14 | Jagd


Gerade rechtzeitig kracht die Tür zu und dämpft das Knallen der Gewehre. Trotzdem ist es so laut, dass ich mir die Hände auf die Ohren presse. Für einen Moment ist sogar die fremde Hand auf meinem Mund vergessen - doch dann stoße ich mit einem erstickten Schrei den Ellenbogen nach hinten.

Gleichzeitig trete ich dem Kerl auf den Fuß. Überrascht lockert er seinen Griff und ich nutze den Moment, um das zu tun, womit keiner rechnet. Ich lasse mich auf den Boden fallen. Eine schnelle Rolle später komme ich außerhalb seiner Reichweite wieder auf die Beine. Bereit, weitere Gegenwehr zu leisten, hebe ich die Fäuste. Zwar keuche ich doppelt so schwer wie der Fremde, doch ich werde kaum aufgeben.

Doch zu meiner Verwunderung lacht mein gegenüber mit einem Mal laut auf - und seine Stimme kommt mir bekannt vor. Draußen hageln die Schüsse auf die Straße, mir klingelt der eigene Atem in den Ohren und der Typ ... grinst?

In der nächsten Sekunde tritt der stämmige Mann ins Licht einer alten Deckenlaterne und im nächsten Moment lasse ich die Fäuste sinken. „Jan?" bringe ich mit schwacher Stimme hervor, immer noch ungläubig, dass der Anführer der Letzten Welle so plötzlich vor mir steht.

„Fuck, du hast's ja echt drauf. Schätze, du has' nicht aus Zufall gewonnen..." 
„Ganz recht" erwidere ich schrill und ärgere mich darüber, dass meine Stimme noch immer zittert. „Weißt du, wo-" Weiter komme ich nicht, denn draußen knallt es erneut und dieses Mal kann ich den Schrei nicht innehalten. Beide Hände über den Ohren kauere ich mich zusammen - wie damals, als das Krachen des Donners den Schuss übertönte, der meine Eltern tötete.

„Fuck!" höre ich Jan wieder rufen. Schweren Schrittes kommt er zu mir hinüber, das Gewehr hat er über die Schulter geworfen. „Hör zu, Librae", dringt er auf mich ein. „Ich weiß nicht, was du hier tust, aber du musst weg - sofort!"

„Die Kinder! Willow, Rayam, Alani - sie sind noch irgendwo hier draußen, ich muss sie warnen! Die Hovercrafts-"
„Hovercrafts?" tönt es erschrocken von dem Rebellenanführer.
„Habt ihr sie nicht gesehen?" antworte ich. Jan packt mich an den Schultern.
„Wo? Wann? Wie viele?"
„Drei", stoße ich hervor. „Eben erst. Sie kamen über das Siegerdorf geflogen..."

„Verdammt!" Schon lässt er wieder von mir ab und rauft sich die Haare. Nicht lange allerdings.
„Du musst hoch, die anderen Siegern warnen. Auf euch wird es das Kapitol abgesehen haben. Wir halten hier die Stellung."
Im selben Moment prasselt erneut ein Donner von Schüssen draußen auf die Straßen nieder.

Ich schüttele heftig den Kopf. „Ich kann nicht. Nicht, solange ich die Kinder nicht gefunden habe." Panisch blicke ich in die dunklen braunen Augen des Rebellenanführers mir gegenüber, doch mit einem Mal grinst er. „Sie sind in Sicherheit."

Anstatt mir die Gelegenheit für eine Frage zu geben, greift er mein Handgelenk und zieht mich hinter sich her. Doch trotzdem sprudelt es mit einem Mal aus mir heraus. „Was? Was heißt in Sicherheit? Wo sind sie? Hast du sie gesehen?"

Wir kommen in einem dunklen Bootsschuppen zum Stehen, in dessen hölzernem Boden ein dunkles Loch klafft. Eine grobe Holzleiter führt in die Tiefe, darüber lehnt halboffen eine Holzklappe. „Was ist das?" keuche ich. „Die alten Versorgungstunnel" erwidert Jan grimmig. „Ein anderer Teil des Reiches der Letzten Welle. Unser Reich."

Er drückt mir eine schwere Taschenlampe in die Hand. „Halt dich rechts und dann immer geradeaus. Zähl bis zur sechsten Treppe. Dann bist du gleich am Fuß des Siegerdorfs." stellt er fest.
„Aber ich will nicht ins Siegerdorf!" rufe ich aufgebracht. „Ich muss die Kinder finden, wer weiß, was ihnen schon passiert ist..."

Jan seufzt erneut und seine Augenbrauen bilden einen Strich. „Ich hab deine drei gesehen. Vor etwa 'ner halben Stunde, kurz nachdem die Übertragung abgebrochen is'. Sie haben natürlich mitbekommen, wie schnell sich der Markt geleert hat, und wollten wieder zurück zum Siegerdorf. Aber Seema hat sie abgefangen, weil sie wusste, dass es deine sind. Hat sie in einen der Tunnel geschickt, zusammen mit ein paar anderen Kindern. Dort sind sie in Sicherheit."

Obwohl ich noch immer zittere, fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. „Das ist großartig, danke. Wenn du sie siehst - sag ihnen, sie sollen dort bleiben, bis wir sie abholen. Ich sage Atala und den anderen Siegern Bescheid und dann kommen wir gemeinsam zu ihnen."
Jan nickt. „Alles klar. Dann mach du dich am besten direkt auf den Weg." brummt er und weist auf den Einstieg zum Tunnel unter uns.

„Du kommst nicht mit?" frage ich. „Kann nich'. Ich muss die anderen warnen. Müssen unseren Plan irgendwie ändern."
Meine Hand mit der Taschenlampe zittert bereits verdächtig und ich beiße mir auf die Unterlippe. „Danke..."
„Lauf, Librae."

Und ehe noch etwas geschehen kann, drehe ich dem Rebellenanführer den Rücken zu und verschwinde in der Dunkelheit. Später wird es mir unbegreiflich sein, doch in diesem Moment kenne ich nur den Weg vorwärts. Ich denke nicht einmal daran, was in den unterirdischen Tunneln lauern könnte. Ich renne einfach. Vorbei an fünf Treppenaufgängen, unheimlichen Schatten und dem Quieken von Ratten. Weiter, immer weiter, bis ich die Luke finde, von der Jan gesprochen hat.

Mit beiden Händen stoße ich die Klappe auf und steige sofort hinaus in die Nachtluft. Schnell erkenne ich, dass ich tatsächlich bloß einige Meter entfernt von dem Hügel auftauche, der hinauf zum Siegerdorf führt. Gut verborgen unter einer dicken Sandschicht habe ich die Klappe im Boden in all den Jahren noch nie bemerkt.

Nervös lasse ich meine Blicke über das Siegerdorf schweifen, während ich mich aufrichte. Völlig ruhig liegen die steinernen Villen da, fast so, als wäre nichts geschehen. Und doch macht sich erneut ein seltsames Gefühl in mir breit - irgendetwas sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt. Doch was?

Vorsichtig schleiche ich den Grashügel hinauf, der mittlerweile nur noch vom silbernen Mondlicht beschienen wird. Bald sind die vordersten zwei Häuser, die zu Mags und Rivenna gehören, nur noch wenige Meter von mir entfernt. Nervös blicke ich durch die dunklen Fenster, in der Hoffnung, vielleicht einen der anderen Sieger dort zu erkennen, doch nichts.

Einige Sekunden lang schleiche ich bloß den hell beschienenen Weg zwischen den Siegerhäusern vorbei. Dass niemand mehr hier ist, bedeutet ja vielleicht auch etwas Gutes - was, wenn die Rebellen auch Rivenna, Sohail, Annie und Atala in die Tunnel geschickt haben? Sind sie womöglich schon alle in Sicherheit?

Ein Schuss knallt durch die Luft, so laut, dass ich heftig zusammenzucke. Sofort blicke ich in die Richtung, aus der er gekommen ist - und dann gefriert mir das Blut in den Adern. Hinter dem letzten Siegerhaus in der Reihe treten im nächsten Moment mehrere Friedenswächter hervor, allesamt bis auf die Zähne bewaffnet. Doch ich erkenne schnell, dass es keine Soldaten aus dem Distrikt sind, nein, die hier stammen direkt aus dem Kapitol.

Doch das ist es nicht, was mir Angst einjagt. Das ist Atala. Atala, die inmitten der Soldaten gefangen ist. Einer von ihnen drückt seinen Arm mit der harten Rüstung so fest um ihre Mitte, dass sie sich anscheinend keinen Zentimeter bewegen kann. Entsetzt sehe ich in das kreidebleiche Gesicht meiner Freundin - und dann entdeckt sie auch mich.

„Librae!" kreischt sie, bevor ihr einer der Friedenswächter mit einem heftigen Stoß in die Magengrube gebietet, still zu sein. Einige Sekunden stehe ich dort wie gelähmt, doch dann bricht es aus mir heraus.
„Lassen Sie sie sofort los!" rufe ich, während ich mutig ein paar Schritte auf die gerüsteten Soldaten zutrete.

Doch darauf scheinen die Diener des Kapitols vorbereitet zu sein. Wie auf ein geheimes Kommando ziehen sie gleichzeitig ihre Gewehre und richten sie direkt auf mich. „Keinen Schritt weiter." brummt einer der Friedenswächter durch seinen dunklen Helm hindurch. „Wir lassen sie erst frei, wenn Sie mit uns kommen." Obwohl sein Gesicht verdeckt ist, spüre ich, dass er mich direkt ansieht.

„Nein, Librae, nein! Hör nicht auf sie, du musst fliehen!" ruft Atala so schnell wie möglich und erntet dafür einen noch heftigeren Schlag. Trotzdem lässt sie sich nicht beirren. „Lauf! Bring dich in Sicherheit!" kreischt sie und ihre blauen Augen funkeln voller Verzweiflung.
Doch ich bewege mich keinen Zentimeter. „Lasst sie frei", sage ich mit so starker Stimme wie möglich.
„Ihr könnt mich festnehmen, aber erst, wenn ihr Atala laufen lasst." „Nein" schreit Atala im Gegenzug, doch daraufhin schlägt ihr einer der Friedenswächter so heftig ins Gesicht, dass Blut aus ihrem Mund rinnt.

Im nächsten Moment schreiten zwei der Friedenswächter auf mich zu und ich bleibe stehen. Die zwei Soldaten positionieren sich so um mich, dass eine Flucht kaum möglich ist, doch bevor mich einer der zwei packen kann, hebe ich die Hand.
„Halt! Der Deal war, dass ihr sie freilasst! Na los!" rufe ich dem Tross Friedenswächter zu, der die blutende Atala noch immer festhält. Einige Sekunden lang macht noch immer keiner von ihnen Anstalten, sie gehen zu lassen, doch dann nickt der größte Soldat, offenbar ihr Anführer. „Tut, was sie sagt." befiehlt er seinen Kollegen und diese gehorchen.

Im nächsten Moment lassen sie endlich ab von Atala und sie stolpert einige Schritte vorwärts. Keine Sekunde später packen die zwei Soldaten mich von beiden Seiten. „Lauf weg!" rufe ich Atala zu, doch die macht keine Anstalten, mir zu gehorchen.

„Die Kinder sind in Sicherheit, Jan wird dir sagen können, wo sie sich befinden! Nimm Rivenna, Sohail und Annie mit und jeden anderen Bewohner, den du auf dem Weg finden kannst. Sie sind an einem Ort, den ich erst seit ein paar Wochen kenne. Du weißt, wovon ich spreche. Bitte, Atala!" rufe ich ihr zu.

Die blauen Augen leuchten voller Verzweiflung. Hin - und Hergerissen blickt Atala zwischen mir und den Siegerhäusern um uns herum umher. Doch dann scheint sie einen Entschluss gefasst zu haben. „Ich werde dich nicht erneut dem Kapitol überlassen!"

Im nächsten Moment kommt sie auf mich und die Friedenswächter, die mich gefangen halten zu, die Fäuste geballt. „Nein, Atala, lauf!" rufe ich ihr zu, doch dann wird meine Stimme plötzlich von dem Brummen eines Flugzeugs übertönt.
Ich blicke nach hinten und werde von den Lichtern eines riesigen, schwarzen Hovercrafts geblendet, was wenige Sekunden später direkt hinter uns auf dem breiten Sandweg landet. Während die Turbinen noch immer einen Höllenlärm veranstalten und meine Haare in der Luft wirbeln lassen, öffnet sich im Bauch des Hovercrafts eine eine enorme Luke, die bald auf dem Boden aufkracht.

Doch mir bleibt keine Zeit mehr, noch irgendetwas zu tun, denn im nächsten Moment schreiten auch die letzten Friedenswächter neben mich und schon werde ich in Richtung Hovercraft gezerrt. Die Soldaten packen mich so fest, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihnen zu folgen.

Bloß aus dem Augenwinkel sehe ich Atala, die uns hinterherstürmt und sich auf die Friedenswächter stürzt. Ich schreie ihr etwas zu, doch der Turbinenlärm übertönt meine Stimme vollkommen. Doch nicht die ihre. Ihr schmerzerfüllter Ruf nach mir tönt zu mir durch, selbst, als wir im Hovercraft angekommen sind und sich die eiserne Luke zu schließen beginnt.

Und das Letzte, was ich sehe, ist wie eine Gruppe Friedenswächter aus dem Distrikt auf Atala zustürmt, sie jedoch schneller ist und sich im nächsten Moment auf sie stürzt. Und dann schließt sich die Klappe endgültig und der Blick auf mein Zuhause wird durch eine eiserne Wand ersetzt. Noch bevor ich irgendetwas tun kann, spüre ich etwas Kaltes, Spitzes an meinem Arm.
Und dann umhüllt mich Dunkelheit.

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