27 | Das Festmahl
Obwohl er eine riesige Wasserquelle ist, haben Sky und ich uns gestern ziemlich schnell von dem See entfernt. Nachdem ein Hovercraft die tote Liliana abgeholt hat, sind wir bloß noch einmal zurückgekehrt, um unsere einzige Flasche aufzufüllen.
Unser neues Nachtlager liegt nun aber trotzdem etwa einen Kilometer vom See und dem abgebrannten Dschungel dahinter entfernt. Hier ist die Gegend weniger dicht bewachsen, weshalb ich gestern Abend noch ein Netz aus Lianen geflochten habe, das uns zumindest etwas vor den letzten Rauchspuren und fremden Blicken schützen konnte.
Gerade durchdringen die ersten Sonnenstrahlen das dichte Blätterdach, das uns umringt. Das Feuer ist zwar inzwischen erloschen, allerdings steigen noch immer dicke Rauchwolken aus dem hinteren Teil des Dschungels auf. Ich sehe, dass auch Sky, die sich zum schlafen an einen Baumstumpf gelehnt hat, allmählich die Augen aufmacht.
Als sie mich entdeckt, nickt sie mir zu, ein kurzer Dank dafür, dass ich in den letzten paar Stunden Wache gehalten und sie schlafen lassen habe. Mir hat es ehrlich gesagt auch wenig ausgemacht - an Schlafen konnte ich letzte Nacht sowieso kaum denken. Noch zu schmerzhaft sind die Gedanken an Liliana, noch zu real das Gefühl ihres toten Körpers in meinen Armen.
Zum Glück kann mich die Produktivität, die Sky auch an diesem Morgen packt, ein wenig wieder auf andere Gedanken bringen. Ein paar Minuten lauschen wir nur dem Zwitschern der Vögel, während wir uns ein paar Schlucke aus unserer Wasserflasche und schließlich auch die letzten Kräcker untereinander aufteilen.
Nach dem kargen Frühstück habe ich noch immer Hunger. Doch wir haben keine Vorräte mehr - also schnappe mir anschließend meinen Dreizack und trete aus unserem Versteck hinaus.
Sky folgt, die Schlaufe des Rucksack über die eine und ihren Bogen über die andere Schulter geschwungen. Sie blickt für einen Moment lang prüfend durch die schmalen Bäume hindurch, die diesen Teil des Dschungels bilden.
Wie schon an den letzten Tagen warte ich darauf, dass sie entscheidet, welchen Weg wir einschlagen werden. Ich habe mich schnell damit abgefunden, dass sie einen viel besseren Orientierungssinn zu haben scheint.
„Ich denke, heute müssen wir auf jeden Fall..."
Skys Stimme verstummt, denn auf einmal ertönt ein lauter, metallener Gong. Ich erschrecke, als ich die hallende Stimme des Moderators der Hungerspiele, Claudius Templesmith, mit einem Mal direkt hier in der Arena ausmache.
„Liebe Tribute! Das Kapitol gratuliert euch, dass ihr es unter die letzen sechs geschafft habt. Eine große Leistung! Als Belohnung für euren großen Mut und den Kampfgeist, den ein jeder von euch uns nur zu gut bewiesen hat, wird das Kapitol euch heute seine Dankbarkeit zugute kommen lassen. Jedem von euch wird ein Geschenk überreicht werden - vorausgesetzt, ihr nehmt es an! Wir haben festgestellt, dass in diesem Moment jeder von euch etwas hat, was er oder sie sehr dringend benötigt. Das Kapitol war also mal wieder großzügig und hat daher für jeden von euch etwas am Füllhorn platziert. Mein ganz persönlicher Rat: Nehmt das Geschenk an, andernfalls wird es euch sicherlich sehr schwer fallen, weiterzukommen. In diesem Sinne: Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!"
So schnell wie sie kam, ist die Ansage auch schon wieder verstummt. Ein paar Sekunden starre ich bloß an den strahlend blauen Himmel, unfähig, zu begreifen, was ich da gerade gehört habe. Doch langsam wird mir klar, worauf das Kapitol hinauswill.
Ein Festmahl.
Beinahe jedes Jahr wird eins veranstaltet, meistens, damit sich die Zahl der Tribute auf zwei oder drei reduziert, damit sie ein gutes Finale haben können. Die unterschiedlichsten Geschenke werden jedem Tribut zuteil - doch dies ist eine Masche des Kapitols. Alle Tribute werden auf einen Haufen getrieben, damit ein Gemetzel entsteht. Manche haben auch die Geschenke anderer gestohlen, um selbst mehr zu besitzen und ihren Gegnern den meist überlebenswichtigen Inhalt zu entreißen.
„Wir müssen hin."
Skys Stimme reißt mich wieder aus den wilden Gedanken. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. „Die anderen Tribute können uns in jeder Sekunde töten, sobald wir am Füllhorn sind. Aber das Kapitol wird ihnen zuvorkommen, wenn wir ihrem Wunsch nicht Folge leisten."
Ich schlucke. Sky hat recht. Aus vergangenen Spielen weiß ich, dass die Tribute, die nicht zum Füllhorn gelaufen sind, auf die verschiedensten Weisen von den Spielmachern getötet wurden.
Wir müssen hin. Auch, weil unsere Vorräte nun komplett aufgebraucht sind. Das Kapitol weiß das und hat uns in jeder Sekunde genau im Auge - das wird mir noch einmal schlagartig klar.
Es dauert noch eine Weile, bis wir uns an die grobe Richtung des Füllhorns erinnert haben, dann laufen wir los. Es ist das erste Mal, dass wir kaum darauf achten, wie laut wir sind. Alle anderen Tribute haben das selbe Ziel und wir werden noch früh genug auf sie treffen.
Schnell fallen wir in einen leichten Trab, um auch auf Dauer durchzuhalten. Meine Gedanken überschlagen sich beinahe, wenn ich an das bevorstehende Gemetzel am Füllhorn denke, auf das wir nun geradewegs zulaufen.
In den letzten Jahren gab es für jeden Tribut einen Gegenstand, meist gekennzeichnet mit der jeweiligen Distriktnummer. Sky und ich müssen also nach einer Vier und einer Elf Ausschau halten - vorausgesetzt, wir stehlen nichts der anderen Tribute. Ich habe das zumindest nicht vor. Meistens bezahlt man dafür mit seinem Leben.
Und was ist, wenn wir viel zu spät ankommen? Wenn all die Sachen schon längst weg sind, und am Füllhorn bloß die Karrieros auf uns warten? Und mit ihnen Jacek? Sofort läuft mir wieder ein Schauer über den Rücken. Das letzte Mal, als ich Jacek gesehen habe, hat er Willow und mich auf der Felswand verfolgt, nur darauf hoffend, einen von uns zu töten. Und mittlerweile sind Tage vergangen und wir sind nur noch sechs Tribute - was wird in den nächsten Minuten geschehen? Wie wird er handeln, wenn er uns entdeckt? Und vor allem, wie werde ich handeln?
Mit einem Mal beginnen dicke, schwere Regentropfen vom Himmel auf die Erde zu fallen. Ein kluger Zug des Kapitols - kein Tribut hat Zeit, sich das Wasser zu Nutze zu machen. Stattdessen trägt der Regen und der düstere Himmel nur dazu bei, dass das Festmahl noch dramatischer aussehen wird.
Meine Haare kleben schon vor Nässe an meinem Gesicht, als wir schließlich das Glitzern des Sees in der Ferne ausmachen. Auf der Stelle machen Sky und ich halt und ich sehe sie durch den Regenvorhang hindurch an.
„Dann beginnt es also." höre ich sie noch entschlossen sagen, bevor ich meinen Dreizack fester packe und wir uns mit langsamen Schritten auf den Dschungelrand zuschleichen. Bald sind es nur noch wenige Äste, die uns von dem Sand, der den See des Füllhorns umringt, trennen.
Nervös lasse ich meine Blicke über das Wasser schweifen, was spiegelglatt und bedrohlich ruhig vor uns liegt. Bloß das Prasseln der Regentropfen ist zu hören. Verstohlen blicke ich zurück in den Dschungel hinter uns, doch kein anderer Tribut scheint in unserer Nähe zu sein. Vermutlich beobachten sie das Füllhorn gerade von den anderen Seiten.
Also schaue auch ich zurück zu dem silbernem Konstrukt, das sich durch den dunklen Himmel und den Regenvorhang aber schon in ein unspektakuläres Grau verwandelt hat. Ich kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Schließlich mache ich, direkt vor dem Füllhorn, einen langen schwarzen Tisch aus.
Neugierig lehne ich mich ein Stück vor, um zu verstehen, was dort drauf platziert ist, doch ich kann es nicht erkennen. Ich werfe einen fragenden Blick zu Sky neben mir, doch sie zuckt mit den Schultern. Vielleicht liegt auf dem Tisch ja einfach eine Kiste, die mit den verschiedenen Geschenken gefüllt ist.
Verstohlen lasse ich meine Blicke über den gesamten Strand schweifen, doch es fehlt jede Spur von anderen Tributen. Sind sie vielleicht noch garnicht da? Verlassen Sky und ich gerade womöglich unsere einzige Chance auf einen ungefährlichen Aufenthalt am Füllhorn?
Meine Verbündete scheint den gleichen Gedanken gefasst zu haben, denn sie wirft mir einen fragenden Blick zu. Gerade will ich den Mund aufmachen, um meine Überlegungen zu teilen, da halte ich mit einem Mal inne.
Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Gestalt, die auf einmal auf dem Wasser auftaucht und sich am Rand des Füllhorns hochstemmt. Sie hat sich wohl auf eine so unauffällige Weise angeschlichen, dass weder Sky noch ich sie vorher bemerkt haben.
Mit Erstaunen erkenne ich schließlich Jenna aus Distrikt fünf an ihren buschigen Locken. Der triefende Regen und das Wasser des Sees tropft von allen Seiten an ihrem Körper hinab, als sie schließlich vor dem Tisch stehenbleibt. Mit klopfendem Herzen sehe ich ihr dabei zu, wie sie reglos verharrt.
Worauf wartet sie? Die Möglichkeit eines leeren Füllhorns sofort zu nutzen war unglaublich klug, doch warum zögert sie jetzt? Vermutlich habe ich nicht gesehen, wie sie sich etwas genommen hat, denn schon wendet sich die Fünferin wieder zum Gehen - doch dann wartet auf sie eine böse Überraschung.
Aus dem Schatten des Regenvorhangs links und rechts vom Füllhorn treten mit einem Mal drei riesige Gestalten auf Jenna zu. Cooper, Cora und Jacek. Für einen Moment bemerkt Jenna die Karrieros garnicht, die wohl von der anderen Seite gekommen sind. Ich halte den Atem an, als sie ihre Gegner dann aber doch entdeckt und einen panischen Satz nach hinten macht.
Doch es ist bereits zu spät. Cora ist sofort bei ihr und packt die zierliche Fünferin am Arm. Mit vereinten Kräften wehrt sie sich, doch Cora ist ihr meilenweit überlegen. In nur wenigen Sekunden hat sie es geschafft, sie zu Boden zu stoßen und will gerade zum Hieb mit ihrem Kurzschwert ausholen, da lässt sich Jenna in letzter Sekunde rückwärts ins Wasser fallen.
Cora schreit genervt auf, springt jedoch ohne zu zögern hinterher. Einige Sekunden haben die Wassermassen des Sees die beiden völlig verschluckt. Sky und mir bleibt nur noch der Blick auf Cooper und Jacek, die sich um den Tisch versammelt haben. Ihr aufgeregtes Stimmengewirr deutet darauf hin, dass sie wohl über etwas diskutieren.
Mit pochendem Herzen entdecke ich dann auch wieder die Köpfe von Cora und Jenna über Wasser, doch die Karrieretributin hat ihre Gegnerin bereits im Griff. Blitzschnell schlingt sie ihren Arm um Jennas Hals, sodass diese sich bloß noch verzweifelt unter ihr winden kann. Und dann drückt Cora ihren Kopf unter Wasser.
„Wir müssen es riskieren. Wir müssen los. Sonst sind alle Vorräte weg."
Skys Stimme dringt nur gedämpft, wie durch die Wasseroberfläche zu mir durch. Zweifelnd sehe ich zurück zum Füllhorn - ist das wirklich eine so gute Idee? Doch was bleibt uns anderes übrig? Egal, was dort am Füllhorn für uns liegt, die Karrieros werden es nicht einfach dort lassen und gehen. Wir haben keine Vorräte mehr - es ist unsere einzige Hoffnung.
Also nicke ich.
Keine Sekunde später stürzt Sky aus unserem Versteck hinaus auf den Sand, der von dem vielen Regen bereits ganz nass geworden ist. Ich nehme all meinen Mut zusammen und folge ihr.
Unaufhörlich prasseln die Regentropfen auf mich ein, als ich mit schnellen Schritten auf den See vor uns zusprinte. Den Dreizack fest umklammert, fokussiere ich mich nur auf unser Ziel - das Füllhorn.
Ein donnernder Kanonenschlag lässt mich heftig zusammenzucken.
Sofort schnellt mein Blick zu der Stelle, an der Cora und Jenna soeben noch miteinander gekämpft haben - doch jetzt schwimmt dort nur noch eine blasse Gestalt reglos im Wasser und neben ihr reißt Cora demonstrativ die Faust in die Höhe.
Mir bleibt jedoch nicht eine Sekunde, um bei dem Anblick zu verweilen, denn mit einem Mal höre ich Coopers Stimme durch die Luft dröhnen. Er hat Sky und mich entdeckt - und mit ihm jetzt auch seine Verbündeten.
Ohne nachzudenken stürze ich mich in den warmen See hinein und tauche keine Sekunde später unter. Ich kann nur hoffen, dass Sky hinter mir das selbe tut. Unterwasser höre ich für einen Moment lang nur das Rauschen des Sees und das sanfte Plätschern des Regens auf der Oberfläche, bis ich beginne, mit kräftigen Zügen auf das Füllhorn zuzutauchen.
Doch bald erkenne ich durch das klare Wasser hindurch die Bodenplatte des Füllhorns. Meine Kraft reicht bloß noch für die letzten Züge aus, dann muss ich einfach nach oben tauchen und mich im nächsten Moment am Rand des Füllhorns hinaufziehen.
Sofort klatscht mir wieder der wilde Regen ins Gesicht, doch mir bleibt keine Sekunde, um zu verharren. Instinktiv greife ich meine Waffe fester, denn schon stürzt sich der massive Cooper auf mich. In seiner Hand blitzt ein riesiges Schwert - mit großem Entsetzen stelle ich fest, dass es das selbe ist, mit dem er Willow umgebracht hat.
Doch mir bleibt nicht eine Sekunde, um daran oder an Sky hinter mir zu denken, denn im nächsten Moment zischt Coopers Klinge bloß wenige Zentimeter über meinem Kopf vorbei. Im letzten Moment schaffe ich es, ihr auszuweichen und hechte los in Richtung des Tisches. Keine Sekunde später höre ich die massiven Schritte meines Verfolgers hinter mir, doch schon bin ich bei dem metallenen Podest angelangt.
Aber mit einem Mal scheint die Welt um mich herum wie in Zeitlupe zu erstarren. Hastig lasse ich meine Blicke über die schwarze Oberfläche des Tischs schweifen - doch dort liegt nichts außer einem winzigen, völlig durchnässten Laib Brot.
Und mit einem Mal wird mir schlagartig klar, warum kein Tribut vor uns etwas genommen hat. Vor uns liegt einfach nur eine unfassbar gemeine Falle des Kapitols, bloß kreiert, um mit unseren Leben zu spielen.
Meine kurze Unaufmerksamkeit wird unmittelbar bestraft. Bloß aus dem Augenwinkel sehe ich Cooper und ich weiß nicht, wie ich es schaffe, noch in letzter Sekunde seinen Hieb mit meinem Dreizack zu parieren. Und ehe ich mich versehe, befinde ich mich mitten in einem erbitterten Kampf mit dem Karriero. Klirrend schlägt das Metall unserer Waffen aufeinander. Erbarmungslos schlägt Cooper auf mich ein, die Kraft aus jahrelangem Training und die Wut aus fast zwei Wochen Überlebenskampf hinter jedem Hieb.
Die Sekunden scheinen sich zu Stunden zu dehnen, und ich merke bereits, wie mich meine Kraft verlässt. Aus dem Augenwinkel sehe ich Sky, die es sogar mit Cora und Jacek gleichzeitig aufnehmen muss. Erneut kann ich einem Hieb nur um Haaresbreite ausweichen - ich kann diesen Kampf nicht gewinnen.
Und mit einem Mal fasse ich einen gefährlichen Entschluss. Gerade, als Cooper erneut zustechen will, wage ich einen kräftigen Satz nach hinten. Ich verziehe mein Gesicht zu einem panischen Gesichtsausdruck und schlage die Hand vor den Mund. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich an Cooper vorbei.
Und mein Plan hat tatsächlich funktioniert.
Eine Sekunde lang hält mein Gegner inne und folgt meinem Blick - der natürlich ins Leere geht. Ich nutze den kurzen Moment und renne ohne zu zögern auf den See zu. In Windeseile springe ich mit einem Satz in das Wasser.
Ein letzter Blick gilt meiner Verbündeten, die noch immer gegen zwei Karrieros gleichzeitig kämpft. Und kurz bevor mich die dunklen Wassermassen umschlingen, höre ich Skys Schrei.
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