25 | Abmachung

Der heutige Tag verläuft quälend langsam.

Irgendein schwacher Funken in mir bringt mich dazu, mein letztes bisschen Kraft für die Kameras noch zu behalten, doch trotzdem habe ich das Gefühl, ich bekomme es kaum mit, wie ich durch den Dschungel wandere.

Das Metall des Dreizacks in meiner Hand scheint durch die Hitze förmlich zu brennen, doch nicht nur das führt dazu, dass ich ihn mehrmals am liebsten einfach davon schleudern würde.

Immer wieder taucht die Szene vor meinen Augen auf, in der Coopers Schwert Willows Körper durchbohrt. In der ich für einen bloßen Moment kurz einfach nur dort sitze, unfähig, auch nur irgendetwas zu tun und dann den Karriero in einem Rausch aus Wut und Trauer völlig überraschend angreife.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich daran denke, wie das für die Zuschauer wohl ausgelesen hat, als ich wutentbrannt auf den Zweier eingeschlagen habe, bis er sogar bewusstlos geworden ist.

Ich, Librae Olgivy!

Als ich im Laufe des Tages schließlich an unserem alten Nachtlager ankomme, ist Cooper zum Glück verschwunden. Nicht irgendetwas weist daraufhin, dass zwischen den sonnenbeschienenen Gräsern und Bäumen vor wenigen Stunden noch so ein schrecklicher Kampf stattgefunden hat.

Wo Cooper jetzt wohl ist? Wie lange hat es gedauert, bis er wieder zu Bewusstsein gefunden hat? Ist er zu den Karrieros zurückgekehrt? Die vielen Gedanken schwirren in meinem Kopf umher und ich spüre, wie schmerzende Druckwellen durch meine Stirn flammen.

Schnell tragen mich meine Arme und Beine den hohen Baum hinauf, auf dem zum Glück noch unser Rucksack liegt, unversehrt und gut versteckt zwischen dichten Ästen. Seufzend schwinge ich mir die Tasche über die Schultern und sofort macht sich ihr Gewicht auf meinen schmerzenden Schultern bemerkbar.

Mein Körper hat in den letzten Stunden kaum Schlaf gefunden, dadurch, dass Cooper Willow mitten in der Nacht angegriffen hat. Ob er mich überhaupt gesehen hat, als ich in der Dunkelheit auf ihn zugerannt bin und ihn angegriffen habe? Ich habe es ja selbst kaum bemerkt.

Doch so oder so - er hat sein Ziel erreicht. Willow ist tot.

Sobald der Gedanke wieder völlig ausgesprochen ist, zieht sich erneut alles in mir zusammen. Vor meinen Augen tauchen schleierhafte Bilder davon auf, wie Cooper mich für meine Aktion bezahlen lässt, genau wie er es bei Willow getan hat.

Es fällt mir nur wenig schwer, unser altes Versteck schließlich wieder zu verlassen, zu schmerzlich sind die Erinnerungen an das Geschehene.

Doch trotzdem, die ersten paar Minuten, die ich fortgehe, sind seltsam. Die Trauer hat mich immer noch stark gepackt und es fühlt sich so seltsam an, einfach alleine weiterzugehen - das erste Mal seit Tagen.

Doch ich muss wieder zu Kräften kommen. Ich darf nicht aufgeben. Für meine Geschwister. Egal, was geschieht, am Ende zählen nur ihre Leben. Und ich bin dafür verantwortlich.

Ich straffe meine Schultern und versuche das letzte bisschen Haltung zu bewahren, die mir die sieben Tage Arena noch übrig lassen. So wachsam wie möglich richte ich meinen Blick nach vorne anstatt hinab auf den Boden.

Was die Sponsoren wohl jetzt über mich denken? Ich habe mich schon beinahe zu einem zornigen Karriero verwandelt, als ich Cooper angegriffen habe und doch bin ich vor Tränen beinahe zusammengebrochen, als Willow in meinen Armen gestorben ist.

Ist mir überhaupt noch irgendeine Unterstützung zuteil? Habe ich mein Sponsorengeschenk vor ein paar Tagen womöglich nur bekommen, weil ich mit Willow verbündet und so in einer relativ guten Lage war? Wer bin ich allein? Habe ich überhaupt noch eine Chance? Was wird geschehen, wenn ich mich gegen die Karrieros behaupten muss?

Mit der Zeit versinkt die Sonne langsam wieder hinter dem Horizont und der nahende Abend erinnert mich daran, eine Pause einzulegen.

Zwischen dem Schutz zweier Baumstämme lasse ich mich schließlich ins spärliche Gras sinken, lasse den Dreizack fallen und öffne vorsichtig den Rucksack. Ein paar Minuten später habe ich ein paar der Kräcker gegessen, die Willow und ich am Füllhorn ausgemacht haben und etwas aus unserer Flasche getrunken.

Die letzten Sonnenstrahlen bescheinen durch das dichte Blätterdach hindurch das Versteck und wärmen mein Gesicht. Langsam wird es wieder still in der Arena, eine gruselige, einsame Stille, wie das Warten auf einen Sturm.

Erschöpft verstaue ich meine Vorräte wieder in der Tasche, verschließe sie und lehne sie neben mir an einen Baumstumpf. Ich lasse meine Blicke über den Dreizack, der neben mir im Gras liegt, schweifen, und mit einem Mal packt mich der Gedanke, ihn die Nacht über in der Hand zu behalten.

Ich habe in vergangenen Spielen schon viele Tribute gesehen, die ihre Waffen nicht einmal in der Dunkelheit losgelassen haben, doch meist konnte sie das trotzdem nicht verteidigen, wenn sie aus dem Hinterhalt angegriffen wurden.

Doch trotzdem...

Ritsch.

Ich schrecke auf.

Ein silberner Pfeil hat gerade nur um Zentimeter meinen Kopf verfehlt und steckt nun im Gras neben mir. Erschrocken greife ich meinen Dreizack, springe auf und versuche mich nach meinem Gegner umzusehen - doch es ist zu spät.

Ritsch.

Mit einem Mal flammt ein stechender Schmerz in meinem Bein auf und sofort sehe ich an mir hinab. Ein silberner Pfeil hat meinen Unterschenkel genau an der Stelle gestreift, an der mich Kiaro vor einigen Tagen verletzt hat. Sofort spüre ich, wie warmes Blut meinen Fuß hinunterläuft und Wellen des Schmerzes die nun erneut aufgerissene Wunde durchfluten.

Nach Luft schnappend springe ich einige Schritte zurück und werfe panische Blicke in die Richtung, aus der die Pfeile gekommen sind - der Himmel.

Mit zittrigen Händen umklammere ich das Metall des Dreizacks und sehe in die tiefgrünen Baumkronen über mir hinauf. Jemand hat mich entdeckt und beobachtet mich, soviel steht fest. Verstecken bringt nichts mehr. Ich fasse all meinen Mut zusammen und rufe: „Wer ist da?"

Keine Antwort.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich langsam, doch sicher rückwärts nach hinten trete. Wer auch immer dort oben ist, mir bleibt kaum eine Chance, wenn ich ihn nicht sehen kann. Für einen Moment lang verharre ich noch, jeden einzelnen Muskel meines Körpers angespannt und auf alles vorbereitet, was kommen mag, doch dann geht alles ganz schnell.

Mit einem Mal kommt eine Gestalt mehrere Meter aus dem Schutz einer Baumkrone auf dem Boden gesprungen und kommt genau vor mir auf dem Boden auf. Mein Herz macht einen Aussetzer, als die Tributin mit bloß einem Hechtsprung bei mir ist, einen Pfeil eingelegt. Ohne zu erkennen, wer es ist, verschließe ich die Augen und mache mich auf das schlimmste gefasst.

Doch nichts geschieht. Bloß das unaufhörliche Klopfen meines Herzens durchdringt die Stille. Vorsichtig öffne ich die Augen und nehme zum ersten Mal wahr, wer gerade vor mir steht.

Das Mädchen aus Distrikt elf - Sky.

Ihr lockiges Haar fällt nicht mehr in so gleichmäßigen Wellen von ihren Schultern wie im Trainingscenter und auch ihr Gesicht ist nicht mehr makellos. Dunkle Kratzer überziehen ihre Wangen und Dreck und Sand findet sich beinahe auf jedem Zentimeter ihrer Haut. Doch die karamellfarbenen Augen leuchten genau so wachsam, wie Willows es immer getan haben.

Unfähig, auch nur irgendein Wort zu sagen, starre ich mein Gegenüber an.

„Ich dachte, du wärst die aus fünf." sagt Sky plötzlich.

Ein paar Sekunden herrscht eine seltsame Stille zwischen uns, in denen unsere Blicke den anderen beinahe zu durchbohren scheinen. Die Hand, in der ich meinen Dreizack halte, zuckt, bereit, jeden plötzlichen Angriff abzuwehren. Doch keiner geschieht. Stattdessen senkt Sky mit einem Mal ihren Pfeil und streckt mir ihre freie Hand aus.

„Das Angebot aus dem Trainingscenter steht noch?" fragt sie mit klarer Stimme, während ihre braunen Augen mich prüfend mustern.

Für einen Moment zögere ich und starre bloß auf ihre ausgestreckte Hand. Was bedeutet es, wenn ich sie ergreife? Kann ich Sky überhaupt so plötzlich vertrauen? Was ist, wenn sie gelogen hat und mich garnicht mit der Fünferin verwechselt hat?

Doch, auf der anderen Seite, was bleibt mir anderes übrig? Eine falsche Bewegung von mir und Skys Pfeil landet in meinem Herz. Einen Kampf würde ich nicht gewinnen, selbst, wenn sie keine Nahkampfwaffen hat. Die sieben Tage Arena scheinen mir viel mehr in den Knochen zu sitzen als ihr.

Und außerdem - unser Gespräch im Trainingscenter musste doch irgendwas zu bedeuten haben. Warum sonst hat mein Instinkt mir gesagt, dass es richtig ist, mich mit Sky zu verbünden? Ich hole also noch einmal tief Luft, dann ergreife ich ihre Hand.

„Abgemacht."


In den nächsten Minuten besteht Sky unwillkürlich darauf, die Verletzung, die sie mir zugefügt hat, zu versorgen. „So kannst du nicht laufen." sagt sie, während sie mit ihren Händen mein Bein abtastet wie eine Ärztin.

„Setz dich am besten hin." murmelt sie mir zu und zögerlich lasse ich mich ins Gras sinken. Nervös sehe ich zu meiner neuen Verbündeten hinauf, doch ihre Züge scheinen sich gelockert zu haben. Daraufhin verlässt auch mich allmählich die Anspannung, doch das hat zur Folge, dass sich der Schmerz in meinem Bein wieder bemerkbar macht.

Ich verziehe das Gesicht und versuche den Blick von der blutenden Wunde abzuwenden.

Stattdessen sehe ich wieder zu Sky, die mir jedoch keines Blickes würdigt. Ihre Augen durchkämmen die nähere Umgebung des dichten Gestrüpps, als würde sie nach etwas Ausschau halten. Sucht sie etwa nach etwas, mit dem sie meine Wunde verarzten kann? Gibt es vielleicht bestimmte Kräuter oder Pflanzen, die Schmerz lindern oder eine Entzündung vorbeugen können? Wenn sie so etwas wie Pflanzenheilkunde beherrscht, ist dies vielleicht einer der Gründe für ihre Neun in der Bewertung.

Eine Weile noch warte ich gespannt darauf, ob Sky tatsächlich etwas ausmacht, mit dem sie mir helfen kann, doch schließlich übermannt mich der flammende Schmerz in meinem Bein. Sky hat recht - damit werde ich auf keinen Fall schnell laufen können. Mit einem Mal kommt mir eine Idee.

Natürlich! Ich habe doch noch die Salbe, die Willow als Sponsorengeschenk bekommen hat! Neue Hoffnung packt mich und schnell ziehe ich den Reißverschluss meiner Tasche auf, um ein paar Sekunden später die kreisförmige Schale mit der kapitolsgemachten Heilung hinauszuholen.

Doch sobald ich es in den Händen halte, schleicht sich mir ein ungeheures schlechtes Gewissen ein. Eigentlich hat sie Willow gehört, ihr allein. Sie hat sie bekommen, nicht ich. Steht es mir überhaupt zu, sie zu benutzen?

Sky reißt mich aus meinen Gedanken. „Hey, das ist genial!" Sofort lässt sie sich neben mir auf die Knie sinken und begutachtet die Schale in meiner Hand. „Hast du die mal als Sponsorengeschenk bekommen?" fragt sie neugierig, während ich den Deckel aufschraube.

Eine eiskalte Hand scheint sich um meinen Hals gelegt zu haben. „Nein, sie ..." stottere ich, doch meine Stimme bricht. Skys Miene verdüstert sich.

„Hat sie einem Verbündeten von dir gehört?" hilft sie mir nach. Eifrig nicke ich und tatsächlich finde ich dann auch meine Stimme wieder.

„Ja, das hat sie. Bis vor einem Tag war ich noch mit ... dem Mädchen aus Sieben verbündet. Willow. Sie hat viele Geschenke bekommen, darunter auch das hier." bringe ich hervor und schlucke schnell den Kloß hinunter, der sich angesichts der Erwähnung von Willows Namen sofort in meinem Hals bildet.

Einen Moment lang sieht mich Sky an und es sieht so aus, als wollte sie etwas fragen, doch die Worte wollen nicht über ihre Lippen kommen. Ich weiß, was sie wissen möchte. Ich seufze tief und sage bloß: „Karriero."

Obwohl Sky die Antwort darauf, warum Willow nicht mehr bei mir ist, nun klar ist, verdüstern sich ihre Züge. Mit ihren Lippen formt sie einen Fluch, spricht ihn jedoch nicht aus.

Während ich die beruhigend kühle Salbe auf dem schmerzenden Bein verteile, setzt sich Sky mit den Rücken an den Baumstamm, der neben mir steht und legt Pfeil und Bogen endgültig ab. Nach einer Weile habe ich die Salbe wieder im Rucksack verstaut und lehne mich ebenfalls an einen Baumstumpf hinter mir.

Erschöpft atme ich die warme Abendbrise ein.

Für ein paar Minuten lang hören wir beide nur dem Zwitschern der letzten Vögel zu, bis ich Sky schließlich etwas von meinen Vorräten anbiete. Sie nimmt dankend an und ich sehe ihr an, dass sie seit längerem nichts gegessen zu haben scheint. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, mit Willow noch einen relativ großen Vorrat an Essen und Wasser gefunden zu haben. Als Sky schließlich auch ein paar Schlucke aus der Flasche getrunken hat, verstaue ich alles wieder in meiner Tasche und schiebe sie etwas abseits.

„Ich denke, ich kann heute Nacht Wache halten. Ruhe du dich am besten etwas aus." sagt Sky nach einer Weile und wirft mir einen beinahe schon warmherzigen Blick zu. Gerade will ich mich bei ihr bedanken, da durchbricht der schallend laute Klang der Kapitolshymne die Stille der Arena.

Ein Netz scheint sich um meinen Hals zu schnüren, als sich in blauen Lettern die Worte „Die Gefallenen" vor dem dunklen Nachthimmel abzeichnen.

Zum ersten Mal seit langem wieder greife ich instinktiv nach Annies Armband, das noch immer um mein Handgelenk baumelt. Mit zittrigen Fingern streiche ich immer wieder über die hölzernen Perlen, während ich zum Himmel hinaufstarre und mich auf das Schlimmste gefasst mache. Keine Sekunde später ist es da.

Ihr Gesicht.

Willows Gesicht. Düster, kriegerisch, stark. Genau so wollte das Kapitol sie haben und genau so haben sie sie bekommen. Ich starre zu dem Paar Augen hinauf, die in der Animation jedoch ihr grünes Licht verloren haben. Trotzdem leuchten sie dort oben noch immer so wachsam, so echt, so lebendig...

So schnell wie es gekommen ist, ist es auch schon wieder weg und zurück bleibt nur ein klaffendes Loch in meinem Herzen. Erst jetzt bemerke ich, dass Skys Blick auf mir liegt. Schnell wische ich über mein Gesicht, auf dem sich Tränen gebildet haben, bevor ich zu ihr sehe. In ihren Augen liegt Mitgefühl, aber auch so etwas wie ... Dankbarkeit.

Dankbarkeit wofür?

„Ich habe gesehen, was sie mit dem Jungen aus meinem Distrikt gemacht hat." beginnt Sky und weist mit einer Kopfbewegung gen Himmel, an dem das Portrait von Willow jedoch bereits verblasst ist. Ich schlucke. Sky hat also gesehen, wie Willow und ich so tatenlos zugesehen haben, wie Jacek den kleinen aus ihrem Distrikt getötet hat?

„Schon gut." sagt meine Verbündete plötzlich.

„Ihr habt das richtige getan. Obwohl ich es mir nie eingestanden hätte, ich wusste von Anfang an, dass für Rye niemals Hoffnung bestanden hat. Trotzdem habe ich ihn aus irgendeinem Grund die ersten Tage die ganze Zeit im Auge behalten, um sicherzustellen, dass ihm nichts passiert...und dabei habe ich wohl versagt. Ich kannte ihn von zuhause, er geht in die selbe Schulklasse wie mein kleiner Bruder und ich habe ihm versprochen, dass ich auf ihn aufpassen werde."

Die letzten Worte zischt Sky schon beinahe wütend.

Eine Welle von Mitleid flammt in mir auf, da ich ihren Charakter nun etwas genauer kennengelernt habe. Sie scheint ein unfassbar beschützender und fürsorglicher Mensch zu sein, vermutlich bedingt durch ihre stetige Rolle als große Schwester.

„Du...du hast alles menschenmögliche getan. Dass du die ganze Zeit bei ihm geblieben ist, ist mehr, als andere Tribute je hatten." flüstere ich beinahe schon, doch Sky hört meine Worte trotzdem. Ein zartes Lächeln umspielt für einen kurzen Moment ihre Lippen und für ein paar Sekunden blickt sie beinahe schon wehmütig an den sternenübersäten Nachthimmel.

Ich erwische mich dabei, wie mit einem Mal eine große Sympathie für meine Verbündete in mir aufflammt, doch mit ihr der bittere Gedanke, dass nur eine von uns überhaupt die Chance hat, hier wieder herauszukommen.

Wie lange wird dieses Bündnis noch halten?

Und vor allem, was hält es noch für uns bereit?

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