02 | Dunkler Strom
Die Monate bis zur bevorstehenden Tour der Sieger, bei welcher zum allerersten Mal in der Geschichte der Hungerspiele zwei Tribute vor unseren Distrikt treten und Reden halten werden, scheinen sich unendlich zäh dahinzuziehen.
Saphire plant währenddessen alles fürs Jubeljubiläum bis ins kleinste Detail und zum ersten Mal besucht sie das Dorf der Sieger regelmäßig. Sogar das Vorbereitungsteam war bei ihrem letzten Aufzug dabei, um unsere Outfits für die nächste Ernte zu entwerfen. Wir Sieger sollen eine Einheit verkörpern, von Anfang an.
Das einzige, wovon Saphire nicht schwärmen kann, sind die mangelnden Tribute in der Trainingsakademie. In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Jugendlichen, die dort trainieren, sowieso immer mehr verkleinert, doch es ist das erste Mal, dass tatsächlich gar keine vielversprechenden Tribute mehr zur Verfügung stehen. Außer ein paar Sechzehnjährigen, die auf die Hungerspiele hoffen, um der Armut zu entkommen, ist niemand mehr in der Akademie.
Nach jedem Besuch der Kapitoler diskutieren wir Sieger miteinander. Manche sind der Meinung, dass wir trotz allem zwei Kinder aus der Akademie auswählen sollten, um zumindest eine Chance auf einen Erfolg zu haben. Andere, unter anderem auch ich, denken jedoch, dass wir nicht das Schicksal zweier Jugendlicher entscheiden dürfen.
Ich verstehe ja beide Seiten - wenn am Ende wieder ein Zwölfjähriger in die Spiele muss, wäre es uns natürlich allen lieber, dass ein Akademietribut mit zumindest ein wenig besseren Chancen dies für ihn übernimmt. Andererseits merken die Jugendlichen in der Akademie selbst, wie schwierig die aktuelle Situation ist. Wenn wir nun doch einen oder zwei von ihnen auswählen und in die Spiele schicken würden, würden wir mindestens einem von ihnen in die Augen sehen und ihn zum Tod verdammen müssen.
So verlässt Saphire uns im Oktober wieder mit der eindringlichen Bitte, Tribute aufzutreiben. Nach diesem letzten Besuch hören wir lange beinahe garnichts mehr von der Moderatorin, doch dafür werden andere Seiten des Kapitols umso präsenter im Distrikt. An den Hafen reihen sich von nun an Friedenswächter, die nicht nur die Fischer, sondern auch ihre gesamten Personalien bis aufs genauste kontrollieren.
Zum Glück können Atala und ich auf unseren Nachmittagsausflügen aufs Meer hinaus immer ein paar Fische fangen und somit einer Bestrafung bei der Kontrolle entgehen. Ich als Siegerin muss für den Distrikt zwar keinen Dienst mehr leisten, doch Atala als normale Bewohnerin natürlich schon. Selbst die Kinder müssen mittlerweile nach der Schule noch zur Arbeit raus - das Mindestalter dafür haben sie von sechzehn auf zwölf gesenkt und somit sehe ich Willow und Rayam kaum noch.
Doch Distrikt vier schweigt nicht - die Fischer zeigen zunehmend ihre Unmut aufgrund der neuen Situation. Draußen auf dem Meer, wo uns bloß der Wind über den Wellen hören kann, nutzt auch Atala die Gelegenheit, Snows Regierung mit den schlimmsten Schimpfwörtern zu überziehen, die Distrikt vier kennt.
Aber ihre Erzählungen über den Kutter, auf dem sie arbeitet, flößen mir noch mehr Angst ein. Bereits mehrere Male sind sie einer Durchsuchung unterzogen worden und da einer ihrer Kameraden eine Kiste Beifang in den Distrikt schmuggeln wollte, haben die Friedenswächter ihn direkt vor den Augen der anderen zusammengeschlagen. Seitdem werden Fantasien über einen erneuten Aufstand laut.
Einen ersten Vorgeschmack darauf bekomme ich, als Atala mit mir in die Stadt geht, um einige Besorgungen zu erledigen. Obwohl wir auf dem Markt mehrere Straßen von dem Tumult entfernt sind, hören wir die lauten Rufe aus der Richtung des Hafens glasklar. Als wir uns in die vollen Gassen in Richtung Pier drängen, laufen wir in eine riesige Ansammlung von Bewohnern.
Eine anführende Person scheint es unter ihnen nicht zu geben, alle rufen wild durcheinander und drängen sich immer weiter in Richtung Hafen vor. Ein paar halten aus Segeltuch gebastelte Banner hoch, auf denen sie die Aktionen des Kapitols kritisieren.
Atala beobachtet das Geschehen genauso besorgt wie ich. Unser Leben im Siegerdorf hat uns bequem werden lassen und doch sind uns die täglichen Herausforderungen, denen sich unzählige Fischer stellen müssen, nicht unbekannt. Ihre Sprechgesänge erinnern mich an die Sorgen, die mein Bruder Lim und ich unmittelbar nach dem Tod unserer Eltern hatten. Als wir nicht wussten, wie wir uns und die Jüngeren bis zum Wochenende versorgen sollten. Die neuen Maßnahmen müssen das ganze noch einmal viel schlimmer machen.
Trotzdem finden alle Proteste schließlich ein rasches Ende, als ein Soldat in die Menge feuert und die ersten panischen Schreie durch die Straßen hallen. Um uns herum gehen Menschen blutend zu Boden und bald kämpft jeder gegen jeden. Schreckliche Erinnerungen an das Blutbad in den Hungerspielen schleichen sich in meine Gedanken und schon bald drücke ich mich zu Boden, die Hände auf den Ohren. Ich spüre bloß noch, wie Atala mit beiden Armen an mir zerrt und schließlich meinen kraftlosen Körper über ihre Schultern zieht, während die Schreie des Aufstands uns bis hoch ins Dorf der Sieger verfolgen.
Aufgrund dieses Vorfalls braucht es eine Weile, bis ich mich wieder raustraue und bis wir den Kindern wieder erlauben, auf die Straßen zu gehen. In der letzten Novemberwoche jedoch baut sich eine neue Grausamkeit im Distrikt auf - mitten auf dem Versammlungsplatz hängt ein Galgen. Daneben eine vom prasselnden Regenwetter ganz durchnässte Liste, auf der trotzdem noch gut erkennbar die ersten Namen derer stehen, die aufgrund von Regelbruch zum Tode verurteilt sind. Früher drohte dafür nur eine Gefängnisstrafe von einem Monat, da dem Kapitol klar war, dass sie jeden Fischer brauchten. Doch mittlerweile scheint ihnen auch das egal zu sein und die Bestrafung der Bewohner scheint höchste Priorität zu haben.
Die Siegertour beginnt im kalten Dezembergrau. Obwohl die Kälte mir nichts ausmacht, stellen wir unsere Ausflüge aufs Meer vorerst ein - die Friedenswächter brauchen keine Gründe mehr, jemanden zu bestrafen oder gar aufzuhängen. Immerhin folgen nicht noch weitere Aufstände - Distrikt vier hüllt sich in ein eisiges Schweigen.
Uns Sieger erreicht ein paar Tage vor Ankunft von Katniss und Peeta jeweils ein Brief, der uns darüber informiert, dass wir dieses Jahr nicht an der Siegertour teilnehmen werden. Keine Erklärung, keine Rechtfertigung.
Wie immer, wenn es etwas zu besprechen gibt, landet der gesamte Kreis der Sieger schließlich in Finnicks Wohnzimmer. Wir stellen schnell fest, dass alle Briefe gleich sind. Eine höfliche, aber eindringliche Mahnung, nicht zur Feier zu erscheinen.
„Wollen die uns eigentlich verarschen?" flucht Rivenna und lässt sich zwischen die unzähligen Kissen auf dem großen Samtsofa sinken. Ihr bester Freund Sohail setzt sich neben sie und nickt zustimmend. „Saphire plant monatelang diese Feier und jetzt sagen sie alles einfach ab?"
„Das ist in der ganzen Geschichte der Hungerspiele noch nicht passiert." brummt Marlim Waterston, ein klappriger Mann mit aschfahlem Haar und unser zweitältester Sieger. „Snow fürchtet sich vor etwas.", wirft Mags ruhig ein. Schon seit längerem fällt ihr das Sprechen zunehmend schwerer, doch jedesmal wenn sie die Stimme erhebt, verstummen jegliche andere um sie herum. „Er will uns von den beiden Siegern fernhalten und sie isolieren. Sie sind anders als wir, jetzt, wo sie zu zweit sind."
„Ich glaube..." beginne ich und die Blicke richten sich auf mich. „Ich glaube, das Kapitol zielt gerade jetzt darauf ab, jeden von uns noch stärker zu kontrollieren. Es kann doch kein Zufall sein, dass sie ausgerechnet jetzt die Fischereibestimmungen verschärfen, wo die Teilnahme an der Siegertour abgesagt wird, oder wo es einen Aufstand gab. Genau so war es doch damals als ... Jinia gestorben ist und die Leute hier ausgetickt sind. Daraufhin hat das Kapitol eine Weile lang härtere Maßnahmen ergriffen, um uns in die Knie zu zwingen. Beim ersten Mal hat das vielleicht funktioniert ... aber jetzt sind wir alle doch noch wütender, oder?"
Die anderen sieben Sieger nicken. „Ich bin trotzdem nicht traurig, dass mir diese ganze Spaß entgeht." Finnick lacht freudlos auf. Viele in Panem würden vermutlich denken, dass gerade er sich auf solche Events freut, doch mittlerweile kenne ich den Sieger gut genug, um zu wissen, dass er sie vielleicht sogar mehr hasst als wir alle zusammen.
„Ich glaube trotzdem, dass Librae recht hat." Aus der hintersten Ecke des Zimmers meldet sich Annie Cresta kaum hörbar zu Wort. Sie ist eine unscheinbare Gestalt, wie sie so dortsteht, die matten dunklen Haare über die Schultern fallend, doch ihre grünen Augen leuchten wachsam. „Snow ist wütend wegen des Sieges der beiden aus zwölf. Es soll immer nur einen Sieger geben, das ist die einzige Regel. Und auch, wenn er sie zuerst geändert hat, haben sie sie gebrochen. Und jetzt lässt er alle dafür bezahlen." wispert sie.
Ich tausche einen besorgten Blick mit Finnick. Mir macht es auch kaum etwas aus, dass die Siegestour für uns ausfällt, aber trotzdem beunruhigt es mich zunehmend. Jeder von uns weiß, wie sehr Snow seine repräsentativen Feste liebt.
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