10 | Salzige Geheimnisse
Der zweite und letzte Trainingstag verläuft weniger ereignisreich als der gestrige.
Cooper ist gestern bereits nach wenigen Minuten wieder zurück ins Trainingscenter gekommen, es war wohl bloß eine leichte Verletzung an seinem Bein und die Ärzte hier im Kapitol konnten sie in Windeseile heilen. Seitdem meiden jedoch alle seine Blicke, selbst die anderen Karrieros, habe ich zumindest das Gefühl.
Er schien der Anführer in ihrem schier unzerstörbaren Bündnis gewesen zu sein, doch jetzt hat dies zu bröckeln begonnen. Doch vermutlich wird sich das wohl kaum negativ auf ihr Handeln in der Arena auswirken - ganz im Gegenteil. Die fünf trainieren heute noch härter als gestern und erlauben sich keine Fehler, als wollten sie nicht, dass ihr Ruf gefährdet wird. Mittlerweile bin ich immer froher, nicht Teil dieses Bündnisses zu sein.
Nachdem ich am heutigen Vormittag noch mal die wichtigsten Grundlagen des Kletterns, Feuermachens und der Pflanzenkunde durchgegangen bin, widme ich mich nach dem Essen der Station fürs Versteckebauen zu.
Der Junge aus acht verlässt sie gerade, als ich vor den vielen verschiedenen, an der Wand angebrachten Materialen stehenbleibe. An einer Apparatur werden die Eigenschaften und Fundorte dieser genauestens beschrieben und erklärt.
Davor haben bereits andere Tribute ein paar der Materialien zu versuchten Unterschlupfen oder Abdeckungen zusammengebaut, mal besser, mal schlechter.
Ich lasse meine Blicke über die Auflistung der verschiedenen Materialien schweifen, auf der Suche nach etwas, das ich vielleicht von zuhause kenne. Heute ist der letzte Trainingstag - etwas komplett Neues zu lernen würde ich zeitlich nicht mehr schaffen.
Schließlich entscheide ich mich für dicke, lange Gräser. Zwar kenne ich sie nicht, doch die grünen Grashalme ähneln den Weidenflechten, die wir zuhause oft machen.
In einem dichten, grünen Wald oder einem Dschungel ist das sicher von Nutzen.
Etwa eine Stunde lang flechte ich das Gras zusammen, bis ich eine Art Teppich habe, der in der Arena beispielsweise vor Regen schützen könnte.
Zufrieden mache ich mich auf zur nächsten Station - ich möchte mich nochmal anderen Waffen als dem Dreizack widmen, denn garantiert, dass ich in der Arena einen bekomme, ist es definitiv nicht.
Schließlich entscheide ich mich für das Werfen eines Speers, denn neben dem Dreizack benutzen wir auch ab und zu den zuhause, um Fisch am nahen Ufer zu fangen.
Ich lege den Speer in die rechte Hand. Links und rechts von mir probieren auch einige andere Tribute ihr Glück, doch zum Glück ist kein Karriero unter ihnen.
„Beeindruckt sie. Doch vergesst nicht, am Ende trainiert ihr immer für euch selbst und nicht für jemand anderen."
Mags' Worte hallen in meinem Kopf wider. Entschlossen schließe ich meine Hand noch fester um den Speer. Sie hat recht. Am Ende muss ich in der Arena den Speer werfen, nicht die Tribute neben mir. Schon beim Gedanken daran läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.
Schnell konzentriere ich mich wieder auf die Zielscheibe einige Meter vor mir. Dann hole ich Schwung und werfe den Speer gerade nach vorne. Ein Treffer! Mit einem harten Geräusch knallt der Speer an die Zielscheibe. Zwar ziemlich am Rand, aber wenigstens getroffen.
Auch nach weiteren Versuchen fällt mir auf, dass es beinahe genau so ist, wie wenn ich zuhause einen Fisch mit dem Speer treffe. Nur, dass es dieses Mal ein Mensch sein wird.
„Du bist gut." sagt plötzlich eine klare Stimme links von mir. Meine Gedanken wirbeln auf und ich blicke zum Tribut neben mir. Es ist das Mädchen aus elf, Sky.
Im Gegensatz zu mir übt sie, wie schon gestern, mit Pfeil und Bogen. Sie spannt den Pfeil ein, zielt - und trifft. Genau in die Mitte.
„Du auch." füge ich hinzu und versuche, ihren Blick zu fangen. Doch Sky schießt weiter, ohne zu mir zu sehen, Pfeil für Pfeil ab. Also nutze ich die Gelegenheit, um sie nun aus der Nähe zu beobachten. Schnell fällt mir auf, dass sie mir ziemlich ähnlich sieht.
Sie besitzt beinahe genau meinen dunklen Teint und eine ebenso schmale Figur, wie ich sie habe. Doch das ist es nicht, was mich staunen lässt. Es sind unsere Haare, die beinahe in den genau gleichen Wellen von unseren Schultern fallen. Auch Skys sind schwarz und einige braune Strähnen verstecken sich in ihnen.
Ich denke nach, ob ich ein Gespräch mit ihr beginnen soll. Vielleicht wäre es wirklich klug, und wir könnten sogar ausmachen, uns zu verbünden. Schließlich frage ich möglichst freundlich: „Wo hast du das denn in elf gelernt? Also das Bogenschießen?"
Sky zielt, schießt und trifft.
„Zuhause. Als mein Großvater noch lebte, hat er mir in meiner Kindheit etwas beigebracht. Seitdem er tot ist, übe ich selbst. Mittlerweile ist die Überwachung an den Grenzen aber strenger geworden und ich finde nur noch selten einen Ort draußen im Wald, an dem ich üben kann.." erklärt sie ruhig.
„Du...Du könntest also abhauen? Aus Distrikt elf? Warum hast du es bisher nicht gemacht?" frage ich vorsichtig, doch schon während ich es sage, fällt mir Skys wahrscheinliche Antwort ein.
Sie bestätigt meine Vermutung.
„Wegen meiner Geschwister. Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen, meine Eltern sind gestorben, als ich sieben war. Weil ich die älteste bin, hab ich die Verantwortung für die jüngeren. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn sie auf der Flucht verhungern." erzählt Sky.
Ich habe noch nicht von vielen Schicksalen gehört, die meinen ähnlich sind, daher trifft mich das von Sky sehr. Ich merke, wie ähnlich wir uns vielleicht sind. Sie ist wohl auch ein Familienoberhaupt, hat keine lebenden erwachsenen Verwandten mehr. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie ihre Geschwister genau so sehr liebt, wie ich meine. Sympathie und Mitleid für Sky überrollen mich wie eine Welle.
„Das tut mir leid. Mir geht es oft genau so. Meine Eltern sind auch gestorben, als ich noch jung war, seitdem sind mein Bruder und ich das Familienoberhaupt. Jetzt habe ich umso mehr Angst um meine Geschwister. Dir geht es sicherlich ähnlich." sage ich und sehe ihr in die grünen Augen, denn jetzt sieht sie mich direkt an, wenn auch nur kurz.
Einen Moment überlege ich, ihr die Sache mit Aline zu erzählen, doch dann verwerfe ich diesen Gedanken. Es ist zu schmerzhaft. Und wer weiß, welche Angst Sky um ihre eigenen Geschwister bekommen würde, wenn sie wüsste, wozu das Kapitol fähig ist.
„Wenn wir das Blutbad überstehen, sehen wir uns ja vielleicht wieder." beendet Sky unsere Unterhaltung, bevor sie Pfeil und Bogen ablegt und zu einer anderen Station geht.
Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Ich weiß, dass das ein Angebot für ein Bündnis war. Ich hoffe, dass es soweit kommt.
Den Rest des Tages stürze ich mich nur so ins Training. Ich gehe noch einmal alles durch, verbessere meine Fehler und versuche, mir so viel wie möglich einzuprägen. Als wir am Abend in unser Stockwerk zurückkehren, bin ich noch müder und erschöpfter als gestern. Doch trotzdem habe ich das Gefühl, mich so gut vorbereitet zu haben, wie ich konnte.
Beim Abendessen ist Saphire ganz erpicht darauf, alles zu erfahren, was Jacek und ich gemacht haben. Ich erzähle nur knapp von dem möglichen Bündnis mit Sky, damit sie zufrieden ist.
Ich sehe zu Mags hinüber, die mir gegenüber am langen Glastisch sitzt. Sie nickt mir aufmunternd zu. Mir fällt auf, dass sie uns bisher nur wenige Lektionen gegeben hat. Doch trotzdem, die, die sie gegeben hat, waren mehr als wertvoll, zumindest für mich.
Vielleicht ist das auch Mags' Strategie - sie weiß, wie überfordert und erschöpft wir durch die ganzen Eindrücke und das ganze Tagesprogramm sind und das zu viele Informationen ihrerseits uns vielleicht nur noch mehr verwirren.
Trotzdem besteht sie an diesem Abend darauf, mit mir nach dem Abendessen noch einmal einige Dinge durchzugehen. Jacek hat bestimmt, dass sie uns einzeln lehrt, mir ist das ziemlich egal.
Nach dem Essen lasse ich mich also auf das kuschelweiche Sofa im Wohnbereich sinken. Von hier aus hat man einen guten Ausblick hinaus auf die Skyline und gerade kann man die Sonne sehen, wie sie hinter den vielen Hochhäusern verschwindet und den Himmel in ein pfirsischfarbenes Licht taucht.
Kurzerhand nehme nehme ich mir die dampfende Tasse Tee, die auf einem Tablett auf dem Tisch vor mir bereitgestellt ist, und wärme damit meine kühlen Hände. Nach einer Weile haben Saphire und Jacek den Raum verlassen und nur noch Mags bleibt zurück. Sie kommt auf mich zu und setzt sich auf einen den weichen Sessel mir gegenüber.
„Ich bin stolz auf dich."
Es ist das erste, was Mags an diesem Abend zu mir sagt. Ein Lächeln huscht über meine Lippen, wenn auch ein wehmütiges.
„Ich bin stolz, dass du den Mut hast, dich von den Karrieretributen zu distanzieren, Librae. Das erfordert viel Kraft, und ich glaube, die wird dir helfen."
Meine Augen werden ganz müde von dem warmen und süßlichen Duft des Tees in meiner Hand, doch ich sehe Mags weiterhin aufmerksam an. „Ich muss ehrlich sein, du hast Glück mit deinem Aussehen. Das reicht schon für einige Sponsoren aus."
Obwohl der Satz dieses Mal von Mags und nicht von einer verrückten Kapitolsstylistin stammt, ist er nicht weniger schmerzhaft. „Warum wird man hier bloß auf so etwas reduziert?" murmele ich und meine Stimme klingt beinahe schon weinerlich.
Sofort fühle ich mich wie ein kleines, naives Kind. Mags lächelt traurig.
„Weil es eben genau das ist, was sie von der Wahrheit abhält. Die Leute hier präsentieren sich nach außen hin so schön wie möglich, damit niemand - vor allem sie selbst - vergessen, was in ihnen steckt. Und so absurd es vielleicht klingen mag - auch bei den Leuten im Kapitol sind das schlagende Herzen."
Mags' Worte sind auf eine seltsame Weise schön und grausam zugleich. Eine Weile warte ich auf weitere Ratschläge von ihr. Worüber soll ich sie etwas fragen? Kampftechniken? Pläne, um Sponsoren zu bekommen? Weiß sie überhaupt noch etwas darüber? Schließlich sind ihre Spiele vierzig Jahre her.
„Librae, ich weiß, was du denkst. Wie soll diese alte Frau dir helfen?" grinst Mags.
„Nein, nein, ich..." stammele ich und fühle mich ertappt.
„Schon gut." schmunzelt Mags.
„Wenn du möchtest, spreche ich mit dir über einzelne Details in der Arena. Aber ich glaube, viel wichtiger ist es, dass du eins verstehst, und das schon seit dein Name auf dem Ernteplatz verlesen wurde." fügt sie hinzu.
„Kannst du dir vorstellen, was?" fragt sie. Nachdenklich blicke ich ihn ihr rundes Gesicht. Was meint sie? Nach einer Weile gebe ich meine Überlegungen auf und sage nur stumpf:
„Sie wollen, dass ich mitspiele." Zu meiner Überraschung scheint das genau die Antwort gewesen zu sein, nach der Mags gesucht hat. „Genau, Librae. Du musst das System nutzen. Du musst nicht körperlich stark sein, um Stärke zu zeigen." Dieser Satz erinnert mich an Willow gestern und ich frage mich, ob Mags den Vorfall insgeheim mitbekommen hat.
Sie fährt fort.
„Was ich damit sagen will, ist, dass du auf dich selbst vertrauen musst. Dann kannst du vielleicht den wahren Teil von dir noch retten, während ein anderer für die Kameras glänzt." Mit diesen Worten verlässt Mags schließlich hinkend den Raum.
Nachdenklich starre ich auf die warme Flüssigkeit in meine Händen und wie sie durch meinen Atem winzige Wellen schlägt. Ich habe nicht mit so einer kurzen Lektion gerechnet - wenn es das überhaupt war.
Mags hat ihre Spiele also gewonnen, weil sie mitgespielt hat.
Welche traurige Geschichte steckt wohl hinter ihr?
Und wer steckt wirklich hinter ihrer Fassade?
Und was wird aus mir, wenn ich erst mitspiele?
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