07 | Im Scheinwerferlicht


Mit einem leisen Zischen öffnet sich die Tür des Aufzugs und Jacek und ich folgen unserem Vorbereitungsteam und Saphire eine Treppe hinab. Nur noch wenige Schritte, dann betreten wir die große, nach hinten offene Halle. Sie ist der letzte Ort, der uns von der Hauptstraße und den Menschenmassen draußen trennt.

Selbst die riesigen Flügeltüren können den ungeheuren Lärm der jubelnden Zuschauer dort nur mäßig abdämpfen. Ich sehe mich weiter um und mir fallen die zwölf großen Pferdekutschen auf, die bereits in einer langen Reihe vor den noch verschlossenen Toren stehen.

Doch das, was mir wirklich Angst einjagt, sind die anderen Tribute, die ich nun zum ersten Mal sehe. Es macht mir Angst, dass sie plötzlich zum Greifen nahe sind.

Wir sind Distrikt vier, daher bleiben wir schließlich am vierten Wagen der Reihe stehen. Eine metallene Stimme verkündet, dass wir nur noch zwei Minuten haben. Das versetzt Saphire in helle Aufregung.

Ungeduldig sieht sie unser Vorbereitungsteam an, als es an Jacek und mir noch letzte Kleinigkeiten richtet. Ich schüttele bloß den Kopf. Als wäre es ihr Problem, wenn etwas schief läuft. Es kostet unser Leben, nicht ihres.

Ich werfe einen nervösen Blick zu Jacek neben mir, doch anstatt Angst zu haben, scheint der sich prächtig zu amüsieren. „Was ist?" frage ich sofort. Er weißt bloß mit einer Kopfbewegung zu den Kutschen, an denen die anderen Tribute stehen.

„Schau dir die mal an. Die sehen erbärmlich aus." zischt er.

Ich folge seinem Blick und der bleibt sofort bei den beiden Kindern aus drei hängen. Jetzt kann ich Jaceks abwertendes Lachen schon beinahe nachvollziehen - denn die Tribute sehen wirklich schrecklich aus.

Distrikt drei steht für Elektrik, und das haben die Stylisten wohl mit allen Mitteln versucht, umzusetzen. Doch anstelle von glamourösen Kostümen tragen die beiden bloß silberne Ganzkörperanzüge, die über und über mit grell leuchtenden Glühbirnen bestickt sind.

Auch Distrikt sieben ergeht es nur wenig besser - die Holzfällerei repräsentierend, stecken das blonde Mädchen, was mir bei der Ernte aufgefallen ist und ihr Distriktpartner in Kostümen, die wohl Bäume darstellen sollen.

Als mein Blick das Mädchen trifft, bemerke ich, dass sie mich bereits angeschaut hat. Ich weiß nicht, ob sie auf mein Kostüm oder auf mich fokussiert war, doch sie weicht meinem Blick nicht aus. Im Gegenteil - als würde sie mich eiskalt mit etwas konfrontieren wollen, bohren sich ihre grünen Augen nur weiter in mein Gesicht und schließlich bin ich es, die den Blick abwendet.

Diese Art erinnert mich beinahe an Atala. Genau wie sie, scheint auch Willow eine Auseinandersetzung nicht meiden zu wollen, sondern stattdessen direkt und offen heraus zu sagen, was sie denkt.

Doch mir bleibt keine Zeit mehr, weiter über sie nachzudenken, denn Jacek ruft mir zu, dass es losgeht. Er reicht mir seine Hand und schnell folge ich ihm hinauf auf den Wagen, wo ich sie sofort wieder loslasse.

Saphire flötet uns von der Seite zu.„Ihr werdet großartig sein, da bin ich mir sicher!"

Doch ich höre ihr kaum noch zu und will mich stattdessen auf das sich in jedem Moment öffnende Tor vor uns konzentrieren, da packt mich jemand von der Seite am Arm.

Ich rechne noch einmal mit Saphire, doch zu meiner Überraschung ist es mein Stylist Jake, der mir ernst in die Augen blickt.

„Fühl dich so, als wenn du bereits Siegerin wärst. Du musst dir einfach vorstellen, die Zuschauer wären alle Bewohner aus Distrikt vier. Ich weiß, die Leute hier sind eure Feinde, aber für diesen Abend sind sie eure Freunde." flößt er mir ein.

„Viel Glück. Ihr schafft das!" ruft er dann schließlich auch Jacek zu, bevor er uns den Rücken zudreht und sich mitsamt dem Rest des Teams auf den Weg aus der Halle macht. Ich verinnerliche seine Worte, und dann geht es auch schon los. Mit einem Rucken setzt sich unsere Kutsche in Bewegung, als sich die großen Flügeltüren öffnen.

Eine Flutwelle an grellem Scheinwerferlicht, Jubelrufen, Pfiffen und Musik überrollt uns, und für einen Moment bin ich von dem ganzen Lärm so überwältigt, dass ich mir kurzerhand die Hände auf die Ohren presse.

Doch schnell realisiere ich, dass ich mich jetzt dem Kapitol beweisen muss und kein Anzeichen von Schwäche zeigen darf. Ich nehme die Hände von den Ohren, richte mich gerade und setze ein Lächeln auf. Vor uns erstreckt sich die Hauptstraße des Kapitols, beleuchtet von goldenem Scheinwerferlicht aus allen möglichen Richtungen.

Links und rechts von uns füllen unzählige bunt gekleidete Zuschauer die langen Tribünen bis auf den letzten Platz. Schon jetzt ist mir das alles zu viel - doch ich muss stark sein. Jakes Worte halten wieder in meinem Kopf auf. Stelle dir vor, sie wären alle Bewohner aus Distrikt vier.

Das ist wohl kaum möglich. Und trotzdem werde ich mein bestes geben, zumindest für diejenigen, die wirklich in Distrikt vier zuschauen.

Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, verschwindet mein altes Selbst mehr. Ich bin nicht mehr Librae, die Fischerin, sondern Librae, die Tributin. Die großen Bildschirme links und rechts von uns zeigen immer wieder unsere Gesichter zwischen denen der anderen und ich erkenne mich kaum selbst wieder.

Von den Seiten werfen uns die Zuschauer Blumen zu, und es erinnert mich schrecklich an Moms und Dads Beerdigung.

Wie wir Blumen auf ihre Gräber geworfen haben, hoffend, dass der Tod sie uns zurückgibt. Und die Kapitolsbewohner warten jetzt insgeheim darauf, dass der Tod uns holt.

Die Strecke ist viel schneller vorbei, als ich gedacht hatte. Schon bald werden die Pferde, wie auf ein geheimes Zeichen, langsamer und die Kutschen reihen sich vor dem Trainingscenter ein.

Die Musik verstummt und auch der laute Jubel nimmt langsam ab.

Noch immer überwältigt von den ganzen Eindrücken und Erlebnissen, brauche ich eine Weile, um den Blicken der anderen Tribute zu folgen. Sie alle und auch die Zuschauer sehen nun hinauf zu dem meterhohen Balkon, den nun Präsident Snow und sein Gefolge betreten.

Gebannt hängen alle an seinen blassen Lippen, als er sich zu seiner üblichen Ansprache erhebt. Jeder, der alt genug ist, kennt sie auswendig. Bloß, dass die Karrieretribute aus eins und zwei, sowie auch Jacek von ihr begeistert zu sein scheinen, während sie für den Rest der Tribute bloß leere, immer wiederholte Worte sind, um das wahre Grauen schönzureden.

Schließlich beendet Snow seine Rede mit einem: „Möge das Glück stets mit euch sein" bevor er langsam wieder zurücktritt und im Schatten des massigen Gebäudes hinter ihm verschwindet.

Ehe ich mich versehe, setzen sich die Wagen schon wieder in Fahrt und sind auf dem Weg hinab von der Straße. Ein letztes Mal noch entdecke ich mein glänzendes Gesicht und das schimmernde Kleid auf der großen Leinwand, dann wird unser Wagen bereits vom Tor des Trainingscenters verschluckt.

In der Halle dahinter stürmen von allen Seiten Vorbereitungsteams und Betreuer auf die Kutschen zu. Kaum ist der Jubel von draußen verstummt, sind unsere Stylisten und Saphire bei unserem Wagen angelangt. Es dauert eine Weile, bis ich auch die unscheinbare Mags unter ihnen entdecke, denn alle Stylisten mitsamt Saphire sprudeln nur so auf uns ein, sodass ich kaum etwas verstehe.

Doch ich sehe, dass Mags mir zunickt und mir anschließend ein Lächeln schenkt. Das erste Mal seit langem wieder sehe ich ein echtes Lächeln, und auch wenn es nur kurz ist, tut es irgendwie gut. Schließlich haben wir endlich die Möglichkeit, aus der Kutsche auszusteigen und können dem Team und unserer Mentorin folgen.

Nach einigen Minuten Laufen durch die Untergeschosse mehrerer Gebäude bleiben wir vor einem riesigen Aufzug stehen, der uns, laut Saphire, direkt zurück in unser Hochhaus führt.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als ich realisiere, dass sich unser Vorbereitungsteam und auch die der anderen Tribute vor dem Aufzug von uns verabschieden. Jacek und ich müssen dort also alleine rein - mit all den anderen.

Ich verstehe nicht ganz, warum.

Anscheinend will das Kapitol uns Tribute alle zusammen in einem Aufzug haben, damit die Karrieros den kleinen schon mal Angst einjagen und die anderen Tribute Hass auf sie schüren.

Und den sollen sie dann in der Arena nutzen.

Als Jacek und ich schließlich also ohne das Team in den großen Aufzug steigen, sehne ich mich nach einer Hand, die ich halten kann. Doch stattdessen schiebt mich bloß ein weiß gerüsteter Friedenswächter sanft an die Wand des Fahrstuhls, an der bereits andere Tribute stehen. Er selbst platziert sich mit einem Komplizen jeweils links und rechts von der Fahrstuhltür, eine Waffe bereithaltend. Als die letzten Tribute eingestiegen sind, schließen sich die Türen.

Und das erste mal seit langem herrscht Stille. Totenstille. Mit gesenktem Kopf lasse ich meine Blicke über die anderen dreiundzwanzig Tribute schweifen.

Das blonde Mädchen aus eins mustert die jüngeren Tribute mit hochgezogenen Augenbrauen, als wären sie ihr Abendessen und nicht lebendige Kinder. Das Mädchen aus neun sieht so aus, als hätte sie gerade einen Geist gesehen, sie blickt mit starrem Blick zu Boden und ihre Lippen formen lautlose Worte.

Der kleine Junge aus zwölf zittert am ganzen Leib, er steht neben dem riesigen Karriero aus zwei, und seiner Distriktpartnerin läuft sogar eine Träne die Wange hinab.

Ich bemerke, dass bloß den Karrieros die Situation kein bisschen unangenehm zu sein scheint - der Rest der Tribute sieht, genau wie ich, nur nervös umher oder starrt ganz zu Boden, in der Versuchung, jeden Blick zu meiden.

Nervös verknote ich meine Hände ineinander.

Wie soll ich diesen Menschen bloß ins Gesicht sehen? Diesen Kindern, die ich vielleicht töten werde? Von denen jeder ganz genau weiß, dass nur einer von uns überlebt? Ich kann es mir nicht vorstellen. In zwei Wochen. Dreiundzwanzig tot. Nur noch einer am Leben. Wer?

Schließlich steigen nach und nach die Tribute in ihr jeweiliges Stockwerk aus und es fühlt sich an, als wäre mir eine tonnenschwere Last vom Rücken genommen, als Jacek und ich endlich im vierten Geschoss den Aufzug verlassen.

Der Rest des Abends verläuft nicht ansatzweise so spektakulär wie die Einführungsfeier, ich ziehe mir bloß nur noch das bequemste an, was ich in meinem Schrank finden kann, und mache mich nach dem prächtigen Abendessen gleich auf den Weg in mein Zimmer.

Eigentlich hatte ich heute Abend noch vor, einige Lektionen mit Mags durchzugehen, doch ich habe nicht erwartet, dass mich der erste Kontakt mit den anderen Tributen so sehr trifft.

Als ich schließlich in meinem weichen Himmelbett liege, bin ich ausnahmsweise mal froh über meine enorme Müdigkeit, denn sie hält mich davon ab, weiter über die toten Körper der Kinder nachzudenken, die ich noch vor wenigen Minuten vor mir gesehen habe.

Vierundzwanzig. Lebend. Und das nur noch wenige Tage. 

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