28 | Das Biest


Die letzten Regentropfen peitschen mir ins Gesicht, als ich wieder aus den Wassermassen auftauche. Sofort werfe ich einen Blick zurück über meine Schulter, um nach Sky zu sehen. Mein Herz macht einen Sprung, als ich sehe, wie sie in diesem Moment hinter mir ins Wasser gesprungen kommt. Doch ihr Gesicht ist zu einem schmerzerfüllten Ausdruck verzogen. Was ist geschehen?

Platsch.

Ein silberner Pfeil verfehlt mich nur um Haaresbreite und landet neben mir im See. Sofort schießt neues Adrenalin durch meinen Körper und keine Sekunde später bin ich wieder vollkommen unter die Wasseroberfläche getaucht. Ich wage es nicht einmal, einen Blick zurückzuwerfen. Bloß ein riesiger Pfeilhagel prasselt auf den See nieder, doch so lange ich unter Wasser bleibe, bin ich sicher.

Bald jedoch scheinen tausende Stecknadeln sich in meine Lunge zu bohren, sodass ich doch wieder auftauchen muss. Während ich weiter mit hektischen Zügen aufs Ufer zuschwimme, wage ich einen Blick zurück.

Zu meiner Überraschung ist es bloß Sky, die einige Meter hinter mir durch das Wasser schwimmt. Cooper, Cora und selbst Jacek, der zumindest meine Verbündete wohl noch einholen könnte, stehen allesamt am Füllhorn.

Doch mir bleibt keine Zeit, um über das Verhalten der drei nachzudenken, denn schon spüre ich weichen Sand unter den Füßen. Mit letzter Kraft stemme ich mich aus dem Wasser heraus und stolpere ans seichte Ufer. Das Metall meines Dreizack ist mit einem Mal so glitschig, dass er mir beinahe aus der Hand rutscht.

Mein Instinkt will sofort weiter in den Dschungel rennen und so viel Distanz wie möglich zwischen meinen Körper und die Karrieros zu bringen, doch ich halte inne. Mein Blick huscht sofort zu Sky, die in diesem Moment ebenfalls aus dem Wasser gestolpert kommt. Doch ihr Anblick verheißt nichts gutes.

Ihr Bogen mitsamt den Pfeilen ist von ihrem Rücken verschwunden, offenbar haben die Karrieros ihn ihr entrissen. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper, als ich die klaffende Wunde an ihrem rechten Bein entdecke. Stark humpelt stürzt meine Verbündete auf mich zu, während ihr Bein eine rote Blutspur im Sand hinterlässt.

Sofort eile ich zu ihr und stütze sie mit meiner freien Hand. Ohne zu zögern zerre ich sie mit mir in den Dschungel hinein, doch vorher dröhnt noch einmal Coopers Stimme zu uns durch.

„Es ist noch nicht vorbei!" brüllt er uns zu, doch wir würdigen ihm und seinen Verbündeten keinen Blick mehr. Erneut versetzt seine Drohung meinem Körper eine Gänsehaut, doch sobald die ersten Äste des Dschungels uns ins Gesicht schlagen, ist sie wieder verschwunden.

So schnell es mit Skys verletztem Bein möglich ist, rennen wir in die Tiefe des Dschungels. Ich verliere jegliches Zeitgefühl und kann kaum sagen, wie viel Abstand wir zwischen uns und die Karrieros bringen. Mit einem Mal wird mir klar, dass Sky und ich mit ihnen nun die einzigen Überlebenden sind. Jenna ist tot, also besteht der Rest an Tributen nur noch aus zwei Bündnissen - Sky, ich und die Karrieros.

Plötzlich lässt das Gewicht von Skys Arm auf meiner Schulter nach. Mit einem dumpfen Aufprall stürzt meine Verbündete auf den schlammigen Dschungelboden. Erschrocken schreie ich auf und will ihr wieder hochhelfen, doch sie lässt sich bloß zusammengesunken gegen einen Baumstamm sinken.

Sofort lasse ich mich vor ihr auf die Knie sinken.

„Was ist passiert?" frage ich nervös und werfe einen Blick auf den viel zu langen Kratzer, der sich über ihr gesamtes Bein zieht. „Die Einserin und der Junge aus deinem Distrikt haben mich erwischt." zischt Sky und presst schmerzerfüllt die Lippen zusammen. Nervös atme ich aus.

„Du...kannst so auf keinen Fall weiter..." murmele ich und sehe mich verzweifelt um, als ob dort zwischen den Dschungelbäumen irgendeine Lösung auf mich warten würde.

Schließlich suche ich in unserer Tasche, die sich Sky von der Schulter geschwungen hat, nach irgendetwas, das uns aus der Situation helfen könnte. Doch das einzig nützliche, Willows Salbe, ist bereits aufgebraucht. Mit zusammengepressten Lippen will sich Sky erneut erheben, doch ich drücke sie sanft zurück auf die Erde.

„Das hat keinen Zweck. Je mehr du dein Bein belastest, desto schlimmer wird es." Skys Gesichtszüge verdüstern sich, doch sie scheint einzusehen, dass ich wohl recht habe. Verzweifelt versuche ich schließlich, mit der winzigen Klinge, die noch in unserem Rucksack liegt, einen Teil meines Jackenärmels abzuschneiden, um damit zumindest einen Teil von Skys Wunde abzudecken. Doch der Stoff ist robust und anstatt dass ich ihn zertrennt bekomme, hinterlässt die Klinge bloß gräuliche Schnittspuren an der Jacke. Hilflos blicke ich auf meine zittrigen Hände. Was soll ich tun? Es gibt nichts, absolut nichts, mit dem ich Sky helfen kann! Wie sollen wir so weitermachen? So ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ...

Eine leise, beinahe schon zwitschernde Melodie tönt auf. Es dauert einige Sekunden, bis ich realisiere, dass sie von einem Sponsorengeschenk stammt. Neue Hoffnung packt mich und eifrig richte ich mich auf, um den kleinen Fallschirm bereits mit den Händen abzufangen, bevor er auf dem Gras vor Sky landet.

Schnell reiche ich ihr die metallene Dose. Mir fällt auf, dass dunkle Blutreste an ihren Händen kleben. Mit klopfendem Herzen sehe ich dabei zu, wie Sky eine graue Rolle herausholt - Verbandszeugs!

Auch meine Verbündete erkennt ihre Rettung, und mit einem Mal ist das helle Leuchten in ihren Augen zurückgekehrt. Obwohl es kein Geschenk für mich war, forme ich mit meinen Lippen ein lautloses „Danke" an den Himmel. Wer auch immer Skys Mentor ist, er hat seine Hoffnung für sie noch nicht aufgegeben und einen Sponsor von ihr überzeugt.

Behutsam nehme ich Sky das Verbandszeug aus der Hand. Sie wirft mir einen dankbaren Blick zu, als ich beginne, es mit der kleinen Klinge zu zertrennen.

Obwohl meine Arme stark zittern, schaffe ich es schließlich, einen straffen Verband um Skys Bein zu wickeln. Es braucht mehrere Bänder, um die gesamte Verletzung abzudecken, doch schließlich bin ich fertig.

Hoffnungsvoll sehe ich zu ihr hinauf, und meine Verbündete wirft mir einen dankbaren Blick zu. Den brennenden Schmerz kann der Verband natürlich nicht heilen, doch er hält ihre Wunde davon ab, völlig zu verbluten. Mit einem Mal spüre ich, wie Sky ihre Finger auf meinen Handrücken legt.

„Danke. Wäre ich jetzt alleine, wäre ich echt am Ende." flüstert sie und wirft mir einen treuen Blick aus ihren dunklen Augen zu.

Ich schenke ihr ein Lächeln. Ein paar Minuten verharren wir noch an Ort und Stelle. Ich lasse Sky die Zeit, um sich etwas zu erholen und verstaue währenddessen alles wieder in unserem Rucksack.

„Wie wärs, du ruhst dich noch ein bisschen aus und ich halte schon mal nach einem geeigneten Versteck Ausschau? Hier können wir schließlich nicht bleiben, wer weiß, wann die Karrieros uns zu suchen beginnen." sage ich schließlich und richte mich auf.

Sky zögert einen Moment. Ihr Mund öffnet sich, doch klappt daraufhin wieder zu. „Okay, du hast recht. Es ist wohl besser, wenn ich das Bein eine Weile nicht belaste." bringt sie hervor, doch ich sehe, dass sie es ungerne sagt. Und ich kann sie verstehen - ich würde sie auch nicht gern alleine durch den Dschungel streifen lassen. Doch die Situation erfordert es nunmal. Sky würde unser Tempo nur sehr verlangsamen und viel laufen könnte sie im Moment sowieso nicht.

„Ich komme sofort zurück, sobald ich etwas gefunden habe. Vielleicht geht es deinem Bein dann schon ein wenig besser."

Sky nickt, dann mache ich mich schon auf den Weg. Vorher reiche ich ihr noch meine Wasserflasche, das letzte was wir noch an Vorräten haben. Dann umklammere ich meinen Dreizack fester und stapfe los.


Ein paar Minuten ist nur das Zwitschern der Vögel zu hören. Es sind mehr als sonst, das Feuer vor ein paar Tagen hat sie wohl alle in diese Hälfte des Dschungels vertrieben. Aufmerksam lasse ich meine Blicke durch die Umgebung streifen. Nichts als meterhohe Bäume, an deren Stämmen kaum Äste wachsen. Vermutlich würde Sky sie normalerweise trotzdem erklimmen können, doch mit ihrem Bein nicht mehr. Wir brauchen ein Versteck, das leichter zu erreichen ist. Auch, wenn das bedeutet, dass unsere Gegner uns so besser entdecken können.

Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit, als mir klar wird, dass es das erste Mal ist, dass ich wieder alleine durch die Arena streife. Nach Willows Tod waren es nur wenige Stunden, die ich ohne einen Bündnispartner verbracht habe und in denen war ich kaum ernstzunehmen. Ich wage es garnicht, an den weiteren Verlauf der Spiele zu denken. Was wird geschehen, wenn Sky und ich getrennt werden? Wenn ich es tatsächlich schaffe, unter die letzten zwei oder drei Tribute zu kommen?

Einige weitere Minuten streife ich durch den undurchdringlichen Dschungel, versunken in Gedanken. Die Luft ist schwer von Feuchtigkeit, während ich mich behutsam durch das Dickicht bewege, auf der Suche nach irgendeinem Anzeichen von geeigneten Verstecken.

Plötzlich durchbricht ein leises Rascheln meine Träumerei und mein Herz setzt einen Schlag aus. Meine Augen weiten sich vor Schreck, als ich die leuchtend gelben Augen im Gebüsch erblicke. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich realisiere, dass ich nicht allein bin.

Vor mir steht eine majestätische Raubkatze, ihr muskulöser Körper gespannt und ihre Augen voller Intensität. Es handelt sich um ein besonders großes, seltsam geflecktes Exemplar, das ich nicht einmal aus den Schulbüchern kenne. Garantiert ist es eine genmanipulierte Mutation des Kapitols.

Für einen Moment lässt mich meine Panik vollends erstarren, während ich das imposante Tier betrachte. Ihr goldenes Fell schimmert im Lichtstrahl, der sich durch das dichte Blätterdach schlängelt, und ihre scharfen Krallen glänzen gefährlich. Kein bisschen Schönheit strahlt die Kreatur aus, bloß die Entschlossenheit, der einzigen Aufgabe zu folgen, die ihr zuteil wurde - mich zu töten.

Für einen kurzen Moment begegnen sich unsere Augen, braun, blau und stechend gelb. Doch bevor ich auch nur einen Schritt zurückweichen kann, durchdringt ein lauter Schrei die Luft und durchbricht die Stille des Dschungels. Die Erkenntnis, dass er von Sky stammt, schlägt mir ins Gesicht wie eine Welle. Ich verharre nur noch eine einzige Sekunde, die Augen auf die zum Sprung ansetzende Bestie vor mir, dann renne ich los.

Mein Herz rast, als ich durch das dichte Unterholz des Dschungels sprinte, der Schatten der Raubkatze dicht auf meinen Fersen. Zweige peitschen mir ins Gesicht, Dornen reißen an meiner Kleidung, doch ich kann nicht stehenbleiben, nicht einmal für einen Moment. Jeder Atemzug brennt in meiner Lunge, doch die panische Angst treibt mich voran.

Das Grollen der Raubkatze hallt bedrohlich hinter mir wider, ihre Schritte ein bedrohliches Trommeln, das den schlammigen Boden erzittern lässt. Ich wage keinen Blick zurück, sondern konzentriere mich nur darauf, vorwärts zu gelangen - zurück zu Sky. Was ist mit ihr geschehen, dass sie so aufgeschrien hat? Haben die Karrieros sie entdeckt? Haben sie sie...

Ich wage es nicht, den Gedanken zu beenden, stattdessen sprinte ich nur noch schneller vor der Mutation des Kapitols davon. Ein riesiges Spektakel für die Zuschauer. Das Mädchen aus Distrikt vier, nicht völlig nutzlos, aber nun einem sicheren Tod durch die Raubkatze gegenüberstehend. Beinahe jedes Jahr züchten die Spielmacher eine neue Kreatur, die sie zum Ende der Spiele in die Arena setzen, um die Zahl der Tribute noch einmal um einiges zu reduzieren.

Mit letzter Kraft presche ich durch das Lianengeflecht, welches Skys Aufenthaltsort vor einigen fremden Blicken geschützt hat. Keuchend bleibe ich stehen und schaue mich um, um sie zu finden. Und tatsächlich, dann sehe ich sie. Doch der Anblick, der sich mir bietet, lässt meinen Herzschlag aussetzen.

Sky liegt am Boden und über ihr bäumt sich eine zweite riesige und fauchende Raubtiermutation auf. Verzweifelt stützt sich Sky auf ihre Hände und versucht, vor der Bestie davonzukrabbeln, doch es ist bereits zu spät. Mit einem heftigen Hieb seiner massiven Pranke hat das Tier Sky zurück zu Boden gestoßen. Sofort will ich zu ihr, doch da höre ich das wilde Fauchen der zweiten Raubkatze hinter mir. Blitzschnell fahre ich herum und blicke meinem Verfolger direkt in die zornigen gelben Augen.

Und in der nächsten Sekunde scheint sich die Welt um mich herum in Zeitlupe zu drehen. Bloß aus dem Augenwinkel sehe ich, wie mein Arm nach oben schießt, den Dreizack vorgestreckt. Ich schreie, als das schwarze Metall die Brust des Tieres durchdringt. Blind vor Schmerz brüllt die Mutation auf, und schlägt mit seinen Tatzen nach mir, bis ich mich gezwungen fühle, erneut zuzustechen. Und dann grollt die Mutation ein letztes Mal auf, bevor sie in sich zusammensackt.

Wie in einem Rausch fahre ich herum und stürze mich auf die zweite Raubkatze, die noch immer Sky unter sich begräbt. Ich vernehme bloß ein ersticktes „Lauf!" von meiner Verbündeten, bevor die Mutation auf mich zuspringt.

Und dieses Mal bin ich weniger vorbereitet. Ich versetze ihm bloß Kratzer um Kratzer auf Vorderbeine und Pfoten, die das Tier kaum beeindrucken. Beinahe reißt es mich von den Füßen, doch ich umklammere den Dreizack fester als mein Leben.

Bloß einmal noch schaffe ich es, der Mutation den Dreizack in den Rücken zu rammen. Doch das macht sie nur noch wütender. Mit großen Sprüngen und einem weit ausholenden Schlag mit der Pranke versucht die Raubkatze mich in jeder Sekunde anzugreifen.

Immer kleiner werden die Abstände zwischen uns, wenn ich versuche, ihr aus dem Weg zu springen. Langsam und mit pochendem Herzen taumele ich rückwärts auf den Baum zu, an den sich Sky gelehnt hat. In geduckter Haltung schleicht die Raubkatze auf mich zu, die gelben Augen scheinen mich zu durchbohren.

Panisch werfe ich einen Blick zur Seite - kein Ausweg. Ich rüste mich für den Schmerz, als die Raubkatze in der nächsten Sekunde erneut auf mich zuspringt. Doch nichts geschieht. Erschrocken reiße ich die Augen auf und mein Herz macht einen Satz.

Sky ist aufgesprungen, die winzige Klinge, die ich ihr gegeben habe, fest in der Hand. Ich sehe, wie der brennende Schmerz an all ihren Sinnen zerrt, doch trotzdem schafft sie es, der Mutation das Messer in die Brust zu rammen, gerade, als diese mich zu Boden wirft. Noch benommen von dem Aufprall realisiere ich erst garnicht, wie meine Hand vorschnellt und Skys Aktion beendet. Mein Dreizack bohrt sich tief in das leuchtende Fell der Raubkatze.

Die Welt vor meinen Augen verschwimmt, ich erkenne nur noch blass, wie sich die Mutation aufbäumt und brüllend von mir ablässt. Bloß aus dem Augenwinkel sehe ich Sky, die ihr ein endgültiges Ende setzt, als sie mit der Klinge in den Rücken des Tieres sticht. Ein letztes Mal brüllt die Mutation auf, bevor sie schließlich kraftlos zu Boden sinkt.

Doch meine Erleichterung währt nicht lange.

Denn im nächsten Moment klappt Sky wie ein hilfloses Kind auf dem Boden zusammen und rührt sich nicht mehr.

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