24 | Muschelkette
Ein Geräusch wie nass zerreißendes Papier ertönt. Meinen Schrei höre ich erst, als es zu spät ist. Kraftlos sackt Willows Körper in sich zusammen und dunkelrotes Blut verfärbt ihre Jacke. Einzig und allein die grünen Augen leuchten noch in der Dunkelheit, die mich plötzlich umfängt.
Ich taumele vor - es ist noch nicht zu spät.
Die Welt um mich herum verschwimmt, bloß ein einziges Meer aus Dunkelheit und Blut, während sich düstere Gedanken wie Schatten in meinem Geist winden. Das Chaos meiner Emotionen wirbelt in meinem Inneren und ich fühle mich wie gefangen in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.
Ich sehe hinab auf meinen Körper, der garnicht mehr meiner zu sein scheint. Ohne jegliches Bewusstsein für meine Handlungen, stürze ich auf Cooper zu. Noch immer steht er dort, das blutbefleckte Schwert in seiner Hand.
Mit jedem Schritt, den ich näher komme, scheint die Zeit zu verlangsamen, jeder Augenblick gedehnt und verzerrt, als würde alles in einem Schrei des Entsetzens erstarren.
Meine Faust kracht auf Cooper nieder, wieder und wieder, ein wildes Stampfen meines Herzens im Einklang mit dem dumpfen Klang des Aufpralls. Das Blut pulsiert in meinen Adern, meine Sinne benebelt von einem verzerrten Rauschen, das alles andere übertönt.
Ich verliere die Orientierung - wo bin ich, wann bin ich, wer bin ich?
Rumms.
Ein dumpfer Aufprall auf dem Boden. Verschwommen sehe ich die Umrisse von Cooper - ich habe ihn zu Boden geschubst. Jegliche Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen - doch er ist nicht tot, nur bewusstlos. Er mag zwar lebendig sein, aber nicht so wie Willow, die neben ihm am Boden liegt. Ihr Leben entweicht aus ihr wie ein Fluss aus einem gebrochenen Damm.
Mit einem Mal schnappe ich nach Luft wie eine Ertrinkende. Mit rasselndem Atem blicke ich hinab auf meine zitternden Hände. Habe ich Cooper umgebracht?
Sofort treffen meine Blicke den am Boden liegenden Körper des Karrieros - bloß ein dunkler Umriss. Ich starre auf den Dreizack in meiner Hand - kein Blut. Mein Blick schnellt zurück zu Cooper - sein Brustkorb hebt und senkt sich. Er ist nicht tot. Doch eine rote Blutspur rinnt aus seinem Mund, welche in der Dunkelheit der Nacht beinahe schon schwarz wirkt.
Was habe ich ihm angetan?
Die Antwort ist bloß mein rasselnder Atem.
Und dann ...
„Librae..."
Ein beinahe tonloses Flüstern, direkt hinter mir.
Willow!
Ich fahre herum, und mit einem Mal nehmen mir Tränen die Sicht. Meine Hände finden ihren Körper, der auf einmal so winzig und zerbrechlich wirkt. Ich presse sie an mich und ziehe ihre Arme um meine. Und dann tragen mich meine Beine fort, einfach nur fort. Renne ich für Sekunden? Minuten? Stunden? Ich verliere jegliches Zeitgefühl, das einzige, was ich spüre, ist der schlaffe und kleine Körper eines Kindes, das ich in meinen Armen trage.
Und dann breche ich irgendwann zusammen.
Jegliche Kraft entweicht mir und zurück bleibt nur der weiche Dschungelboden und mein Aufprall, abgefedert durch dichtes Gestrüpp. „Willow?" höre ich das entferne Wimmern meiner Stimme. Wo ist sie? Ist sie schon tot? Habe ich sie womöglich schon vor Minuten einfach aus meinen Armen fallen lassen?
Doch mit einem Mal höre ich eine Stimme.
„Ich bin hier."
Sofort fahre ich herum, doch jegliches Glück weicht aus meinem Herzen, als ich sie sehe. Bloß ein bleicher, zusammengerollter und blutender Körper direkt vor mir. Doch nein, sie ist noch am Leben!
„Ich bin hier." ertönt Willows Stimme erneut.
Langsam fügen sich die Scherben vor meinen Augen wieder zu einem ganzen Bild zusammen. Mit einem Mal mache ich Willows Gesicht wieder vor mir aus - es wirkt beinahe so, als hätte das silberne Mondlicht es beschienen. Doch ein Blick auf ihre tiefe, blutende Wunde genügt, um mir erneut Tränen in die Augen steigen zu lassen. Alles in mir zieht sich zusammen.
„Es...es tut mit so leid..." bringe ich hervor, doch meine Stimme bricht.
Willow wird sterben!
Und ich habe nichts, absolut nichts getan, um das zu verhindern. „Du trägst keine Schuld." bringt Willow plötzlich hervor, und mit einem Mal ist ihre Stimme so glasklar wie all die Tage zuvor. Aber sie kann, nein, sie wird nicht weiterleben!
Doch erneut erhebt das Mädchen ihre Stimme, die Augen vor Schmerz schon beinahe verschlossen. „Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, aber..."
Ein noch lauterer Schluchzer entfährt mir und wie ein kleines, weinendes Kind sehe ich zu meiner sterbenden Verbündeten hinab. „Es gibt noch etwas, was ich dir sagen möchte. Ich denke, es wäre nicht fair, dir einen Teil der Wahrheit für immer ungewiss zu lassen."
Nicht fair? Das einzige, was nicht fair ist, ist dass Willow sterben muss! Doch meine Verbündete spricht weiter. „Ich habe dich angesehen bei der Einführungsfeier. Ich habe dir beim Training geholfen. Und ich bin mit dir unser Bündnis eingegangen. Hast du dich nie nach dem Grund dafür gefragt?"
„Doch, aber... jetzt ..."
Erneut bricht meine Stimme ab.
„Du erinnerst mich an meine Mutter, Librae. Sehr sogar. Und das sage ich nicht einfach nur so. Nein, als sie noch lebte, hatte sie genau das selbe Licht in ihren Augen. Genau das selbe Lächeln. Genau die selbe Art. Sie ... hat stets an andere gedacht und dabei niemals an sich selbst. Genau diese Eigenschaften trägst auch du in dir." haucht Willow und in ihren Augen glitzern mit einem Mal Tränen.
Mein Körper schüttelt sich und Feuchtigkeit läuft über meine Wangen.
Wie schafft es Willow nur, in solch einem Moment noch die passenden Worte zu finden, während ich bloß auf sie hinabsehe wie ein flehendes Kind, unfähig, auch nur einen Satz zu sagen? Das einzige, was ich schaffe, ist meine zittrige Hand nach ihrer auszustrecken, bis sich ihre eiskalten Finger um meine wickeln.
Eine stumme Träne rinnt an ihrer Wange hinab, während das grüne Leuchten ihrer Augen langsam erlischt, als sie sie verschließt.
„Die Lichter der Wälder warten auf dich."
Die Worte verlassen meine Lippen, ohne, dass mein Kopf sie vorher gehört hat.
Ein letztes Mal bildet sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens aus Distrikt sieben.
Ich drücke ihre Hand noch fester und für einen kurzen Moment erwidern ihre Finger den Druck. Doch dann weicht der letzte Rest Leben aus ihnen wie der Schein der Sonne hinter dem Horizont. Der donnernde Schlag der Kanone durchreißt die schreckliche Stille.
Ich ziehe Willow zu mir, bloß, um einige Sekunden später zu begreifen, dass in meinen Armen ein totes Kind liegt. Eine nach der anderen fallen meine Tränen auf Willows Wangen - und doch sieht sie schon beinahe friedlich aus, tief in meinen Armen eingebettet und die Augen für immer verschlossen.
Ich weiß nicht, wie lange ich verharre, bis ich mich wie in einer Trance wieder bewege und ihr den Bogen von der Schulter nehme, genau so den Köcher mir den Pfeilen.
Einen Moment lang überlege ich, beides in ihren Händen zu verschließen. So ist es eine Tradition bei uns zuhause - jedem Verstorbenen wird von den Angehörigen jeweils eine Muschelschale in die Hände gelegt. Dann wird daraus eine Muschelkette geflochten, sodass man am Ende immer noch ein ganz eigenes Meeresflüstern bei sich trägt.
Doch wir sind weder in Distrikt vier, noch lassen sich Muschelschalen mit einer Waffe vergleichen. Ich möchte Willow nicht so zurücklassen - als eine dreizehnjährige Tributin mit einer Waffe in der Hand.
Mit einem Mal fasse ich einen Entschluss.
Ich erhebe mich und beginne, nach Ästen und Zweigen Ausschau zu halten. Da es diese im Dschungel reichlich gibt, habe ich bereits nach kurzer Zeit ein paar schmale und weiche Zweige der Dschungelgewächse abgerupft.
Niedergeschlagen lasse ich mich daraufhin erneut neben Willow sinken und beginne, die dünnen Äste ineinanderzuflechten. So hat Mom es früher immer gemacht, genau so wie viele andere Bewohner von Distrikt vier.
Ich kann nicht sagen, wie lange es gedauert hat, bis ich mein Werk in Willows eiskalte Hände bette und ihre schmalen Finger darum verschließe.
Außenstehende werden es niemals verstehen - doch für Willow und mich wird diese kleine Geste immer eine Erinnerung an das Bündnis zwischen Distrikt sieben und Distrikt vier, an unser Bündnis bleiben.
Es dauert noch eine ganze Weile, bis ich mich endgültig von Willow lösen kann. Ich erinnere mich blass, dass ein Hovercraft kommen muss, um ihren toten Körper abzuholen. Wie in Trance stehe ich auf und trage ihren Körper auf eine naheliegende Richtung hinaus, darauf bedacht, dass sie die zusammengeflochtenen Äste noch immer in der Hand behält.
Sanft bette ich Willow in das spärliche Gras der Lichtung auf den ersten Fleck, der von der aufgehenden Sonne beschienen wird. Die Friedlichkeit des Moments ist fort, für immer - und mit ihr die Tributin, das Mädchen und meine Freundin aus Distrikt sieben.
Am liebsten würde ich vor dem ungeheuren Schmerz über ihren Verlust laut schreien, genau so wegen meiner Wut über die Ungerechtigkeit dieser Spiele. Willow war eine Kämpferin.
Und ich glaube, ich muss das selbe werden, wenn ich auch nur noch einen einzigen Schritt weitermachen will.
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