33 | Flüstern des Meeres


Licht und Dunkelheit kommen und gehen. Stimmen kommen und gehen. Schmerzen kommen und gehen. Meine Gedanken entgleiten mir immer wieder, kaum kann ich einen klaren Satz fassen.

Wo bin ich? Was ist geschehen? Bloß drei Worte bohren sich in meinen Kopf, kreisen in meinen Gedanken wie Möwen über der See...

Es ist vorbei.

Bis vor ein paar Wochen hätte ich nie gedacht, dass ich diesen Satz einmal denken würde. Dass ich es einmal so weit schaffen würde. Bis zum Ende. Doch ist das hier das Ende? Oder ist es bloß ein Anfang, ein Anfang einer neuen Zeit?

Immer wieder und wieder entgleitet mir das Bewusstsein und ich kann nicht sagen, wie lange ich hier bin. Ich spüre bloß etwas weiches unter mir, etwas kühles an meinen Händen und ein grelles Licht in meinen Gesicht.

Irgendwann, ich weiß nicht, ob nach Stunden, Tagen oder gar Wochen, öffne ich dann die Augen. Es dauert ewig, bis ich ganz ausmache, dass ich mich in einem kleinen, klinisch weißen Raum befinde, gefangen auf einer Liege. Erst mit der Zeit kehrt mein völliges Bewusstsein zurück und mit ihm Gesichter.

Dreiundzwanzig Gesichter und Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Wie gerne will ich die Hände vor den Kopf schlagen, doch mein Körper gehorcht mir wieder nicht. Stattdessen falle ich erneut in einen traumlosen Schlaf.

Irgendwann kann ich wieder sehen, und mittlerweile scheine ich so bei Bewusstsein zu sein, dass ich Formen und Farben um mich herum ausmachen kann. Doch nein, das ist mein Körper, das bin ich...

Wie auch immer es dazu gekommen sein mag, finde ich plötzlich ein Mädchen vor einem Spiegel wieder, der Körper in einen seidenen Bademantel gehüllt. Sie sieht makellos aus. Die schwarzen Haare fallen in perfekten Wellen über die Schultern, die Wimpern sind voll, und die Haut glänzt karamellbraun. Dann blicken mich auf einmal ihre Augen an, doch sie sind nichts von alledem. Müde. Erschöpft. Trauernd. Doch am Leben.

Es sind meine Augen. Mein Körper. Ich.

Am Leben.

Plötzlich streichen Finger über meine Schultern und ich zucke so heftig zusammen, dass ich beinahe nach hinten ausschlage. Welcher Tribut ist das? Wo ist mein Dreizack?

„Pssst. Du bist nicht mehr in der Arena."

Ein entferntes Flüstern irgendeiner Stimme mit Kapitolsakzent. Ich spüre etwas kaltes an meinem Arm und im nächsten Moment umgibt mich ein warmes, weiches Gefühl, das die dunklen Gedanken wie eine Welle fortspült.


Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist eine ältere, winzige Frau, die unaufhörlich in meinem Zimmer verweilt. Irgendwann traut sie sich an mich heran und ich lasse aus irgendeinem Grund zu, dass sie meine Hand hält. An ihr heftet der Geruch von zuhause, von Salz, von Meer, von Muscheln...

Obwohl ich ihre zarte Stimme nur gedämpft vernehme, tragen mich ihre Worte zurück in eine ferne Welt, zurück nach Hause. Zurück zum Strand, die Füße in den weichen Sand vergraben. Neben mir meine Geschwister und ja, Aline ist auch da. Nale grinst mich unter seinen roten Locken an und Atalas Hand ergreift meine.

Am nächsten Morgen, so nennt es zumindest der Mann im langen Gewand, der ständig in den Raum kommt, kann ich schon wieder laufen. Meine Beine fühlen sich schwer an, als wäre eine riesengroße Last noch immer nicht von ihnen abgelegt. Am Tag danach sagt mir der Mann, ich sei wieder kerngesund.

Doch bin ich das? Ich glaube, nach all dem, was in der Arena geschehen ist, so verschwommen die Erinnerungen daran auch noch sein mögen, kann ich nie wieder wirklich der Mensch werden, der ich vorher war. Wer war sie überhaupt? Dieses Mädchen am Strand, das fürsorglich die Hände ihrer Geschwister hält? Doch werden sich diese das überhaupt noch trauen, nach dem, was ihre Schwester getan hat?


Die nächsten Tage ziehen wie ein grauer Regenvorhang an mir vorbei. Irgendwann sehe ich wieder mein Vorbereitungsteam und ich erwische mich dabei, nach Jaceks Stylisten auszuhalten. All die Worte dringen nicht zu mir durch, bloß Mags höre ich zu.

Am Abend stecke ich in einem langen Kleid, welches Jake entworfen hat. Anscheinend wollen die Stylisten mich jetzt in irgendjemand begehrenswerten verwandeln, denn mein Make-Up ist nicht ansatzweise mehr dezent und der Ausschnitt des Kleides wohl gewollt aufreizend. Ein typisches Image für jemanden wie mich, für ... eine Siegerin.

Ja, so eine bin ich jetzt. Eine Siegerin, die Siegerin der 51. Hungerspiele.

Doch eine Siegerin, die beim Interview mit Caesar Flickerman bloß kaum hörbar, leise und flüsternd auf die Fragen antwortet, findet wohl niemand auch nur ansatzweise begehrenswert.

Am nächsten Tag kommt das, wovor ich mich schon seit Stunden gefürchtet habe. Wie in jedem Jahr sitze ich als Siegerin dort auf der Interviewbühne und das ganze Land sieht mir dabei zu, wie ich mir die Zusammenfassung der gesamten Spiele ansehe. Zwischendurch kommentiert Caesar immer mal wieder etwas, doch ich höre ihm kaum zu.

Stattdessen prägen sich die Bilder auf der riesigen Leinwand für immer in mein Herz ein.

Es beginnt mit der Ernte und ich sehe Willow, Sky, Liliana und Jacek. Mit ihnen all die anderen Tribute, die vergebens versuchen, durch ihr Verhalten ihrem Tod zu entkommen.

Es folgen die Parade und die Interviews, doch fast nur meine Auftritte sind auf der Leinwand zu sehen. Erneut höre ich, wie Jacek mich stark macht und eine eiskalte Hand, gelegt um meine Kehle, scheint mir die Luft zu nehmen. Und irgendwann kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich erwische mich dabei, wie egal es mir ist, was die Leute im Kapitol von mir denken. Sie haben eine Siegerin, das wollten sie.

Dann beginnen die Spiele. Mit großem Entsetzen verfolge ich die Reaktionen der Zuschauer. Die brutalsten und dramatischsten Tode werden besonders lange gezeigt, doch die Leute scheinen die sterbenden Tribute wie Tiere in einem Zoo zu beobachten. Wer am gefährlichsten, schönsten oder brutalsten ist, bekommt die meiste Aufmerksamkeit. Genau so der Moment, in dem ich Lahela töte.

Irgendwann sehe ich, wie Willow und ich unser Bündnis eingehen. Es jagt mir einen Schauer über den Rücken, sie auf einmal wieder so lebendig zu sehen - bis zu dem Moment, in dem Coopers Schwert sie durchbohrt.

Bald kommt es zu den Taten, die Sky und ich vollbracht haben. Wie wir durch den Dschungel laufen, am Füllhorn kämpfen und schließlich, wie wir Liliana finden. Doch sie haben den Teil, in dem ich sie von den Flammen rette, völlig aus dieser Fassung geschnitten. Stattdessen sieht es so aus, als hätten Sky und ich sie einfach am Strand gefunden.

Und schließlich sieht man Jacek und mich vor der Kamera. Der Zusammenschnitt lässt uns wirklich wie ein perfekt harmonierendes Team aussehen. Um so mehr Aufmerksamkeit legen sie daher auf dem Moment, in dem mein Dreizack seinen Körper durchbohrt. Ich muss aufpassen, dass mein Abendessen mir nicht wieder hochkommt.

Der Film endet mit dem Moment, indem ich ein letztes Mal an die aufbrechende Wolkendecke sehe und meiner Rettung aus der Arena entgegenblicke.


Und schließlich sitze ich auch schon wieder im Zug. In dem Zug, der mich dahin hinbringt, wo ich hingehöre. Oder besser, dahin, wo mein altes Ich gelebt hat.

Stundenlang ziehen sonnendurchflutete Landschaften, Täler und Flüsse an an mir vorbei, doch mein Gesicht, an die Scheibe gelehnt, ist eiskalt.

Irgendwann mache ich das Meer am Horizont aus, und ich spüre wie mein Herz einen kurzen Hüpfer macht. Ein ganz unbekanntes Gefühl. Irgendwann bremst der Zug ab, und das Vorbereitungsteam, Saphire und Mags verabschieden sich von mir. Unsere Moderatorin war ganz beleidigt, dass niemand ihre ausgelassene Stimmung teilen wolle. Doch unsere Trennung wird wird keine Trennung von Dauer sein. Von nun an schleppen sie mich jedes Jahr zurück ins Kapitol, als Mentorin für die nächsten Tribute unseres Distrikts.

Irgendwann kommt der Zug mit einem Ruck zum Stehen. Ich stehe vor der breiten Glastür und lasse meine Blicke über den Bahnsteig vor mir schweifen.

Massen an jubelnden Menschen recken eifrig die Köpfe, um einen Blick auf mich erhaschen zu können. Ihr Applaus ist so laut, dass ich es durch die Zugwände hören kann. Und sie lächeln, sie lächeln wirklich - wegen mir. Und irgendwie kann ich es auch verstehen. Wir hatten so lange keinen Sieger mehr, es muss ihnen etwas wie Hoffnung verliehen haben, selbst, wenn jemand wie ich nun vor ihnen steht. Doch das, was mich wirklich mit Freude erfüllt, ist, dass von nun an ein Jahr lang Essensrationen an jede Familie im Distrikt verteilt werden. Ich gehöre nun nicht mehr zum Armenviertel, doch unzählige Kinder tun es immer noch. Zumindest eine Sache, auf die ich ... stolz sein kann.

Die Türen öffnen sich und warme Abendluft dringt zu mir, zusammen mit dem süßlichen Duft von Blumen und dahinter kaum merklich der Geruch von Salz und Fisch. Erst jetzt sehe ich, dass das gesamte Bahnhofsgebäude bunt dekoriert ist. Doch sobald ich meinen Fuß aus dem Zug setze, habe ich nur Augen für sie.

Nale, der mir ein wehmütiges Lächeln schenkt. An seine Schulter lehnt Atala. Die Art, wie sie mich anschaut, löst ein warmes Kribbeln in meinem Bauch aus. Neben den beiden sind meine Geschwister. Lim, Annie und ...

Wo ist Aline?

Mit einem Mal scheint mir mein Herz bis in die Hose zu rutschen.

Wo ist meine kleine Schwester?

Ich fange das erste Mal wieder Annies und Lims Blick und in ihren Augen glitzern Tränen. Sie scheinen zu bemerken, nach wem ich Ausschau halte, doch mit einem Mal schüttelt Annie ganz sanft den Kopf, während sich ihre Miene verdüstert.

Und dann bestätigt sich meine Vermutung. Jegliche Haltung verlässt mich binnen einer Sekunde. Aline ist nicht hier. Und das schon seit Wochen nicht mehr. Ich spüre eine eiskalte Träne meine Wange hinablaufen. Es war eine Falle. Es war eine unfassbar hinterhältige und gemeine Falle von Präsident Snow, nur, um mir einen Mord in der Arena zu entlocken. Und ich bin in sie hineingetappt. Habe Jaceks Leben genommen, um Alines zu retten. Doch sie war nie am Leben. Nie mehr, seitdem die Friedenswächter sie nach der Ernte zusammengeschlagen haben.

Ich fange an zu rennen. Jeder meiner Schritte trägt mich näher dem Meer entgegen, weg von den Maßen und Kameras. Ich weiß, dass meine Familie und Freunde mir folgen werden. Immer stärker werden die Gerüche und das Rauschen des Ozeans. Und dann eröffnet sich vor mir endlich der Anblick auf das Meer, das im Licht der untergehenden Sonne glitzert. Einen Moment lang halte ich inne und atme den Geruch von Salz ein, während sich meine Füße in den Sand graben. Ich hätte nie gedacht, dass ich wieder hierher zurückkehren würde und doch bin ich es nun.

Sanft schlagen die Wellen an den Strand. Golden spiegelt sich die Sonne im Meer, während die Salzblumen in der Abendluft rascheln. Ich atme tief ein. Hinter mir spüre ich schließlich Schritte zögerlich näher kommen, bis ich Hände spüre, die meine nehmen und Arme, die sich um mich legen. Keiner von uns sagt etwas, wir stehen einfach nur dort und lauschen dem Meer. Für einen kurzen Moment ergreift mich ein Gefühl von Frieden. Zu dem einzigartigen Duft des Meeres mischt sich der von meiner Familie und meinen Freunden ein. Für mich riechen sie nach zuhause.

Und dort bin ich auch.

Eine leichte Brise weht und versucht, meine Sorgen, den Kummer und die Trauer davonzutragen, weit hinaus über den Horizont. Doch sie bleiben. Für immer, oder?

Ich weiß nicht, ob jemals wieder alles gut werden kann.

Aber ich höre das hoffnungsvolle Flüstern des Meeres.

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