03 | Hochverrat
Die Tour der Sieger kommt und geht. Ein ganz normaler Tag - nur, dass ein Haufen Friedenswächter sich vor dem Siegerdorf postiert und jegliche Bewegung von uns beobachtet.
Bloß im Fernsehen können wir einen Teil der Tour also verfolgen, doch selbst Alani, die mit ihren elf Jahren noch kaum Siegertouren gesehen hat, merkt, dass etwas nicht stimmt. Der Festplatz ist wie jedes Jahr reich geschmückt, doch die Reihen der Zuschauer sind dünner als sonst. Katniss und Peeta tragen ihre Reden vor - steif und bloß abgelesen von den Karten in ihren Händen. Das einzige, was noch irgendwie daran erinnert, dass die zwei menschlich sind, sind Katniss flüchtige Blicke hinüber zu der Familie unseres weiblichen Tributs. Katniss war es, die unseren Schützling durch das Jägerwespennest getötet hat.
Der restliche Winter zieht dunkel an uns vorbei. Stürme peitschen über die See und daher gibt es für Atala und die Kinder wenig zu tun. Wir verbringen viele Stunden im Haus, wo es zumindest warm und geborgen bleibt. Es sind selige Momente, wenn der Regen an die Fenster prasselt.
Es ist ein kühler Morgen im Januar, als wir irgendwann doch alle zusammen draußen im Garten sind. Schon seit Tagen schneit es unaufhörlich im Distrikt und so sind jegliche Pflanzen um uns herum von einer dicken weißen Schicht bedeckt. Obwohl ich direkt vor unserer Haustür damit beschäftigt bin, ein wenig Schnee von den Treppenstufen und dem Weg zu entfernen, höre ich die Kinder im Hintergarten.
Es wärmt mein Herz, sie nach so langer Zeit endlich mal wieder ausgelassen lachen zu hören. Ich kann es zwar nicht sehen, doch so wie es klingt, liefern sich Willow, Rayam und Alani eine heftige Schneeballschlacht. Ich stelle die Schaufel für einen Moment an der Hauswand ab und lasse mich erschöpft auf die oberste Treppenstufe sinken. Gedankenverloren beobachte ich die vielen weißen Flocken, die unaufhörlich vom grauen Himmel fallen.
Es erinnert mich ein wenig an den letzten Winter, in dem meine Eltern noch gelebt haben. Es war beinahe genauso kalt wie jetzt und doch sind jegliche Gedanken daran von ganz warmer Natur. Meine Geschwister und ich haben stundenlang im Schnee vor unserer kleinen Felsenhütte gespielt und weil es so kalt war, mussten unsere Eltern an diesem Tag nicht arbeiten und konnten gemeinsam mit uns im Garten das Schneetreiben genießen. Es war ein harter Winter, wir hatten kaum zu essen - doch wir hatten einander.
Ich merke erst garnicht, dass mir eine Träne die Wange hinabläuft. Erst, als Atala das Gartentor hinter sich schließt und daraufhin zu mir kommt, tauche ich aus der Erinnerung wieder auf.
Sie hockt sich vor mir auf die Stufen und ergreift meine Hand. Meine Finger sind kalt, doch sobald sie ihre berühren, werden sie ein Stückchen wärmer. „Ist alles in Ordnung?" fragt Atala sanft und streicht mir behutsam eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich nicke. „Hab nur gerade an ... früher gedacht. Als meine Eltern und Aline noch da waren und wir genauso viel Schnee hatten wie heute."
Atala lächelt wehmütig und setzt sich schließlich zu mir. Sanft zieht legt sie ihren Arm um mich und für eine Weile lang genieße ich wortlos ihre Anwesenheit. „Erinnerst du dich noch daran, wie du dich damals im Schneetreiben versteckt hattest, um Nale und mir einen Streich zu spielen und wir Stunden damit verbracht haben, dich zu suchen?" fragt sie.
Ein Schmunzeln huscht über meine Lippen. „Oh ja, das weiß ich noch. Du warst völlig am Ende." grinse ich sie an und Atala hebt die Brauen. „Am Ende? Ich hab mir bloß ein wenig Sorgen gemacht, okay?" lacht sie und boxt mich neckend in die Schulter. „Schon gut, schon gut." murmele ich, doch kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Langsam nähert sie sich meinem Gesicht und schon berühren sich unsere Lippen. Jegliche Kälte um uns herum wird mit einem Mal von einer prickelnden Wärme umhüllt. Es ist ein geborgenes Gefühl - Atalas sanfte Hand in meinem Haar, ihr beständiger Herzschlag an meiner Brust und ihre warmen Lippen auf den meinen.
Erst, als ein unbeholfenes Räuspern ertönt, lösen wir uns wieder voneinander und sehen auf. Mein Herz macht einen Satz, als ich direkt vor unserem Gartentor zwei junge Friedenswächter ausmache. Mit ihren blanken Rüstungen sind sie im Schneetreiben kaum zu erkennen, doch die dunklen Waffen in ihren Händen sprechen Bände. Stocksteif stehen sie da und bohren ihre Blicke in Atala und mich.
„Was ist los?", zischt sie und ergreift meine Hand. Die Friedenswächter starren uns immer noch wortlos an. „Noch nie zwei küssende Frauen gesehen oder was? Ganz ehrlich, so arrogant wie ihr Soldaten euch immer gebt, könnte man meinen, ihr hättet schon alles gesehen. Aber glaubt mir, nicht jede Frau im Distrikt steht auf euch Feiglinge." fährt sie wutentbrannt fort und richtet sich auf.
Endlich scheint sich zumindest einer der jungen Soldaten gefangen zu haben. „Ja ja, schon gut." Fast schon abwehrend hebt er die Hände. „Wir sind auf Befehl von Snow hier. Sollen jedem Sieger mitteilen, dass heute Abend um 19:30 Uhr Pflichtprogramm im Fernsehen herrscht, sehen Sie dann auf jeden Fall zu."
„Keine Ausnahmen dieses Mal.", fügt der zweite hinzu. „Es geht um eine große Ankündigung." Ich kann regelrecht hören, wie Atala neben mir die Brauen hochzieht. „Pflichtprogramm?" fragt sie unbeeindruckt. „Das ist aber reichlich kurzfristig..."
„Sagen Sie das nicht mir." bellt der Friedenswächter. „Informieren Sie lieber auch ihre Nachbarn." Bevor Atala erneut den Mund öffnen kann, nicke ich. „Vielen Dank für die Information. Schönen Tag Ihnen noch." sage ich zu den Soldaten gewandt und daraufhin stapfen sie weiter.
„Das sollte doch deren Aufgabe sein." zischt Atala und schüttelt entnervt den Kopf. Doch meine Gedanken sind längst woanders. „Pflichtprogramm...", hauche ich. „Denkst du, was ich denke?"
Atala wendet ihren Blick endlich ab und sieht zu mir. Ihre Miene bleibt düster und ihre blauen Augen funkeln eiskalt. „Das Jubeljubiläum?" fragt sie. Ich nicke. „Das wird es sein. Und irgendwas werden sie dieses Jahr anders machen, ganz bestimmt. Nach allem, was Mags erzählt hat, setzen sie besonders auf ein riesiges Spektakel. Da wundert es mich, dass die Ankündigung so kurzfristig kommt." murmele ich.
Den restlichen Tag versuche ich mit Gartenarbeit totzuschlagen. Wenn ich meine Augen nur tief genug in das Schneetreiben bohre, bleibt keine Zeit für einen Gedanken an das Unausweichliche. Das hoffe ich zumindest. In Wirklichkeit sitze ich bloß Stunden dort und lasse mir durch den Kopf gehen, was sich das Kapitol Grausames hat einfallen lassen.
Im fünfundzwanzigsten Jahr wurden die Tribute vom Distrikt gewählt und im fünfzigsten waren doppelt so viele von ihnen in der Arena. Ich finde, diese Grausamkeiten kann man kaum noch überbieten. Und doch habe ich ein ganz ungutes Gefühl. Irgendwas sagt mir, dass es in diesem Jahr noch schlimmer werden wird.
Was ist, wenn sie die Altersbeschränkung herabsetzen? Wenn sie Kinder auswählen, deren Eltern im Distrikt Schwierigkeiten machen? Oder wenn sie nur Geschwisterpaare in die Arena schicken? Oder wenn ...
Eine Angelschnur scheint sich um meine Kehle zu schnüren und mir die Luft zu nehmen. Oder wenn sie nur Siegerkinder in die Arena schicken würden? Ich weiß nicht, ob es über die Distrikte verteilt genug gibt, aber wenn, dann riskiere ich, noch ein Kind oder gar zwei in den Spielen zu verlieren. Und was würde das Kapitol davon abhalten?
Trotz allem bin ich doch relativ dankbar, als der Abend schließlich kommt und ich mich mit allen anderen Siegern in Finnicks Haus treffe. Ich hoffe, es macht Atala und den Kindern nichts aus, dass ich nicht bei ihnen bin, doch ich schulde meinen Mentorenkollegen diese Anwesenheit.
Nervös drängen wir uns auf Finnicks Sofa und die umstehenden Sessel. Ich bin froh, dass ich die anderen um mich habe - allein würde ich das wohl kaum durchstehen. Als der Fernseher schließlich von alleine zum Leben erwacht und uns mit Caesar Flickerman aus dem Trainingscenter begrüßt, müssen wir fast zeitgleich über unsere Nervosität lachen.
Anstatt des Jubeljubiläums bekommen wir aber erstmal Hochzeitskleider präsentiert, Katniss Everdeens Kleider, um genau zu sein. Nacheinander werden uns mehrere riesige, weiße Prunkstücke voller Perlen und Glitzer vorgetragen und offenbar können sie im Kapitol für ihren Favoriten abstimmen. Um ehrlich zu sein, finde ich sie allesamt hässlich.
Sohail macht sich einen Spaß daraus, die Stimme des Moderators nachzuäffen und sich begeistert über die vielen Kleider auszulassen, sodass wir zumindest etwas zu Lachen haben nach den Anspannungen des Tages.
Doch so schnell wie sie kam, ist die Freude auch schon wieder zur Ende und Caesar meint, dass es nun zur Verkündung des Jubeljubiläums kommen würde. Die Leichtigkeit des Abends verschwindet nicht nur aus Finnicks Haus, sondern auch aus dem Fernsehstudio. Ich bin froh, dass ich mich an Rivenna klammern kann.
Die Hymne des Kapitols ertönt und Präsident Snow tritt auf die Tribüne vor der langen Hauptstraße, auf der jedes Jahr die Wagen der Tribute entlangfahren. Mags seufzt. „Es ist noch genauso wie die letzten Male. Gleich wird er einen Umschlag aus dem Kasten ziehen und die Besonderheit des Jubeljubiläums verkünden."
Mags scheint recht zu haben und doch bleibt uns zuvor eine ermüdende Rede des Präsidenten nicht erspart. Mit jedem seiner Worte rücke ich näher an meine Siegerfreundin und auch sie scheint unglaublich nervös. Mit geschlossenen Augen höre ich in die knisternde Stille, als Snows Stimme ein letztes Mal durch ganz Panem hallt.
„Am fünfundsiebzigsten Jahrestag werden als Erinnerung für die Rebellen daran, dass selbst die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapitols nicht überwinden können, die männlichen und weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger ausgelost."
Die Worte hallen in meinem Kopf wieder. Der bestehende Kreis der Sieger... Nein - das kann nicht sein. Das ist gegen die Regeln - Regeln, die letztes Jahr schon einmal gebrochen wurden. Und mit diesem Gedanken verliere ich endgültig den Halt.
„Dieser verdammte - " brüllt irgendwo eine Stimme. „Nein!", eine andere panischere. „Das können die nicht machen!"
Ein rauschender Sturm pfeift in meinen Ohren und ich taumele rückwärts. Ich höre fast garnicht, wie nach kurzer Zeit die Haustür aufgerissen wird und polternde Schritte ins Wohnzimmer stürmen.
Doch dann reiße ich die Augen auf. Alles, was ich sehe, ist ein ruhiges, beständiges Blau, wie das Meer im Sommer, wie das Versprechen von Frieden und Geborgenheit - wie Atalas Augen. Doch das alles zerfällt zu Asche, als eine Träne ihre Wange hinabläuft. Dieses Mal sind es nicht meine Hände, die meine Ohren verdecken und alle Geräusche ertränken, sondern ihre warmen, schützenden, kräftigen Hände, die mich umschließen und es irgendwie schaffen, jeden Gedanken in mir festzuhalten. Hände, die meinen Kopf zusammenhalten und dafür sorgen, dass ich nicht in tausende Scherben zerbreche.
Das Kapitol will uns tot sehen. Nicht unsere Kinder, nein, uns. Wir sind die Menschen, die ihrem Distrikt zeigen, dass es irgendwo Hoffnung gibt in diesem Sturm. Und jetzt werden sie uns brechen.
Atala lässt mich nicht los. Sie wiegt sich mit mir von einer Seite zur anderen, aber ihre Hände bleiben auf meinen Ohren, selbst, als sie mich küsst und wieder küsst und alle übrigen Empfindungen damit für einen Moment verschwinden. Und ich weigere mich, weiterzudenken. Nicht für eine Sekunde kann ich an irgendetwas denken, was geschehen wird, wenn wir diesen Raum verlassen. Solange wir noch hier drinnen sind, ist alles in Ordnung, dann sind wir in Sicherheit ...
Um uns herum ist alles in Bewegung. Aus dem Augenwinkel sehe ich flackernde Lichter, wilde Gesten, einen Luftzug, der meine Haare durcheinanderwirbelt ... Eine Hand landet auf meiner Schulter. Rivenna. Ihre sonst so zarten Augenbrauen bilden einen wütenden Strich. Ich schüttele verwirrt den Kopf, weil ich nicht vernehme, was sie ruft. Nun sagt auch Atala etwas. Sie lässt die Hände von meinen Ohren und somit erreichen mich ihre Worte.
„Finnick - du und Librae, ihr geht nicht erneut in die Arena, klar? Das lasse ich nicht zu!" ruft sie und der Schmerz in ihrer Stimme zerreißt mich. „Du kannst nichts dagegen unternehmen, wenn es soweit ist." vernehme ich Finnicks Stimme. Atalas Schultern beben und sie zieht mich an sich. „Ich werde ihn umbringen. Ich werde Snow eigenhändig die Kehle durch-"
Sie drückt mir die Hand zurück auf mein Ohr und ertränkt damit erneut alle Geräusche. Ich tippe Atala auf die Schulter. Unglücklich sieht sie mich an, doch irgendwann lässt sie den Schutz von mir sinken. Im Wohnzimmer ist es stiller als angenommen. Das Fernsehprogramm läuft schon längst normal weiter, und ich sehe Mags, die eingefallen dasitzt und uns andere beobachtet.
Marlim, der unsere Siegerin Giorgia in seine kräftigen Arme gezogen hat, Finnick, der Annie ganz fest an sich drückt, Rivenna, die Sohail umschlingt und ihrem leise etwas zuflüstert, und schlussendlich Atala, die mich nicht loslässt.
„Keiner von euch muss gehen." sagt Mags bemüht ruhig. Finnick knüpft an ihre Worte an. „Denkt nicht einmal daran, euch freiwillig zu melden, klar?" Seine meergrünen Augen bohren sich in Sohail und Marlim. „Das ist meine Rechnung mit Snow und ich werde sie begleichen."
„Nein!" kreischt Atala und stürmt auf ihren besten Freund zu. „Librae und du, ihr werdet beide nicht gehen..." ruft sie, doch ihre Stimme zittert. Sie weiß ganz genau, dass sie keinen Einfluss darauf hat.
„Und die andere Person werde ich sein." Jegliche Geräusche verstummen, als Mags' zarte Stimme durch das Wohnzimmer hallt, doch sie schüttelt den Kopf. „Keine Wiederworte. Wir wollen dem Kapitol schließlich nicht geben, was es will."
Daraufhin bleibt ihr Blick auf mir hängen. „Zeigen wir ihnen, dass Distrikt vier immer einen Weg finden wird, zu siegen, solange das Meer flüstert."
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