15 | Sechzig Sekunden
Sonnenlicht. Blendendes Sonnenlicht - mehr sehe ich nicht.
Und ich habe sechzig Sekunden. Wir haben sechzig Sekunden - so lange muss jeder Tribut auf seiner Metallplattform stehen bleiben, bis ein Kanonenschuss das Startsignal gibt. Hält sich jemand nicht daran, wird er von Bomben in Stücke gerissen.
60.
Der Countdown hat schon begonnen!
59.
Ich muss mich orientieren!
58.
Meterhohe, dunkelgrüne Bäume.
57.
Sie umringen den gesamten Kreis der Tribute.
56.
Wir sind in einem Dschungel.
55.
Ich vernehme Tierlaute, die ich noch nie vorher gehört habe.
54.
Es ist heiß.
53.
Zu heiß.
52.
Etwas blaues.
51.
Wasser.
50.
Unsere Metallplattformen stehen auf einem riesigen See.
49.
Mir gegenüber glänzt das Füllhorn.
48.
Es gibt keinen Weg über festen Boden bis dorthin.
47.
Wir müssen also schwimmen.
46.
Strahlend blauer Himmel.
45.
Etwas goldenes leuchtet in der Ferne auf.
44.
Sand!
43.
Es ist das Ufer des Sees.
42.
Was soll ich tun?
43.
Bis zum Füllhorn sind es mindestens dreißig Meter.
42.
Bis zum Ufer ebenfalls.
41.
Ich muss mich entscheiden!
40.
Vorräte und Waffen?
39.
Oder Sicherheit?
38.
Ich kann gut schwimmen, ich werde als erstes am Füllhorn sein.
37.
Was liegt dahinter?
36.
Rote Bergspitzen in der Ferne.
35.
In welche Richtung soll ich?
34.
Wo ist Sky?
33.
Wo ist Willow?
32.
Wo ist Jacek?
31.
Zurück zum Füllhorn.
30.
Waffen, überall glänzende Waffen...
29.
Wo sind die Dreizacke?
28.
Gleich rechts.
27.
Das kann ich schaffen!
26.
Und da, ein blauer Rucksack...
25.
Cooper ist auf der anderen Seite des Füllhorns.
24.
Ein Glück!
23.
Aber neben mir ist Cora.
22.
Auf der anderen Seite der Junge aus acht.
21.
Ich muss vorsichtig sein.
20.
Mein Herz rast.
19.
Das Füllhorn glänzt im Sonnenlicht wie flüssiges Silber.
18.
Es ist so heiß - heißer als zuhause.
17.
Ob meine Geschwister mir gerade zuschauen?
16.
Ich darf nicht an sie denken!
15.
Nur ich zähle jetzt.
14.
Ich muss überleben.
13.
Ich muss auf mich selbst vertrauen.
12.
Ich fokussiere mich auf das Füllhorn.
11.
Der Rucksack ganz vorne wird mir gehören.
10.
Gleich ist es vorbei.
11.
Ich atme ein.
10.
Und aus.
9.
Alles wird gut...
8.
Zuhause.
7.
Mom und Dad.
6.
Annie.
5.
Lim.
4.
Aline.
3.
Nale.
2.
Atala.
1.
Der Kanonenschuss ertönt und ich springe sofort in den See.
Das ist der einzige Vorteil, den ich habe. Das Wasser.
Für einen kurzen Moment bin ich im Meer zuhause und schwimme durch die Fluten. Doch dann schlägt mir die Realität wie eine Welle ins Gesicht.
Ohne noch einmal an die Wasseroberfläche zu schwimmen, tauche ich mit schnellen Zügen in Richtung Füllhorn. Der See ist klar und so kann ich mein Ziel vor Augen sehen - doch das Wasser brennt so heiß wie Feuer auf der Haut.
Adrenalin schießt durch meinen Körper und treibt mich bloß noch mehr an. Immer weiter und weiter tauche ich, ohne ein einziges Mal Luft zu holen. Da ist die Unterseite des Füllhorns! Ich bin fast da!
Ich packe den steinernen Untergrund, auf dem das Füllhorn steht und ziehe mich mit letzter Kraft wieder zurück über Wasser. Eine Hitzewelle schlägt mir entgegen - doch mir bleibt keine Sekunde, um zu verharren. Sofort stemme ich mich hoch und richte mich auf.
Ich bin tatsächlich die erste am Füllhorn, bloß Jacek taucht etwa fünfzig Meter von mir entfernt auf der anderen Seite gerade auf. Ich muss diesen Vorteil nutzen.
Wo ist der Rucksack? Eben habe ich ihn doch noch gesehen! Gleich hier vorne ...
Mit einem gewaltigen Sprung lande ich bei dem Rucksack und will anschließend sofort zu der Halterung mit den Dreizacks laufen, da schnellt ein silberner Pfeil blitzschnell an mir vorbei.
In Panik fahre ich herum und sehe Cora, die, einen nächsten Pfeil eingespannt, auf mich zugerannt kommt. Hinter ihr sammeln sich die anderen Karrieros - Kiaro wirft den anderen Waffen zu.
Mir kommt nur noch ein klarer Gedanke. Ich muss hier weg. Sofort.
Blitzschnell drehe ich mich wieder um, schwinge den Rucksack über den Rücken und laufe so schnell ich kann davon. Wo sind die Dreizacke? In der Hektik wage ich es nicht, zurück zu Cora zu sehen, um zu erfahren, ob sie mich immer noch verfolgt. Stattdessen hetze ich nur noch schneller um das Füllhorn herum. Aus dem Augenwinkel sehe ich nun auch die anderen Tribute neben mir auftauchen.
Doch dann sehe ich sie endlich - die Dreizacke. Nur noch ein kleiner Sprint! Dann kann ich noch vor den Karrieros da sein, die gerade mit den erstbesten Waffen das Blutbad eröffnen. Ich höre es an den Schreien der anderen Tribute. Ohne einen Blick zurück renne ich auf die Dreizacke zu und - es regnet.
Dicke, rote Tropfen landen vor mir auf dem Steinboden und besprenkeln meine Hände. Ein paar Herzschläge lang starre ich auf die Blutflecken, dann schüttelt mich ein unkontrollierbares Zittern. Direkt vor mir ist gerade Cooper aufgetaucht - und er hat den Jungen aus zehn mit einem heftigen Schlag gegen die Füllhornwand gedonnert und ihm anschließend ein Schwert in die Brust gerammt.
Taumelnd wanke ich ein paar Schritte zurück, bis ich realisiere, dass Cooper nun mich im Visier hat. Die Dreizacke sind vergessen. Panisch renne ich davon und höre bloß seine massiven Schritte hinter mir.
Die Geschehnisse um mich herum rasen vorbei wie ein Wirbelsturm, doch trotzdem erkenne ich, was passiert. Der Junge aus sieben kommt auf mich zu gerannt, doch keine Sekunde später wird er zu Boden geschubst, von dem Jungen aus acht. Mit einem Messer schlitzt dieser seinem Gegner am Hals entlang. Ein kläglicher Schrei ist zu hören, als Lahela dem Mädchen aus sechs ein Schwert ins Herz rammt.
Sie fällt zu Boden, woraufhin der Junge aus ihrem Distrikt wutentbrannt auf Lahela zustürmt. Doch die wartet bloß, bis er bei ihr angelangt ist, dann tritt sie ihm in den Magen und nutzt sein kurzes Taumeln, um auch ihm das Schwert in die Brust zu rammen.
Überall ist Blut, so viel Blut... ist es womöglich schon mein eigenes? Hat Cooper mich bereits eingeholt und alles ist bloß nur noch eine Illusion in meinem Kopf? Ich kann kaum noch klar denken, und dann sehe ich Jacek, der dem Mädchen aus Distrikt drei, das vor ihm weg krabbelt, von hinten mit einem Speer in den Rücken sticht.
Die Welt vor meinen Augen beginnt sich zu drehen, wird bloß nur noch zu einem Wirbel aus Schreien und roter Farbe ...
Ich muss ins Wasser.
Das ist die einzige Chance, die mir noch bleibt. Ich sprinte auf den Rand des Füllhorns zu, und ohne noch eine Sekunde zu warten, springe ich zurück in den See.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals so schnell geschwommen zu sein - vor allem, als ich dann noch eine Hand spüre, die sich um meinen Fuß schlingt. Panisch schüttele ich sie ab, was unter Wasser jedoch um einiges schwerer ist. Doch kurz bevor mir die Luft ausgeht, schaffe ich es schließlich doch, meinen Angreifer abzuwehren.
Der plötzliche Erfolg pumpt neues Adrenalin in meinen Körper und ich sehe bloß noch einmal zurück, um die verschwommenen Umrisse von Kiaro zu erkennen.
Dann tauche ich nur noch weiter, immer weiter und weiter, ohne ein einziges Mal Luft zu holen. Auf einmal spüre ich Sandboden unter meinen Füßen - ich habe es fast geschafft! Mit letzter Kraft ziehe ich mich aus dem Wasser und sprinte den vor mir liegenden Hügel hinauf. Keine Sekunde später befinde ich mich in einem Meer aus grünen Pflanzen und Blättern, die ich in meinem Lauf bloß zur Seite schlage.
Die Kampfgeräusche und Schreie hinter mir werden langsam leiser, doch trotzdem drehe ich mich kein einziges Mal um. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur renne, bis schwarze Punkte vor meinen Augen tanzen und jeder Atemzug Nadeln in meine Lunge zu stechen scheint.
Doch ich kann hier nicht verharren ... jedenfalls nicht auf dem Dschungelboden.
Keine Sekunde später bremse ich abrupt ab und ziehe mich an einem Ast des erstbesten Baumes hoch, den ich finde. Ich weiß nicht, wie ich mich unter Aufregung noch an meine Taktik aus dem Trainingscenter erinnern kann, doch kurz darauf bin ich auf der Baumkrone angekommen und lasse mich keuchend auf einen dicken, rötlichen Ast fallen.
Eine Sekunde lang lehne ich erschöpft meinen Kopf an den Baumstamm hinter mir, dann versetzt mich ein Knacken unter mir wieder in helle Aufregung. Vorsichtig spähe ich aus meinem Versteck nach unten und zu meinem Schrecken ist dort ein anderer Tribut. Es ist der Junge aus neun, und als er mich entdeckt hat, zögert er keine Sekunde. Er hat wohl keine Vorräte bei sich und als er meinen großen Rucksack entdeckt, weiten sich seine Augen. In der Zeit, in der er versucht, zu mir hochzuklettern, presse ich mich bloß zitternd an den Baumstamm. Ich kann hier nicht mehr weg. Wie konnte ich bloß so naiv sein und mich entdecken lassen? Der Junge hat einen Dolch, er wird mich töten...
Doch stattdessen höre ich immer wieder ein dumpfes Krachen unter mir, und schließlich wage ich den Blick nach unten. Der Neuner ist wohl mehrere Male beim Kletterversuch abgerutscht und scheint gerade einzusehen, dass er keine Chance hat.
Ein letztes Mal sehe ich einen verzweifelten Ausdruck auf seinem blutüberströmten Gesicht, dann schüttelt er verärgert den Kopf und rennt davon.
Ich verharre einige Minuten totenstill auf meinem Baum, bis ich mich schließlich, noch immer keuchend, zurücklehne.
Ich habe das Füllhorn überlebt.
Das Blutbad überstanden.
Jetzt erst wird mir klar, wie stark ich zittere und nach Atem ringe. Ich bin so erschöpft wie noch nie - und vor allem durstig. Ich sollte wohl meinen Rucksack öffnen. Ich sehe nochmal nach unten ins dichte grüne Gestrüpp, doch als ich keinen Tribut entdecke, schnalle ich den triefnassen Rucksack von meinem ebenfalls klitschnassen Rücken.
Langsam, um nicht zu viel Geräusch zu verursachen, öffne ich den Reißverschluss der Tasche. Gerade will ich mich ihrem Inhalt widmen, da lässt ein lauter Kanonenschuss mich zusammenzucken. Und dann noch einer. Und noch einer.
Jeder steht für einen gefallenen Tribut. Ich zähle mit.
Neun.
Schon neun unschuldige Kinder sind für die Spiele des Kapitols gestorben. Und noch vierzehn weitere werden folgen.
Tränen steigen in meinen Augenwinkeln auf und ich lasse den Kopf in den Nacken fallen, damit sie mich nicht überwältigen. Über mir ist der Himmel strahlend blau, wie an einem heißen Sommertag zuhause. Bloß, dass mein Zuhause jetzt meilenweit von mir entfernt ist.
Schließlich widme ich mich wieder meinem Rucksack. Nacheinander hole ich einen, für die Temperaturen viel zu dick gepolsterten, Schlafsack, eine kleine Klinge und eine Wasserflasche heraus. Leer.
Das ist also alles. Keine besonders große Ausbeute für den ersten Tag. Gerade Wasser wäre jetzt eine Rettung für mich gewesen, denn nicht nur die sengende Hitze hat mir meine letzte Kraft bereits vor einer Weile geraubt.
In meinem Kopf spielt sich noch einmal die grauenvolle Szenerie am Füllhorn ab. Ich habe gesehen, wie die Karrieros unzählige Tribute getötet haben - doch Willow oder Sky waren nicht dabei. Ich meine mich zu entsinnen, zumindest Sky davonlaufen gesehen zu haben, doch sicher kann ich mir nicht sein. Wer weiß, vielleicht sind Willow und sie ja bereits tot.
Der Gedanke lässt mich trotz der enormen Hitze frösteln.
Etwa eine Stunde lang verharre ich in meinem Versteck, tanke wieder etwas Kraft und belade den Rucksack wieder mit meinen Vorräten. Einzig die Klinge stecke ich nach kurzer Überlegung in meinen Gürtel. Außerdem habe ich die Zeit genutzt, um mir vom obersten Punkt meines Baumes einen groben Ausblick über die Arena zu liefern.
Ich befinde mich im Moment inmitten eines tiefen Dschungels, das Füllhorn und der See liegen glänzend in der Ferne. Rings um den Horizont zeichnet sich eine rötlich schimmernde Bergkette ab, die womöglich das Ende der Arena kennzeichnet. Das, was mir am meisten aufgefallen ist, ist ein silbern glitzernder See, der etwa zwei oder drei Kilometer westlich von mir zu liegen scheint.
Obwohl ich weiß, dass es gefährlich ist, muss ich mein Versteck verlassen und mich noch jetzt mich auf den Weg dahin machen. Es wäre wohl alles andere als das, was Mags mir geraten hätte, doch der Durst ist einfach zu quälend. Finde ich nicht bald Wasser, bin ich in weniger als zwei Tagen tot.
Ich atme tief durch und dann beginne ich den Abstieg.
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