über die Letzte Welle belogen hat. Doch dann erinnere ich genauso, wie sie die Friedenswächter angeschrien hat, voller Wut und Sorge.
„Das wird nicht passieren, weil sie seit geraumer Zeit eine Rebellion hinter sich stehen hat."
Siedend heiß fällt mir ein, dass jedes Wort, das ich sage, mitgehört wird. Ich starre zu der Kamera, an der noch immer das rote Licht blinkt. Habe ich gerade all unsere Vorsicht zunichte gemacht? Nein - ich habe bloß von einer Rebellion gesprochen, nicht von der Letzten Welle. Dass es eine Rebellion gibt, weiß das Kapitol.
Trotzdem verkrampfen sich meine Muskeln angsterfüllt. Was wird das Kapitol trotzdem aus diesen Worten schließen? Werden sie es das Stammeln einer psychisch labilen Siegerin abtun? Ich hoffe es.
Lahela folgt meinem Blick.
„Du solltest auf deine Geheimnisse besser acht geben. Nicht nur Atala beschützt dich, sondern du musst auch sie beschützen. Und gib bloß nicht mir die Schuld!"
Stumm schüttele ich den Kopf, fest entschlossen, dass mir kein weiteres Wort über die Lippen kommt. Die Vision meiner einzigen Mittributin lächelt, als könnte sie Gedanken lesen. Was nur Sinn ergibt, denn sie lebt ja in mir drinnen.
„Vielleicht sollten wir lieber von etwas anderem reden? Zum Beispiel den Spielen?" Natürlich, die Hungerspiele. Das Jubeljubiläum. Für eine Weile habe ich es beinahe vergessen. Was ist in der Zwischenzeit alles passiert? Sind die Spiele weitergelaufen, nachdem Katniss das Kraftfeld zerstört hat? Konnten die Rebellen ihren Plan ausführen und sie und Peeta aus der Arena retten?
Lahela sitzt ruhig da und beobachtet mich.
„Ich weiß auch nicht mehr als du." sagt sie mit einem Schulterzucken. „Vielleicht sind die Spiele jetzt ja vorbei." überlege ich hoffnungsvoll. Was immer ihr Ausgang wäre, wenigstens würde es bedeuten, dass die Sieger sich nicht mehr gegenseitig umbringen müssten.
Außerdem kommt Finnick dann vielleicht nach Hause - sie können ihn ja nicht auf ewig hier festhalten. Je länger ich daran denke, desto stärker wird die Hoffnung, dass es wahr ist. Nachhause fahren und vergessen klingt traumhaft.
„Vergessen? Ich glaube nicht, dass sie das zulassen. Ganz im Gegenteil - Panem lebt weiter, Jahr für Jahr ... und so, wie du mich nicht loswirst, wirst du auch den Tod nicht verlieren. Immer wieder aufs Neue wirst du einen Liebsten sterben sehen. Kannst du das vergessen? Kannst du sie vergessen?"
Lahelas Lippen verziehen sich zu den grausamen Grinsen, das sie schon bei der Jagd in der Arena trug. „Irgendwann wird es euch zerreißen, so wie die Felsen mich zerrissen haben, ein Stücken nach dem anderen, bis nichts mehr übrig blieb, was meine Familie hätte beerdigen können. Und alles ist wieder deine Schuld."
„Nein", flüstere ich hilflos. Meine Hände sind zu Fäusten geballt und ich reiße an den Fesseln, doch sie geben kein Stück nach. Ich drücke den Kopf zurück ins Kissen und verschließe die Augen mit den Wunsch, dass Lahela verschwunden ist.
„Habe ich dir je erzählt, wie schmerzhaft mein Tod war?"
Reglos liege ich da und zwinge mich, keine Reaktion zu zeigen. Mit einem Mal werden auf dem Gang draußen Schritte laut - und dieses Mal sind es echte. Jemand kommt - aber ist es die Rettung oder wieder die Friedenswächter mit den eisernen Händen?
Ich reiße die Augen auf und starre in Richtung der verschlossenen Tür. „Sieht aus, als wenn du Besuch bekommst." Lahela lächelt mich noch ein letztes Mal an. Binnen eines Wimpernschlags ist jede Spur von ihr verschwunden - doch nicht die Angst in meinem Herzen.
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