07 | Die Letzte Welle
Atala und ich steuern auf das das Bug des alten Fischerbootes zu, welches einst meiner Familie gehört hat. Eigentlich dachte ich damals, ich würde es nie wiedersehen, doch mittlerweile kommen wir oder die Kinder immer immer hierher, wenn wir unseren Gedanken freien Lauf lassen müssen.
Bis auf die Spuren der Zeit sieht das alte Schiff immer noch aus wie aus meinen kindlichen Erinnerungen. Meine Füße führen mich die schmale Planke hinauf auf das Deck und ich spüre Atala dicht hinter mir. Das alte Holz knarzt unter unseren Schritten. Geistesabwesend lasse ich meine Finger über die Reling schweifen. Es war nie ein besonders hochwertiges Schiff. Nichts im Vergleich zu dem, das ich mit mit meinem Siegerlohn gekauft habe, und doch hat dieses etwas besonderes an sich.
Meine Eltern haben es sich damals hart erarbeitet. Eines Tages hätten meine Geschwister und ich es erben sollen - doch dann kam alles anders. Trotzdem bin ich auf eine seltsame Weise dankbar, dass die Flying Feather noch immer genau so wie früher an ihrem Platz am abgelegenen Ende des Hafens liegt.
Schnell lassen Atala und ich uns an unserem Lieblingsplatz nieder, dem Bug des klapprigen Schiffes. Ganz sanft bewegt sich das Boot im Wellengang. An seiner Unterseite ist die ursprüngliche rote Farbe beinahe schon ganz abgeblättert.
Im Hafen um uns herum sind erst wenige Fischer von der Ernte zurückgekehrt. Viele arbeiten nicht, da es zumindest heute keine Pflicht ist. Eine Weile lang beobachten wir schweigend den Wellengang in der Ferne. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Atala mit düsterer Miene an den Horizont starrt.
Mitfühlend lege ich ihr einen Arm auf die Schulter. „Tut mir leid wegen Finnick. Er ... er hat sich wirklich gut vorbereitet. Es ..." beginne ich, doch Atala schüttelt kaum merklich den Kopf. „Schon gut", brummt sie. „Damit hab ich mich längst abgefunden. Er und Mags sitzen schon im Zug ins Kapitol und es gibt kein zurück mehr. Das ... das ist es nicht."
Eine Weile lang blicke ich sie ratlos von der Seite an. Schon seit längerem scheint ihr irgendetwas auf dem Herzen zu liegen. Und jetzt, da ich vor einigen Wochen ihr nächtliches Gespräch mit Finnick verfolgt habe, weiß ich, dass es etwas gibt, was sie mir verschweigt. Trotzdem habe ich sie seitdem in keiner Weise darauf angesprochen. Was auch immer es ist, es wird einen Grund geben, warum Atala mit der Verkündung auf sich warten lässt. Doch mittlerweile ...
„Librae?" fragt sie plötzlich und reißt mich aus den Gedanken. „Ja?" Atala seufzt, doch richtet ihren Blick nun direkt auf mich. Sofort treffen mich die ozeanblauen Augen, in denen ich ertrinken könnte. Doch ich erkenne sofort, dass Sorge in ihnen liegt. „Ich muss dir etwas erzählen. Etwas, das ich dir schon viel zu lange verschwiegen habe. Etwas, das einiges verändern wird. Ich glaube, der heutige Tag ist der richtige dafür. Aber vorher musst du mir etwas versprechen."
Einen Moment lang sehe ich sie fragend an. Sie hat noch nie irgendetwas vor mir geheim gehalten. Wenn es etwas gab, egal wie schmerzhaft und unangenehm es auch war, hat sie nie gezögert, damit auf mich zuzukommen. Eine der Eigenschaften, die ich bis heute unheimlich an ihr schätze.
Und doch scheint etwas Größeres nun zwischen uns zu liegen. Ich habe ja vor ein paar Wochen einige Wortfetzen darüber gehört, über irgendetwas, das mit Distrikt dreizehn und Jinias Tod zutun hat. Vorstellen kann ich mir trotz aller Spekulationen aber nichts darunter. Doch ich vertraue Atala blind. So blind, dass ich ihr auch in den Tod folgen würde. Also sehe ich wieder zu ihr auf.
„Du musst mir versprechen, dass du zuhörst. Bitte. Es ... Es wird schwer zu verarbeiten sein und daher musst du mir versprechen, zu warten, bis die ganze Geschichte erzählt ist." Ihre Stimme klingt so ernst, dass ich zunehmend nervös werde. Was hat sie mir nur verschwiegen? Und warum sollte ich ihr nicht zuhören?
Doch ich muss es wissen. Und wenn es nur auf diese Weise funktioniert, dann ist es so. Also hole ich noch einmal tief Luft, dann nicke ich Atala zu. „Einverstanden."
Wenn man mich fragen würde, wie ich mir eine Rebellion in Distrikt vier vorstellen würde, dann gälten all meine Gedanken heruntergekommenen Bootsschuppen in den Ausläufern des Hafens, in denen geheime Treffen in Arbeitspausen abgehalten werden. Fabrikarbeiter und die ärmsten Bewohner des Distrikts träfen sich in zerrissenen Kleidern und mit einfachen Holzspänen bewaffnet, ständig auf der Flucht vor den Friedenswächtern. Ein verzweifeltes Handeln, allein aus brodelnder Wut geboren.
Nichts davon trifft zu. Atala führt mich zunächst wortlos zu einem schicken Stadthaus, nur ein paar Querstraßen vom Versammlungsplatz entfernt, der inzwischen wieder menschenleer ist und auf deren Bühne anstatt uns Siegern nun wieder ein Galgen platziert ist.
Das Haus, vor dem wir stehen, ist dreistöckig und seine gesamte Fassade in einem beruhigenden Dunkelblau gestrichen. Die hölzernen Fensterläden sind mit bunten Blumen bestückt und ein paar Wäscheleinen sind zwischen ihnen aufgehängt. Eine große Muschelschale neben der Tür informiert Besucher darüber, dass hier Familie Marinova wohnt.
Kein Name, der mir etwas sagt. Dafür vermute ich, dass Kinder dort zuhause sind, denn auf dem Türschild entdecke ich lauter kleine Fingerabdrücke, die mit Farbe in die Muschel gedrückt wurden.
Bevor ich Atala auch nur irgendetwas fragen kann, betätigt sie den Klingelknopf neben der Haustür. Das helle Glockenläuten hören wir selbst durch das massive Holz hindurch, genau so wie die näherkommenden Schritte. Kaum geht die Tür auf, ragt eine stämmige Frau hindurch, vermutlich ein paar Jahre älter als Atala und ich. Ihre dunklen Locken kräuseln sich beinahe genau so wild wie meine in alle Richtungen und sie trägt trotz der späten Uhrzeit noch immer ein feines Kleid, vermutlich noch von der Ernte.
Irgendetwas an ihrem Gesicht kommt mir bekannt vor. Vielleicht habe ich sie vor einigen Monaten schon mal unter den vermummten Aufständlern am Hafen gesehen. Sie nickt Atala respektvoll zu, doch bei meinem Anblick zieht sie misstrauisch die Augen zusammen.
Doch bevor sie jedoch etwas sagen kann, meldet sich Atala mit gesenkter Stimme zu Wort. „Schon gut. Librae gehört zu mir. Ich hab es viel zu lange auf mir sitzen lassen, sie dazuzuholen. Der Kompass mit den Koordinaten war ursprünglich für sie bestimmt, das wird dir Jan versichern können."
Noch immer flammt Misstrauen in den grünen Augen der mutmaßlichen Ms. Marinova auf, wenn auch etwas weniger als vorher. Sie macht einen kleinen Schritt und ich fürchte schon, dass sie die Tür zuschlagen wird, doch dann tritt sie zur Seite. „Kommt rein."
Sobald sich die Tür hinter uns schließt, umarmen mich Wärme und Geruch des fremden Hauses. Alles strahlt eine Gemütlichkeit aus, die ich selbst von unserem prächtigen Siegerhaus nicht kenne. Es ist zwar riesengroß und voller Platz, doch erst die vielen Bilderrahmen, Kerzen und Bücher haben es zu einem Zuhause gemacht, indem wir und die Kinder uns wohlfühlen können.
Nur der Fernseher, der im Nebenraum mit dem Kapitolprogramm läuft, bricht auch hier das Wohlgefühl. Anstatt von den Unruhen im Land zu berichten, schwärmt Caesar Flickermans Stimme momentan noch immer über die ein paar Stunden zurückliegende Ernte und darüber, welche Sieger für die jeweiligen Distrikte ausgewählt wurden.
Doch mir bleibt keine Zeit mehr, das fremde Haus oder gar den Fernseher zu beobachten, denn schon ergreift Atala mein Handgelenk und wir folgen der Eigentümerin in die Küche. „Ich bin übrigens Seema. Mein Onkel ist Marlim Waterston, aus ihrer Siegergemeinschaft müssten Sie ihn kennen, Librae." erzählt sie währenddessen. Jetzt wird mir klar, warum mir Ms. Marinova so bekannt vorkam. Sie ist von ihren Gesichtszügen beinahe das Ebenbild unseres zweitältesten Siegers. Ihm hat sie vermutlich auch das große Haus zu verdanken.
Doch bevor ich weitere Fragen stellen kann, öffnet Seema eine Klappe im Küchenboden. Ein Gemüsefach, das über und über mit verschiedenen Lebensmitteln gefüllt ist. Die stämmige Frau hebt den gesamten Korb jedoch leichthändig heraus und schon wird der Blick auf eine zweite hölzerne Klappe frei.
Kaum ist sie geöffnet, blicken wir in Dunkelheit. Ein kühler, modriger Geruch und der ganz ferne Duft von Salz steigt aus der Finsternis. „Nicht gerade einladend, ich weiß", sagt Seema und lächelt mit zum ersten Mal zu. „Aber die alten Höhlen an den Klippen sind fast alle eingestürzt und von den Tunneln am Stadtrand will ich garnicht erst anfangen. Es ist nirgend sicherer als dort unten."
Sie gräbt zwischen den Kartoffeln umher und holt schließlich eine Taschenlampe heraus, ehe sie sie Atala in die Hand drückt. Ich werfe ihr einen nervösen Blick zu, und sie ergreift daraufhin meine Hand. „Alles wird gut. Du wirst sehen."
Keine Sekunde später schaltet sie die Taschenlampe ein und zwängt sich durch die Öffnung im Gemüsefach. Ich kann ihr nur mit Mühen folgen, da die Wände ziemlich dicht an meinen Schultern sind. Jemand wie Finnick oder Sohail würde hier nur schwer hindurchpassen.
Trotz der Taschenlampe empfängt mich bloß Dunkelheit. Atalas Hand ist das einzige, an das ich mich klammern kann. Der Lichtstrahl trifft auf kahlen Stein und je tiefer wir hinabsteigen, desto intensiver wird der Geruch nach Salzwasser und Algen. Obwohl Atala sicheren Schrittes voranschreitet, habe ich Angst vor dem, was auf uns wartet.
Was, wenn wir von Friedenswächtern entdeckt werden? Oder uns dort unten doch verirren? Gibt es hier überhaupt einen anderen Weg hinaus? Bis eben wusste ich nicht einmal von der Existenz dieser Tunnel, und nun sollen mich inmitten ihrer Dunkelheit Rebellen erwarten.
Ich weiß nicht, wie lange wir stumm dem Gang folgen, bis in der Ferne endlich ein Licht aufleuchtet. Während wir näherkommen, gesellen sich auch Stimmen dazu. Aber nicht nur das - von der Tunneldecke hängen plötzlich Schnüre hinab, an die kleine Muscheln geknüpft sind. Hätte Atala mich nicht vorgewarnt, währe ich prompt mit dem Kopf dagegen gestoßen. Eines muss man den Rebellen schon mal lassen - sie bedenken alles bei der Sicherung ihrer Treffen.
Nun deutlich vorsichtiger folge ich Atala, die ihren Lichtstrahl zielstrebig auf die Ferne hält und weiter sicheren Schrittes voranschreitet. Meine Hand lässt sie dabei trotzdem nicht los.
Zusätzliche Fallen oder Warnsysteme erwarten uns zum Glück nicht mehr, dafür öffnet sich der Gang plötzlich zu einem größeren Raum hin, aus dem uns warmes Licht entgegenstrahlt. Doch bevor wir hineintreten, packe ich Atala am Arm. Sofort fährt sie herum und das Licht der Taschenlampe erhellt ihr Gesicht.
„Was erwartet mich dort drin?" frage ich mit zittriger Stimme. Ein wehmütiges Schmunzeln bildet sich um Atalas Mundwinkel und sie haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Dann drückt sie meine Hand ganz fest. „Eine Welle, Librae. Die Letzte Welle, die das Kapitol ein für alle mal überrollen wird."
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