03 | Salzige Tränen
Ich habe das Gefühl, in tausend Teile zu zerbrechen. Wie eine Muschel, auf die man tritt und die dann nur noch in Splittern im Sand liegt. Es fühlt sich an, als wäre ich im Winter mitten in das eiskalte Meer geschubst worden, als wäre mir soeben erneut der Tod meiner Eltern verkündet worden.
Ich beginne zu taumeln und werde von einem Mädchen hinter mir aufgefangen, deren Gesicht ich nicht wahrnehme. Was ist gerade eben passiert? Das, was ich am wenigsten erwartet habe, ist eingetreten. Ganz krank vor Sorge um Annie habe ich garnicht an mich selbst gedacht, nur an meine Schwester... Aber... das kann, das darf einfach nicht sein. Ich höre Getuschel um mich herum, aber nehme es bloß gedämpft wahr.
Ich werde in den Hungerspielen sein.
„Und? Wo bist du?" schallt Saphires Stimme laut über den Platz und sie lässt ihre Blicke suchend über die Menge schweifen. Ich muss nach vorne - es geht nicht anders. Meine Füße tragen mich irgendwie durch die Menge und hinauf zur Bühne.
Ich entdecke Atalas Gesicht, das ich noch nie in meinem ganzen Leben so verzweifelt gesehen habe. Ich sehe Nale, der versucht, durch die Menge zu mir zu kommen, jedoch von Friedenswächtern zurückgehalten wird.
Annie hat sich zu mir umgedreht und als ich an ihr vorbeigehe, füllen sich ihre meergrünen Augen mit Tränen. Lim und Aline entdecke ich nicht. Beinahe stolpere ich die schwarzen Stufen zu der strahlenden Saphire nach oben, die mich sofort neben sich zieht.
Ich darf auf keinen Fall weinen. Oder zittern. Auf gar keine Weise darf ich schwach wirken. Sonst werde ich sofort von den Kapitolbewohnern vergessen. Von jetzt an kann jede noch so kleine Aktion mein Leben kosten. Ohne Hilfe in der Arena bin ich verloren und vor allem - das Leben meiner Geschwister auch.
„Irgendwelche Freiwilligen?" fragt Saphire in die Menge.
Nur blasse Gesichter, die wortlos zurückstarren.
Ich suche Annies Gesicht und sehe sie schließlich mit einem Blick an, der selbst Präsident Snow Angst einjagen würde und der ihr ausdrücklich verbietet, auch nur den Gedanken an das Freiwilligmelden zu hegen.
Totenstille.
Ich lasse meine Blicke über die Menge schweifen. Ich sehe die Gesichter der Akademietribute - nichts. Es ist eine der Jahre, in denen sich keiner meldet.
„Wundervoll! Dann haben wir sie, Librae Olgivy, den weiblichen Tribut aus Distrikt vier!" ruft sie.
Noch immer Totenstille. Was meine Eltern jetzt wohl sagen würden? Würden sie mir Mut zusprechen? Ja. Sie würden sagen, ich solle stehen bleiben, nicht aufgeben und weitermachen, egal was kommt. Ich hebe meinen Kopf und sehe nach vorne.
„Nun gut, nun gut! Dann werde ich jetzt einen Jungen ziehen!" ruft Saphire, nimmt den Arm von meiner Schulter und stöckelt hinüber zu dem Topf mit den Jungennamen.
Das Rascheln der Zettel ist das einzige, was zu hören ist, selbst das ferne Rauschen des Meeres scheint verstummt zu sein. Mit spitzen Fingern zieht Saphire ein Los hervor, streicht es glatt und liest.
„Der männliche Tribut für Distrikt vier ist Liam Ty...!" beginnt sie, doch schon ertönt ein lauter Ruf aus der Menge. „Ich melde mich freiwillig!"
Ein großer, kräftiger Junge rennt aus der letzten Reihe nach vorne. Ich glaube, ich kenne ihn. Ja, er heißt Jacek Allistair, ich habe ihn ein paar mal auf dem Schulhof gesehen. Ein Karriero. Er ist achtzehn und einer der Jahrgangsbesten in der Akademie - so wird es jedenfalls erzählt.
„Oh! Ein Freiwilliger, wie ich höre! Na dann komm mal zu uns, junger Mann!" ruft Saphire begeistert. So läuft es hier fast jedes Mal ab. Achtzehnjährige, durchtrainierte Freiwillige, die ihr ganzes Leben auf diesen Moment gewartet haben und nun ihre Chance ergreifen.
Fast jedes Mal.
Sportlich rennt Jacek auf die Bühne und stellt sich neben Saphire. Er zwinkert mir zu, doch ich wende mich verbittert ab. Er ist mir schon jetzt unsympathisch. Er scheint zwar nicht so arrogant wie die anderen Karrieros zu sein, doch umso fester davon überzeugt, alles zu tun, um diese Spiele zu gewinnen. Und ich weiß nur zu gut, was das bedeutet.
„Soooo! Dann haben wir sie! Die beiden diesjährigen Tribute für Distrikt vier!" ruft Saphire und lacht fröhlich. Sie greift unsere Arme und reißt sie in die Höhe.
Zum dritten Mal Totenstille.
Wir werden grob von hinten gepackt und ins Rathaus gezogen. Krachend schlägt die Tür vor uns zu und hüllt uns in Dunkelheit. Der Friedenswächter schließt die Tür zu dem kleinen Raum, in dem sie mich gebracht haben und dann ist es still. Ganz still. Zu hören ist bloß das unaufhörliche Pochen meines Herzens.
Ich muss in die Hungerspiele. Ich werde meine Familie und Freunde in der nächsten Stunde vermutlich das allerletzte Mal sehen. Wenn ich die Spiele nicht gewinne, sterben meine Geschwister.
Mir ist schwindelig, übel und mein Kopf schmerzt - alles zur gleichen Zeit. Langsam lasse ich mich auf das Sofa hinter mir fallen und starre die gegenüberliegende Tür an. Jeden Moment werden Annie, Aline, Lim, Atala und Nale dadurch kommen und ich werde sie danach höchstwahrscheinlich nie wieder sehen.
Nie wieder.
Ich fühle nichts. Keine Angst mehr, keine Wut mehr, nur noch eine tiefe, innere Leere. Ich merke es kaum, als die Tür aufgerissen wird. Erst, als ich Atalas kräftige Arme spüre, die mich umschlingen, höre und sehe ich wieder klar. Ich höre sie schluchzen und es zerreißt mich innerlich. Ich habe Atala noch nie so weinen sehen - sie ist sonst so ein gefühlskalter, direkter und starker Mensch. Und jetzt scheint all das aus ihr gewichen zu sein.
Und ich kann nicht anders, als ebenfalls zu weinen. Stumme Tränen laufen meine Wangen hinab, als ich meinen Kopf auf Atalas Schulter lehne und die Augen schließe. Langsam lösen wir uns wieder voneinander, ich weiß nicht, wie lange wir so verharrt sind.
Ich blicke in Atalas tränenüberströmtes Gesicht.
„Librae, es tut mir so, so leid. Es tut mir so schrecklich leid. Ich wollte mich freiwillig melden für dich, aber dann...dann habe ich Maileen und Mom gesehen...sie hätten es nicht ohne mich geschafft." Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, und doch treffen mich ihre Worte mitten ins Herz.
Ich wage einen Blick in ihre tiefblauen Augen. Sie wollte sich freiwillig melden? Für mich? Sie wollte ihr Leben für mich riskieren? Ich bringe kein Wort heraus, stattdessen nehme ich nur Atalas Hand und drücke sie fest.
Uns bleibt keine Zeit für weitere Worte, denn im nächsten Moment sehe ich aus dem Augenwinkel mehrere Personen durch die Tür stürmen. Ich erkenne Nale und sofort falle ich ihm in die Arme. Seine sonst so sonnengebräunten Wangen sind mit einem Mal ganz blass, er streicht mir über den Rücken und ich will ihn garnicht mehr loslassen.
Doch als jemand am Zipfel meines Kleides zieht, löse ich mich auch von meinem besten Freund.
Schnell drehe ich mich um und werde von Annie erdrückt. Ich spüre, wie ihre Tränen mein Kleid hinunterlaufen. Doch Annie redet nicht. Sie ist kein Kind mehr. Sie weiß, dass ich nicht mehr zurück kann und dass es nichts, absolut gar nichts gibt, was sie jetzt dagegen tun kann.
Stumm streiche ich durch ihr Haar, wie ich es immer gemacht habe, wenn ich sie früher getröstet habe. Nur weiß ich nicht, wer jetzt wen tröstet. Es gibt für uns beide keine Hoffnung mehr.
Doch es folgen weitere Umarmungen von Aline und Lim. Danach fühle ich mich, als hätte ich jegliche Kraft, die ich jemals hatte, mit einem Mal für immer verloren. Erneut lasse ich mich auf das dunkelblaue Samtsofa am Fenster sinken. Nale, Lim und Annie setzen sich neben mich, Atala hockt sich auf den Teppich davor und blickt zu mir hinauf.
Ich weiß nicht was, doch mein Herz möchte ihr irgendetwas sagen. Doch bevor ich Worte finden kann, höre ich eine zarte Stimme hinter mir. „Librae, du musst gewinnen."
Es ist Aline.
Ich blicke nach hinten und sehe in ihr Gesicht. Und es ist nicht das leere, verletzte Gesicht der trauernden Aline. Es ist nicht das der Aline, die um ihre Eltern weint. Es ist ein Gesichtsausdruck, den ich sonst ganz selten bei ihr sehe. Ich schlucke meine Angst hinunter.
„Ich versuche... ich werde es, Aline. Versprochen. Für euch." krächze ich und versuche, dabei so überzeugt wie möglich zu klingen. Mit einem Mal ergreift Atala das Wort. Ihre Stimme ist immer noch weinerlich, doch ich spüre, dass sie einen Entschluss gefasst hat. Sie nimmt meine Hand und drückt sie fest.
„Ich will dich nicht anlügen, Librae. Den Kindern aus den meisten Distrikten bist du alleine schon wegen deines Alters und deiner Kraft überlegen. Aber gegen die Karrieros aus eins und zwei hast du keine Chance. Der Dreizack ist die einzige Waffe, mit der du umgehen kannst. Aber lass mich dir eins sagen: Wenn ich eins in meinem Leben über dich gelernt habe, dann, dass du der stärkste und wundervollste Mensch bist, den ich kenne."
Ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen, doch sie lächelt.
„Du bist die erste, die im Frühjahr die Blumen auf den Wiesen entdeckt. Du bist die erste, die lächelt, wenn wir uns sehen. Du bist die erste, die die Hand deiner Geschwister hält, wenn sie weinen. Ich weiß nicht, ob du zurückkommen wirst, aber ich hoffe, dass du weißt, dass wir alle bei dir sind und es für immer bleiben werden, weil du so bist, wie du bist. Vergiss das nie."
Ihre Worte berühren mich auf eine Weise, die mir keine Tränen in die Augen treibt. Stattdessen spüre ich, wie sich eine ganz besondere Wärme von meiner Mitte langsam in meinem ganzen Körper verteilt.
Doch Stille herrscht. Niemand kann glauben, dass dies wahrscheinlich unsere letzten Momente zusammen sind. Es vergehen die letzten Minuten, indem wir einfach eng beieinander sitzen, ohne nach falschen Worten zu suchen. Jeden Moment ist es soweit. Dann kommen die Friedenswächter und ich sehe sie zum letzten Mal.
Auf einmal regt sich Aline hinter mir und zieht etwas aus ihrer Tasche. Alle drehen sich zu ihr um. Und was ich dann ich sehe, lässt meinen Herzschlag für einen Moment aussetzen. In ihrer Hand hält sie eine kleine, spitze Nadel. Damit hat sie früher manchmal Moms alte Kleider geflickt.
„Das wird dir am Füllhorn das Leben retten. Bitte. Bitte, ich will nicht ohne dich leben." flüstert sie leise und legt die Nadel in meine Hand. Ohne zu zögern lege ich sie in ihre Finger zurück und verschließe sie.
„Nein! Aline! Das wäre Betrug! Wenn die das rauskriegen, dann..." - ich will es mir garnicht ausmalen. „Steck es sofort zurück!" sagt Lim energisch und steht vom Sofa auf, um Aline die Nadel abzunehmen. Doch sie weicht zurück.
„Bitte! Dann tu es für uns! Ohne dich werden Annie, Lim und ich verhungern!" schluchzt sie schon fast. Ich weiß genau, dass sie so etwas nur tun würde, wenn es ihr unglaublich wichtig wäre. Und das ist es.
Doch trotzdem schüttele ich den Kopf. Auch die anderen kommen dazu und versuchen hektisch, es Aline auszureden. „Das geht nicht! Librae würde es sich nie verzeihen, wenn du erwischt wirst." erklärt ihr Nale besorgt. Annie nickt hektisch und will etwas sagen, doch dann geschieht es.
Mit einem Krachen öffnet sich die Tür und zwei Friedenswächter betreten den Raum, um zu verkünden, dass die Stunde um ist. Als sie Aline mit der „Waffe", die sie mir hinhält, entdecken, geht alles ganz schnell.
Laute Schritte. Alines dumpfer Aufprall auf dem Boden. Unsere Schreie. Die Schläge der Friedenswächter. Alines Schmerzensschrei. Der Friedenswächter, der eine Elektrowaffe zieht. Und ein dumpfer Schlag.
Aline liegt in einer Blutlache auf dem Boden und regt sich nicht mehr.
Lim, Annie, Atala, Nale und ich versuchen alles, um die Friedenswächter aufzuhalten, doch drei weitere stürmen herein und packen alle außer mich. Unter heftiger Gegenwehr, schreiend, und nach Aline und mir greifend werden sie aus dem Raum gezerrt.
Ein anderer Friedenswächter packt die reglose Aline am Arm und zieht sie aus dem Raum. Der letzte Soldat lässt mich erst los, nachdem alle aus dem Raum verschwunden sind und nachdem ich mich heiser geschrien habe. Dann stürmt auch er hinaus und schlägt die Tür mit einem lauten Krachen hinter sich zu.
Ein Donnerschlag.
Zwei Schüsse.
Mein Schrei.
„Nein!" kreische ich ein letztes Mal und hämmere verzweifelt und panisch gegen die Tür, die jedoch ins Schloss fällt und verriegelt wird.
Ich bin allein.
Ich breche zusammen. Ich taumele rückwärts und das Sofa fängt mich auf. Immer wieder spielen sich die letzten Sekunden und die Erinnerung an den Tod unserer Eltern vor meinen Augen ab. Immer wieder.
Ich vergrabe den Kopf im meinen Händen. Was hat das Kapitol bloß getan? Meine Schwester ist höchstwahrscheinlich tot! Ich hätte ihr die Nadel aus der Hand reißen sollen, ohne dass sie damit gesehen wird! Was habe ich bloß getan?
Aline ist tot!
Schluchzend und schreiend weine ich in mich herein, immer und immer weiter.
Dann umhüllt mich Dunkelheit.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top