30 | Gemeinsam
„Ist das dein Ernst?"
Der entsetzte Klang meiner Stimme hallt durch die kühle Nachtluft und sofort schlage ich mir die Hand vor den Mund. Mit gesenkter Stimme fahre ich fort.
„Du hast doch wohl nicht wirklich vor, mitten in der Nacht ins Lager der Karrieros einzubrechen? Weißt du, wie riskant das ist?"
Unschlüssig blicke ich Jacek durch die dichten Dschungelbäume aus an. Ich kann kaum realisieren, welchen Plan mein Distriktpartner soeben geschmiedet hat.
„Spätestens in ein paar Tagen wird das Kapitol das Finale einberufen. Dann heißt es, nur du und ich gegen Cora und Cooper. Das einzige, was dann bleibt, ist eine Auseinandersetzung mit Waffen, Kraft und Ausdauer und zwar so lange, bis nur noch einer von uns übrig ist. Du bist gut, ich bin gut. Aber sie sind besser. Wir können diesen Kampf nicht gewinnen."
Der Ernst, der in Jaceks Stimme mitschwingt, versetzt mir eine Gänsehaut. „Sie sind besser als ich, das ist klar. Aber auch besser als du? Was bringt es dir, sie völlig unvorbereitet anzugreifen?" hake ich nach. Ein leichtes Lippen umspielt Jaceks Lippen.
„Genau das ist es ja. Das Kapitol wartet auf den Moment, in dem sie uns alle vier zusammentreiben können und dann war's das. Das ist es, was sie wollen. Den Zuschauern wird ein Spektakel geboten, genau so wie jedes Jahr. Die Karrieros haben sich ihr Leben lang darauf vorbereitet und ich mit ihnen. Und deshalb denke ich, wir haben nur dann eine Chance, wenn wir etwas Neues machen. Etwas Besonderes. Etwas, mit dem unsere Gegner keine einzige Sekunde lang gerechnet haben."
Eine Weile lang starre ich nachdenklich auf meine Hände, während Jacek ein kleines Messer abwechselnd in die Erde rammt und wieder herauszieht.
„Ich weiß nicht so ganz. Aber du hast recht, wenn du sagst, dass sie damit wohl kaum rechnen werden. Bisher waren es immer sie, die angegriffen haben. Also wäre es vielleicht klug, wenn..."
„Genau diese Denkweise brauche ich." flüstert Jacek und seine Mundwinkel ziehen sich zu einem neckenden Lächeln. Doch als ich ihn nur weiterhin unentschlossen ansehe, legt er mir plötzlich eine Hand auf den Arm.
„Hey. Es ist gut, dass du dir Gedanken darüber machst. Das ist einer der Gründe, warum du immer noch hier bist. Du bist sehr klug, Librae. Und genau deshalb möchte ich, dass du mir vertraust. Glaub mir, wir haben eine Chance, die Karrieros zu schlagen, wenn wir gemeinsam handeln. Holen wir den Sieg für Distrikt vier gemeinsam nach Hause."
Ich muss aufpassen, dass ich nicht bitter auflache. Als könnten wir beide gewinnen.
Das Licht der Sterne spiegelt sich in Jaceks blauen Augen, doch ich glaube, sie würden in diesem Moment ohnehin glänzen. Mit ernstem Blick sieht er mich an und wartet auf eine Antwort. Müde seufze ich und ziehe die Beine an meinen Körper.
„Okay. Ich vertraue dir. Wenn du weißt, wo sich ihr Lager befindet, haben wir eine Chance, solange wir es nachts erreichen. Und dann..."
„Dann beenden wir es." vervollständigt Jacek meinen Satz. Obwohl er für die Kameras grinst, klingt seine Stimme noch immer todernst. Mit einem Mal springt er auf, verstaut die Klinge im Gürtel und hebt seinen Dreizack auf.
„Na dann, worauf warten wir noch?" ruft er aufrichtig und hält mir auffordernd die Hand hin. Ein paar Sekunden zögere ich und werfe einen Blick an den dunklen Nachthimmel. Wenn Jacek und ich die Karrieros finden sollten, gibt es kein Zurück mehr. Egal, ob wir gegen sie kämpfen oder vielleicht bloß nur ihre Vorräte stehlen, ich werde den Tributen gegenübertreten, die mich die gesamten Hungerspiele über gejagt haben. Doch an meiner Seite ist mein Distriktpartner, der bis vor wenigen Stunden noch zu ihnen gehört hat. Der bis vor wenigen Stunden noch aktiv mitgeholfen hat, so viele andere Tribute wie möglich zu töten und mich aufzuspüren. Und jetzt muss ich ihm vertrauen.
Ich richte mich auf, schlinge die Finger um meinen Dreizack und ergreife Jaceks Hand.
Ich weiß nicht, ob es Sekunden, Minuten oder Stunden sind, in denen Jacek und ich durch die pechschwarze Nacht traben. Ich bin froh, dass er die Führung übernommen hat, denn so kann ich mich mehr darauf konzentrieren, nicht ständig gegen irgendwelche Bäume oder Sträucher zu laufen. Wir laufen in einem passablen Tempo und nicht nur das trägt dazu bei, dass mir schon bald Schweißperlen die Stirn hinunterrinnen. Obwohl es mitten in der Nacht ist, heizt sich der Dschungel auf wie ein Topf kurz vor dem Überkochen. Fast, als würden die Spielmacher uns vor unserer bevorstehenden Aktion warnen.
„Und du denkst wirklich, dass wir sie finden?" keuche ich, während wir uns durch einige Lianengeflechte pirschen.
Jacek antwortet nicht, doch ich kann mir gut vorstellen, wie sich seine Mundwinkel gerade zu einem perfekten Lächeln ziehen und er vielleicht sogar in die Kameras zwinkert. Der Zuspruch der Zuschauer ist damit weiterhin garantiert. Etwas, was er viel besser kann als ich. Wenn er es tatsächlich aus der Arena schaffen würde, wäre er sicherlich einer dieser Sieger, den das Kapitol noch mehr verehrt, als ohnehin schon.
Die Frage ist bloß, was dann noch von dem Jungen geblieben ist, den ich vor Jahren vor dem Tod gerettet habe. Der bloß ein Kind war, gefangen zwischen den tosenden Weiten des Ozeans und auf eine helfende Hand angewiesen. Und vielleicht wird diese Hand, die ihm einst das Leben gerettet hat, ihm in den nächsten Stunden einen Dreizack ins Herz rammen.
Ein dumpfes Rumpeln reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schmecke den metallenen Geschmack von Blut auf den Lippen und realisiere erst nach ein paar Sekunden, dass ich mit Jacek zusammengestoßen bin. Wie versteinert verharrt dieser vor mir, jeden einzelnen Muskel seines Körpers angespannt und den Blick in die Finsternis vor ihm gerichtet. Für einen kurzen Moment ist nur das Zirpen der nächtlichen Grillen zu hören, dann erhebt Jacek leise die Stimme.
„Wir sind fast da."
Unmittelbar beginnt mein Herz schneller zu schlagen und mein Griff um das kalte Metall des Dreizacks wird fester. So vorsichtig wie möglich spähe ich hinter Jaceks Rücken hervor in die Finsternis des Dschungels. Doch ich kann bloß ein paar düstere Silhouetten von Bäumen ausmachen, kein Anzeichen für das Lager der Karrieros.
„Bist du dir sicher?" flüstere ich.
Jacek nickt kaum merklich. „Absolut. Siehst du das weiße Band dort vorne, das um den Stamm der Palme geschlungen ist? Das stammt von Cora. Immer, wenn wir ein neues Lager festgelegt haben, knotet sie so eins an einen Baum ein paar hundert Meter vom Versteck entfernt. So können wir uns nicht verlieren."
Ich brauche ein paar Sekunden, um seine Worte zu verinnerlichen. Ausgerechnet Cora hat also Angst, ihre Verbündeten zu verlieren und alleine zurückzubleiben? Auf mich hat sie bisher jedenfalls wie die taffeste und skrupelloseste aller Tribute gewirkt. Doch vielleicht zeigt das nur, was den Erfolg der Karrieretribute im Inneren eigentlich ausmacht - das Bündnis und die Gemeinschaft mit den anderen.
„Komm." zischt Jacek kaum hörbar und schon setzt er die ersten vorsichtigen Schritte nach vorne. Sofort fokussiere ich mich wieder auf unseren Plan und tue ihm gleich.
Ein paar Minuten herrscht völlige Stille, bloß die Geräusche der Nacht sind zu hören. Doch mein Distriktpartner und ich bewegen uns so leise durch den Dschungel wie zwei Fische durch das Meer. Mittlerweile haben die Spielmacher sich wohl doch umentschieden, denn die Temperatur in der Arena scheint um mindestens zwanzig Grad gesunken zu sein. Eine kalte Brise lässt die Blätter der Bäume im Wind wehen und versetzt meinem Körper eine Gänsehaut. Fröstelnd schleiche ich neben Jacek her, als ich plötzlich ein helles Leuchten in der Ferne ausmache. Ich brauche einen Moment, doch dann erkenne ich den Ursprung des orangenen Lichts - ein Lagerfeuer! Es sind nur noch vier Tribute übrig, also muss es von Cora und Cooper stammen.
Die plötzliche Leichtsinnigkeit der Karrieros lässt mich beinahe kurz auflachen. Bis jetzt habe ich keine Sekunde lang an der Stärke meiner Gegner gezweifelt, doch jetzt scheinen sie für einen Moment lang jegliche Überlegenheit verloren zu haben.
Ich höre, wie Jacek neben mir auflacht.
„Die haben wohl nicht mit Distrikt vier gerechnet."
Ich kann beinahe hören, welche begeisterten Jubelschreie dieser Satz soeben im Kapitol ausgelöst haben muss. Egal, was in dieser Nacht noch geschehen mag, Jacek schafft es, ihn und mich in die Herzen der Zuschauer zu transportieren.
Mein Blick gleitet wieder zurück nach vorne, doch plötzlich erlischen die hellen Flammen und zurück bleibt bloß Dunkelheit. Haben sie uns entdeckt?
Es vergehen einige Sekunden völliger Stille. Weder Jacek noch ich bewegen uns auch nur einen Zentimeter, die Blicke bloß auf das Karrierolager in der Ferne gerichtet. Doch nichts regt sich, keine Silhouetten kommen auf uns zu.
„Sie haben sich wohl schlafen gelegt." flüstere ich meinem Distriktpartner zu und er nickt merklich. „Dann heißt es wohl abwarten." erwidert dieser. Daraufhin verharren wir lange, sehr lange. Jegliches Zeitgefühl habe ich sowieso längst verloren, doch schließlich sollte zumindest einer von Cora und Cooper sicher eingeschlafen sein.
„Folg mir."
Ich nehme Jaceks Stimme kaum noch wahr, denn das unaufhörliche Pochen meines Herzens übertönt jegliches Geräusch. Trotzdem wage ich es schließlich, neben meinem Distriktpartner die ersten Schritte in Richtung des Karrierolagers zu setzen.
Mit angehaltenem Atem setze ich meine Füße so leise wie möglich auf dem Dschungelboden ab und lasse keine Sekunde lang den Blick von der Stelle, an dem wir das Lager grob vermuten. Dunkle Silhouetten meterhoher Bäume umringen uns, und das einzige Licht im Dschungel stammt vom silbernen Mond, der in dieser Nacht besonders hellt scheint.
Mit einem Mal sind wir den letzten Funken des Feuers so nah, dass ich schon beinahe die Hitze der Glut auf meiner Haut spüren kann. Behutsam schleichen Jacek und ich uns hinter einen Baumstamm. In diesem Moment tritt der helle Mond hinter ein paar Wolken hervor und erhellt den gesamten Platz vor uns. Und zum ersten Mal kann ich vollkommen erkennen, was dort vor sich geht.
Das Lager der Karrieros ist beinahe eine kleine Lichtung, ein winziger Fleck Sand zwischen meterhohen Palmen. In der Mitte glühen noch die letzten orangenen Holzstücke am Boden. Ich erschrecke, als ich eine dunkle Gestalt hinter den letzten Flammen ausmache, und schnell erkenne ich Cooper. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, sitzt er hinter dem Feuer und starrt bloß in die Glut. Doch wo ist Cora?
Ich spüre, wie Jacek mich leicht in die Seite stupst und daraufhin mit seinem Finger zurück auf die Lichtung weist. Ich folge seinem Blick und dann mache ich tatsächlich eine zweite Gestalt aus. Cora ist so tief unter mehreren Schichten einer Decke vergraben, dass man sie kaum erkennen kann. Bloß ihr Kopf ist zu sehen, der an einen Baumstamm gelehnt ist. Am regelmäßigen Heben und Senken ihrer Brust erkenne ich schließlich, dass sie schläft.
Bloß ein paar Meter vor uns mache ich mehrere Taschen und Behälter aus, vermutlich bis zum Rand gefüllt mit Vorräten. Beim Anblick der vielen Versorgung knurrt mein Magen plötzlich verräterisch laut auf, doch ein Blick zu Cooper zeigt, dass er es nicht gehört hat.
Trotzdem zucke ich zusammen und greife unmittelbar nach Jaceks Arm. Es vergehen einige Sekunden, in denen bloß die eiserne Stille der Nacht zu hören ist. Doch dann spüre ich mit einem Mal, wie Jaceks Muskeln sich anspannen - als würde er mir ein Zeichen geben... Aber wofür? Ich versuche, durch die Dunkelheit hindurch seine Gesichtszüge zu erkennen, doch ich mache bloß seine leichte Kopfbewegung aus. Kaum merklich und doch klar zu verstehen, weist er erst auf die glühenden Äste des Lagerfeuers und dann auf Coopers Silhouette.
Was hat das zu bedeuten? Ich spüre nur noch, wie Jacek meine Hand greift und fest drückt, als würde er mich auffordern, ihm zu vertrauen. Und es ist das einzige, was mich im Moment rettet.
Und ich habe keine Sekunde mehr zum Überlegen.
Im nächsten Moment entreißt sich Jacek aus meinem Griff und stützt aus unserem Versteck heraus. Ich mache bloß noch aus, wie die Dunkelheit ihn verschluckt und er in die Richtung sprintet, in der ich blass Cora erkennen kann. Ich darf nicht hier verweilen! Panisch blicke ich zwischen Cooper und der Glut hin und her und mit einem Mal begreife ich meinen Teil des Plans - des furchtbar grausamen Plans.
Ohne auch noch eine Sekunde zu zögern, springe nun auch ich aus dem Schutz unseres Verstecks raus und sprinte auf die letzten Funken der Glut zu. Im Rausch des Adrenalins nehme ich bloß verschwommen wahr, wie Cooper sich vor mir aufrichtet und nach einer Waffe greift, doch ich denke keine Sekunde lang an eine Flucht.
So schnell ich kann, trete ich die letzten Äste des Lagerfeuers beiseite, sodass die Glut wieder stärker aufglüht und im nächsten Moment zügeln sich wieder erste kleine Flammen um die Zweige. Ermutigt von meinem Erfolg will ich den nächsten Teil des Plans erfüllen und das Feuer in Richtung Cooper lenken - doch es ist zu spät.
In der nächsten Sekunde spüre ich einen dumpfen Schlag mitten in die Magengrube und werde mit voller Wucht einige Meter nach hinten gerammt. Völlig benommen taumele ich rückwärts und krache schließlich an den rettenden Baumstamm einer Palme. Doch mein Körper pumpt Adrenalin durch meine Venen und sofort richte ich mich wieder auf. Mit einem pfeifenden Geräusch rast plötzlich eine silberne Axt auf mich zu und bloß in letzter Sekunde schaffe ich es, meinen Kopf einzuziehen. Mit einem dumpfen Krachen bleibt die Axt im Baum hinter mir stecken.
Sofort wende ich mich wieder nach vorne und erschrecke, als Coopers riesige Gestalt auf mich zugestapft kommt. Und er ist noch längst nicht entwaffnet. Binnen einer Sekunde zieht der Karriero ein glänzendes Schwert aus seinem Gürtel. Mit rasendem Herzen umklammere ich meinen Dreizack, doch all meine Instinkte lassen mich bloß nach hinten taumeln.
Doch ich kann, ich darf nicht fliehen! Nicht hier, nicht jetzt, nicht dieses Mal! Plötzlich packt mich neue Kraft und ich umschlinge meinen Dreizack noch fester. Im nächsten Moment ist Cooper bei mir angelangt, doch ich bin gewappnet. Doch bevor auch nur einer von uns zum Hieb mit der Waffe aufholen kann, ertönt plötzlich der donnernde Schlag der Kanone.
Jacek.
Sofort schießt der Gedanke durch meinen Kopf und lässt meinen Herzschlag aussetzen. Vor mir verharrt auch Cooper und wirft einen Blick nach hinten. Eine Gestalt liegt reglos am Boden, doch ich kann nicht erkennen, wer es ist. Stattdessen finde ich mich bloß in blankem Entsetzen wieder und - es wird bestraft.
Ich sehe nur noch, wie Cooper vor mir zum Hieb mit seinem Schwert ausholt, dann verschließe ich die Augen und rüste mich für den Schmerz. Doch nichts geschieht. Stattdessen höre ich bloß einen dumpfen Schlag. Sofort reiße ich die Augen wieder auf. Ich kann bloß noch einen dunklen Blitz wahrnehmen, der Cooper trifft und mit voller Wucht zu Boden rammt. Erschrocken sehe ich auf den Karriero hinab und dann blicke ich in die eisblauen Augen. Es war kein Blitz. Es war Jacek, der Cooper in letzter Sekunde zur Seite gestoßen hat. Er ist also nicht tot! Eine Welle der Erleichterung durchflutet mich.
Doch im nächsten Moment verebbt sie wieder, denn schon hat sich Cooper wieder aufgerappelt und befindet sich in einem direkten Kampf mit Jacek. Alles in mir schreit danach, ihm zu helfen, doch mit einem Mal flammt eine Idee in mir auf. Ohne zu zögern renne ich auf die Taschen mit den Vorräten zu und packe so viele, wie ich tragen kann, in meine Hände. Keine Sekunde später landet die gesamte Versorgung der Karrieros in den Flammen des Lagerfeuers. Zischend qualmt die Glut auf und ich blicke hinab auf mein grausames Werk. Beißend schneidet sich der giftige Rauch in meine Lunge und die Hitze lässt Tränen in meine Augen steigen. Hoch ragen die Flammen hinauf in den dunklen Nachthimmel.
Gerade will ich mich wieder vom Feuer lösen, da halte ich inne. Mein Herz macht einen Aussetzer, als ich eine Gestalt erkenne, die reglos auf dem Boden hinter den Flammen liegt.
Coras Leiche.
Ihre Augen sind nicht einmal geöffnet, Jacek hat sie getötet, als sie geschlafen hat. Ein unkontrollierbares Zittern packt mich, doch ich darf keine weitere Sekunde verharren. Sofort fahre ich herum und stürme auf Jacek und Cooper zu, die noch immer verbittert miteinander ringen. Klirrend schlägt das Metall ihrer Waffen aufeinander, als die beiden unermüdlich aufeinander einschlagen. Sie sind jedoch so in ihren Kampf vertieft, dass sie mich garnicht bemerken.
Ich muss Jacek sofort helfen! Mit letzter Kraft sprinte ich auf die beiden zu, bereit, alles zu tun, um meinen Distriktpartner zu retten, da ... was war das?
Ich bremse so abrupt ab, dass Sand unter meinen Füßen aufwirbelt. Sofort fahre ich herum und mein Blick trifft auf das, was mich soeben hat innehalten lassen.
Ein Fischernetz.
Dort, wo vor wenigen Sekunden noch die Vorräte der Karrieros standen, winden sich die bräunlichen Schlingen und Knoten eines Fischernetzes. Keine Seltenheit in den Hungerspielen, doch ich habe nicht wegen der Entdeckung des Netzes angehalten.
Ich habe eine Idee.
Ohne auch noch einen Moment zu zögern, schnappe ich mir das Netz und binde ein loses Seil um die Spitze meines Dreizacks. Das Zittern meiner Finger macht die Aktion fast unmöglich, doch schließlich habe ich einen passablen Knoten um das Metall geschwungen. Ich wage es garnicht, zu beiden Kämpfenden neben mir zu gucken, stattdessen ziele ich als Nächstes eine Baumkrone über mir an. Ich umgreife den Dreizack fester und festige nich ein letztes Mal den Knoten, der das Ende des Netzes daran befestigt. Dann hole ich Luft.
Arm heben. Zielen. Ausholen.
Werfen.
Treffer.
Mit einem dumpfen Schlag bohrt sich die Spitze meines Dreizacks in die Baumkrone des Baumes vor mir. Das Fischernetz liegt nun ausgebreitet auf dem Boden, bloß das eine lose Ende ist durch den Dreizack oben in den Ästen befestigt.
Geschafft.
Jetzt fehlt nur noch...
„Jacek!" schreie ich und unmittelbar treffen die eisblauen Augen meine. Mein Distriktpartner und sein Gegner hören nicht eine Sekunde lang auf zu kämpfen. Doch dann fliegt Jaceks Blick über meine Netzkonstruktion und im nächsten Moment begreift er, was ich vorhabe.
Mit einem Mal scheint meinen Verbündeten eine neue Hoffnung gepackt zu haben, denn plötzlich werden die Hiebe mit seinem Dreizack so schnell, dass Cooper nichts anderes tun kann, als auszuweichen. Und damit tappt er in die Falle.
Ich sehe bloß noch aus dem Augenwinkel, wie Jacek den Zweier immer weiter auf das ausgebreitete Netz am Boden zutreibt, schon stürze ich auf den Baum zu, um auch meinen Teil des Plans zu erfüllen.
Ohne zu wissen, was hinter mir passiert, kralle ich meine Finger in die Äste des Baums, an dem das Netz befestigt ist. In Windeseile erklimme ich den Stamm, bis ich ganz oben angekommen bin. Sofort packe ich wieder das Metall meines Dreizacks und ziehe ihn aus dem Holz heraus.
Durch das dichte Blätterdach unter mir kann ich nur noch erkennen, wie Cooper in diesem Moment ahnungslos auf das Netz am Boden tritt. Das ist meine Chance.
Jetzt oder nie.
Ich presse die Lippen zusammen, dann springe ich hinab auf den Boden und ziehe meinen Dreizack und das Ende des Fischernetzes mit mir.
Ich höre nur noch ein reißendes Geräusch und einen Schrei, dann krache ich unsanft auf dem Boden auf. Ein paar Sekunden dreht sich alles vor meinen Augen und ein dröhnender Schmerz durchflutet meinen Kopf. Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter, die Welt vor meinen Augen verschwimmt und ... jemand ergreift meine Hand und zieht mich nach oben.
Ich brauche ein paar Sekunden, um mich wieder zu orientieren, doch dann erkenne ich, dass Jacek vor mir steht und mich über beide Wangen angrinst. Was ist passiert? Sofort trete ich hinter ihm hervor und im nächsten Moment breitet sich der Schrecken über meine eigene Tat in meinem Körper aus.
Bloß ein paar Meter vor mir baumelt Cooper, die Gliedmaßen völlig unnatürlich in alle Richtungen gestreckt, mehrere Meter über dem Boden im Fischernetz. Ich erkenne den Knoten von zuhause, den Jacek wohl am Seil um Coopers Körper geschlungen hat, damit dieser nicht entkommen kann. Obwohl unser Gegner nun wehrlos ist, kann ich garnicht anders, als mit blankem Entsetzen zu dem Jungen aufzusehen, den ich soeben in einem Fischernetz gefangen genommen habe. Mit weit aufgerissenen Augen sieht Cooper zu uns hinab, völlig unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.
„Du bist genial." höre ich mit einem Mal Jaceks Stimme hinter mir, doch ich kann mich noch immer nicht in dem grausamen Bild abwenden. Stattdessen merke ich bloß, wie mir beinahe der Dreizack aus der Hand rutscht und fast hinab in den Sand plumpst.
Und mit einem Mal realisiere ich, was das jetzt bedeutet. Jacek und ich sind frei, Cooper gefangen. Es sind nur noch wir drei übrig. Wir werden ihn ...
„Lauf!"
Jaceks entsetzter Schrei versetzt mich in jähe Panik. Sofort fahre ich zu meinem Distriktpartner herum und sehe den Grund für seine Warnung - Feuer.
Eine meterhohe, rote Flammenwand hat sich aus dem ehemaligen Lagerfeuer emporgehoben und rast nun unmittelbar auf uns zu. Und sofort wird mir klar - das ist nicht natürlich. Das ist das Kapitol. Wir haben etwas getan, dass ihnen nicht gefallen hat. So grausam und amüsant diese Aktion und der Kampf für die Zuschauer gewesen sein muss, ein Finale, dass binnen weniger Minuten ein Ende findet, würde kein einziger Spielmacher wollen. Wenn wir ihren Regeln nicht gehorchen, werden sie zwar nicht uns in der Arena, jedoch all unsere Lieben zuhause bis auf härteste bestrafen. Es ist noch nicht vorbei.
Mit einem Mal umhüllen mich dicke Rauchwolken und schneiden uns von Cooper in der Falle ab. Das letzte, was ich sehe, ist Jaceks Hand, die meine greift, bevor er mich mit sich zieht und wir im Dickicht des Dschungels verschwinden.
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