01 | Das Haus in den Wellen
Ich schrecke auf.
Es war wieder der Albtraum. Es war wieder die schreckliche Erinnerung, die mich seit vier Jahren beinahe jede Nacht aus dem Schlaf reißt. Ich versuche, mich wieder etwas zu beruhigen und dieses schreckliche Ereignis aus meinem Kopf zu drängen.
Mir ist klar, dass ich nicht erneut einschlafen kann. Ein Blick auf den uralten roten Wecker auf meinem Nachttisch zeigt mir, dass es sowieso bereits halb sieben ist. Ich drehe mich einmal in meinem Bett herum und lege meinen Kopf auf die andere Seite des Kissens. Sofort sehe ich Annie, die sich beinahe ganz unter der Bettdecke vergraben hat, die wir beide uns teilen. Nur ein kleiner Teil ihres roten Haars lugt darunter hervor.
Ich streiche ihr sanft über den Kopf. Ich versuche es zu verdrängen und zu vergessen, diese schreckliche Angst um sie, die ich aufgrund dieses schicksalshaften Tages verspüre.
Ich sollte wohl besser etwas tun, als noch liegen zu bleiben. In den letzten Jahren habe ich gelernt, dass Ablenkung das beste Mittel gegen Trauer und Angst ist. Also richte ich mich auf und schiebe vorsichtig die himmelblaue Bettdecke beiseite, damit ich aufstehen kann.
Ich bleibe einen Moment auf der Bettkante sitzen. Mir gegenüber, an der dunkelblau gestrichenen Zimmerwand, lehnt ein kleines Regal. Annie und ich haben es über die letzten Jahre hinweg mit kleinen Dingen gefüllt, die wir in Distrikt vier gefunden haben.
Das alte Holz der Bretter biegt sich schon unter den unzähligen Muscheln, Kompassen, Fischernetzen und noch vielem anderen. Wir wissen, dass die Dinge kaum etwas wert sind, doch das ist uns egal.
Wenn es draußen stürmisch ist und wir im Haus bleiben müssen, denken Annie und ich uns oft kleine Geschichten für die einzelnen Fundstücke aus. Von wem sie kommen und bis hin wie es dazu kam, dass wir sie eines Tages im Sand des Strandes gefunden haben. Allein der Gedanke daran bringt mich zum Lächeln.
Leise tappe ich über den kalten Holzfußboden zum Fenster und ziehe die sonnengelben Vorhänge auf. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages tauchen das kleine Zimmer in goldenes Licht.
Von unserem kleinen Felsenhaus aus haben wir eine direkte Sicht auf die hohen Klippen, welche den breiten Strand von Distrikt vier umrunden. Von Annies und meinem Zimmer aus kann man sogar einen Teil des Strands sehen, an dessen Ufer sich gerade die letzten nächtlichen Nebelschwaden auflösen.
Langsam öffne ich das Fenster und lasse eine frische Brise hineinwehen. Der Geschmack von Salz liegt in der Luft und der Himmel ist strahlend blau. Man hört das übliche Kreischen der Möwen.
Heute könnte ein wunderschöner Tag werden - wäre da nicht die Ernte. Ich blicke besorgt auf den Horizont, wo die Strahlen der aufgehenden Sonne das Meer in der Ferne golden glitzern lassen.
Heute ist es also wieder soweit. Der Tag der Ernte ist in unserem Land Panem wie in jedem Jahr wieder da. Der schicksalshafte und schreckliche Tag, an dem sich das Leben von vierundzwanzig Kindern schlagartig verändert. Der Tag, an dem sie die Gewissheit bekommen, dass in zwei Wochen dreiundzwanzig von ihnen tot sind und nur ein einziger wieder in den Heimatdistrikt zurückkehren wird.
Ich sehe erneut zu Annie hinüber, die noch immer schläft.
Ich habe solche Angst um sie. So schreckliche Angst, dass sie für die alljährlichen Hungerspiele ausgewählt wird, dass diese Angst mich schrecklich an den Tod meiner Eltern vor vier Jahren erinnert.
Mit ihren dreizehn Jahren hat meine jüngere Schwester zwar erst zwei Zettel unter tausenden im Lostopf, doch trotzdem besteht jedes Jahr, seitdem sie zwölf ist, die Chance, dass sie für die grauenvollen Spiele des Kapitols ausgewählt wird.
Ich versuche, die düsteren Gedanken loszuwerden, indem ich zum Schrank laufe, um mir etwas zum Anziehen für die Ernte rauszusuchen. Da wir im Vergleich zu manchen anderen ein recht wohlhabender Distrikt sind, fällt es vielen Bewohnern hier nicht schwer, sich relativ schick zu kleiden. Meine Familie war jedoch nie besonders reich und unser Schrank ist nicht gerade gut gefüllt.
Fast all die Kleidung, die Annie und ich besitzen, stammt von unserer Mutter.
Ich suche mir ein knielanges, dunkelblaues Kleid aus. Es ist wohl nichts außergewöhnliches, doch ich finde es wunderschön, da es mich so sehr an sie erinnert. Als ich es aus dem Schrank hole, weht noch immer etwas von ihrem Geruch mit.
Ich glaube, ich bilde es mir ein, doch Blumen und der Geruch des Meeres - so hat Mom immer gerochen, wenn ich sie in den Arm genommen habe.
Doch sie und mein Vater sind nicht mehr hier, und sie werden es nie wieder sein. Annie, Lim und ich sind alle tief in uns noch immer nicht über ihren Tod hinweg, doch wir haben gelernt, damit umzugehen.
Nur die kleinste, Aline, trauert noch immer zutiefst und auch von außen. So oft bricht sie in Tränen aus und Lim, Annie und ich versuchen alles, damit es ihr besser geht. Schon seit etwa zwei Jahren leben wir zu viert im Felsenhaus, ohne einen Erwachsenen, Lim mit seinen zwanzig Jahren ausgenommen.
Davor hat sich Rosa, eine ältere Frau aus dem Distrikt, als unsere Großmutter ausgegeben, damit wir nicht ins Waisenhaus mussten. Dafür bin ich ihr bis heute unendlich dankbar.
Nachdem ich mich angezogen und meine schwarz-bräunlichen Locken zu einem schnellen Dutt gebunden habe, schließe ich leise unsere Zimmertür hinter mir und trete in den kleinen Flur. Behutsam schleiche ich zu Alines und Lims gemeinsamen Zimmer.
Die Tür steht einen Spalt breit offen. Ich spähe hindurch und sehe Aline vor dem kleinen Fenster sitzen, welches ebenfalls einen Blick auf das Meer bietet. Sie hat mir den Rücken zugewandt und sieht still aus dem Fenster hinaus. Ich weiß, dass sie gerade wieder total in ihren eigenen Gedanken gefangen ist und an unsere Eltern denkt.
Vor ihr liegt ein Blatt Papier, auf dem ich ein wunderschönes Bild von unserer Familie erkenne, das sie gezeichnet hat. Wir Kinder sehen alle glücklich aus. Die tiefen inneren Narben, die uns die Zeit zugefügt hat, sind in unseren Lächeln nicht zu sehen.
Aline hatte schon immer ein Talent fürs Zeichnen und manchmal hilft es ihr, ihre Ängste dabei ganz allein zu verarbeiten. Also wende ich meinen Blick von ihren schwarzen, schulterlangen Haaren wieder ab und mache mich auf den Weg zum Flur. Ich weiß genau, wo ich hinwill.
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Ich schließe die Haustür hinter mir. Ihre ursprünglich dunkelgrüne Farbe ist mit der Zeit beinahe ganz abgeblättert. Ich atme die salzige Meeresluft ein und die morgendlichen Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht. Das mir so vertraute Kreischen der Möwen beruhigt mich.
Doch dies hält nicht lange an. Als ich aus unserem winzigen Vorgarten trete, dessen Gras über und über mit sonnengelben Blumen bedeckt ist, laufen drei Friedenswächter an unserem Haus vorbei.
Immer, wenn ich sie sehe, diese weiß gerüsteten Soldaten des Kapitols, die hier im Distrikt für Ordnung sorgen sollen, macht sich eine ungeheure Angst in mir breit. Denn solche Menschen haben meine Eltern erschossen, nur weil diese das Leben ihrer Kinder verteidigten. Und in den letzten Jahren wurde aus dieser Angst auch Wut. Wut auf die Friedenswächter und auf das Kapitol, das überhaupt dafür sorgt, dass solche Ungerechtigkeiten passieren.
Erst, als die drei den sandigen Hügel, auf dem unser Haus steht, vollständig hinabgelaufen und somit aus meiner Sichtweite sind, mache ich mich auf den Weg zum Strand.
Zu meinem Glück ist die Entfernung von unserem Zuhause bis dort nie besonders groß gewesen, sodass es schon immer nur ein kleiner Fußweg durch die Gassen des Distrikts war, der uns von den Ufern des Meeres trennt.
Ich laufe über die tiefgrüne Salzwiese hinab ins Dorf und bin schließlich in den dichten Gassen angelangt. Die pralle Sonne lässt die dunkelblauen Dächer der unzähligen weißen Häuser schimmern. Meine Füße graben sich in den weichen Sandweg, der zwischen den kleinen, bunten Vorgärten entlangführt. Jetzt im Sommer sieht es hier wirklich schön aus, wenn die vielen Blumen dort blühen und alle ihre bunt angemalten Haustüren mit den handgemachten Dekorationen aus Muscheln und Seetang verschönern.
Je näher ich dem Hafen komme, desto mehr Bewohner sehe ich, die es ebenfalls bereits aus dem Haus gerufen hat.
Als ich am Fischermarkt vorbei laufe, der heute komplett still und leer steht, grüße ich Rosa, die alte Frau aus dem Distrikt, die uns vor dem Waisenhaus gerettet hat. Beinahe jeder im Dorf kennt sie. Sie ist gerade dabei, ein paar Kinder von der Lagerhalle zu verscheuchen, in der sich der Fang lagert, der ans Kapitol geht.
Nach der Schule verdiene ich ich mir ein paar wenige Münzen auf dem Markt, wenn ich dort ein paar Stunden arbeite. Kein schöner Job, denn viel zu verkaufen gibt es nicht. Den größten Teil des Fangs, den wir Bewohner machen, geht sofort ans Kapitol und um die wenigen Reste, die uns überlassen werden, gibt es nicht selten Streitereien, vor allem auf dem Markt.
Rosa lächelt mir aufmunternd zu, sie scheint zu wissen, was mir am heutigen Tag durch den Kopf geht. Einst hat sie ihre kleine Schwester in den Spielen verloren.
Schließlich lasse ich den Markt hinter mir, biege in eine kleine Abzweigung zwischen zwei dicht stehenden Häusern ein und schon bald höre ich das Rauschen des Meeres. Wie bereits erwartet, sind die beiden schon da. Ich laufe zu ihnen. Sie sitzen mit dem Rücken zu mir und sehen auf das Meer hinaus. Atala und Nale, die zwei besten Freunde, die ich je hatte.
Nale steht auf, als er mich sieht und grinst verschmitzt unter seinen roten Locken hervor. Wir sind etwa gleich alt und schon seit Kindestagen verbindet uns eine enge Freundschaft.
„Hey." murmelt Atala, als sie mich ebenfalls entdeckt.
Sie lächelt mir zu und für einen Moment sehen wir uns in die Augen. Ihre sind tiefblau mit einigen grünen Sprenkeln. Ich kenne diesen Anblick nur zu gut, schon früher haben ihre Augen immer so viel Wärme ausgestrahlt. Und in letzter Zeit habe ich in ihnen etwas gesehen, was ich nicht ganz deuten kann. Ich denke, Atala und mich verbindet schon länger mehr als Freundschaft. Doch was es ist, weiß ich nicht.
Schließlich sitzen wir alle nebeneinander am Ufer und beobachten die Wellen, die im Morgenwind sanft vor - und zurückschwappen.
„Wie gehts Rany?" frage ich Nale schließlich.
„Na ja, es ist ihr erstes Jahr. Sie hat die Angst, die jeder dabei verspürt. Aber ich habe ihr versprochen, dass sie nicht gezogen wird. Ich habe auch dafür gesorgt, dass sie keinen einzigen Tesserastein beansprucht und das werd' ich bei Nilo und Luca in den nächsten Jahren auch machen. Also, ein Zettel unter tausenden, eine geringere Chance gibt's nicht. Und wahrscheinlich ist der Versammlungsplatz sowieso wieder voll mit Karrieros." erzählt er.
Karrieros. Ein seltsames Wort für die Tribute, die freiwillig in die Hungerspiele gehen und seit klein auf für den Sieg trainieren. Beinahe jedes Jahr sind sie die Sieger und haben keine Scheu davor, andere Tribute in der Arena brutal zu töten.
„Na hoffentlich" schnaubt Atala und streicht sich energisch eine Strähne ihrer blonden Locken aus dem Gesicht. „Ist ewig her, dass wir die Spiele gewonnen haben." fügt sie hinzu.
Mit düsterer Miene blicke ich auf die Sonne am Horizont, die nun bereits vollständig hinter dem Meer aufgetaucht ist. Die Ernte, die jedes Jahr auf dem großen Platz in der Mitte des Distrikts stattfindet, erinnert mich immer wieder so schrecklich an den Tod meiner Eltern.
Ich spüre wieder den eiskaltem Schauer, der meinen Rücken hinunterläuft und dann diese eiserne Hand, die sich um meinen Hals zu legen scheint. So fühlt es sich immer an, wenn ich an diese schreckliche Erinnerung zurückdenke.
Atala legt ihren Arm um mich, und holt mich damit zurück aus meinen dunklen Erinnerungen. Sie weiß genau, wie es mir geht.
„Danke" flüstere ich ihr zu, und ich sehe ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Diese Eigenschaft mag ich besonders an ihr. Sie ist immer ehrlich, direkt und hat beinahe zu jeder Situation einen Spruch auf den Lippen, doch auf der anderen Seite ist sie mitfühlend, sanft und oft die einzige, die mich aus einer Phase der tiefen Trauer hinausholen kann.
Nale und sie beginnen zu versuchen, mich von der Ernte und meinen Eltern abzulenken.
„Wie wär's, gehen wir morgen wieder zusammen raus?" fragt Nale seine zwei besten Freundinnen. „Klar. Kurz nach der Ernte und wenn die Tribute ins Kapitol kommen, konzentrieren sie sich eh nicht auf die einzelnen Distrikte. Da stört es niemanden, wenn wir mal ohne Zuteilung Fischen gehen." meint Atala.
Ich nicke ihr zu. Viele Teenager in Vier nutzen ihre Freizeit, um noch mal mit dem Boot raus aufs Meer zu fahren, obwohl es verboten ist. Wir Bewohner kennen unsere Ufer von klein auf besser als jeder Friedenswächter und daher ist es öfter mal möglich, einfach rauszufahren.
Doch hinter die Grenze haben es nur ganz wenige geschafft. Nach einigen Kilometern Meer gibt es eine Abgrenzung aus Seeminen. Es gibt es nur Geschichten und Spekulationen über wenige, die es geschafft haben, zu fliehen.
Wir reden eine Weile weiter. Meine Angst um Annie verschwindet zwar nicht, doch die beiden schaffen es, mich für kurze Zeit auf andere Gedanken zu bringen.
„Ich muss los. Mein Vater und meine Geschwister warten sicher schon. Wir...wir sehen uns nachher." sagt Nale schließlich. Sein sommersprossiges Gesicht sieht ängstlich aus, also nehme ich ihn kurzerhand in den Arm.
„Es wird schon. Ihr beide werdet nicht gezogen." beruhige ich den siebzehnjährigen. Dankbar nickt er mir zu, dann macht er sich auf den Weg zu seiner Familie, die etwa einen Kilometer von uns entfernt lebt.
Ich verschränke meine Hände in Atalas. Wir bleiben eine Weile so sitzen, ohne miteinander zu sprechen, denn manchmal hilft dies mehr, als nach Worten zu suchen. Ich schließe meine Augen und denke nochmal an das bevorstehende Ereignis.
Schüsse. Ein Schrei. Wir rennen aus der Menge davon. Ich sinke am Boden zusammen.
Immer wieder hallt die schreckliche Erinnerung in mir auf.
Was geschieht, wenn tatsächlich Annie gezogen wird? Sie kann nicht kämpfen, und sie würde es erstrecht nicht übers Herz bringen, jemanden in den Spielen zu verletzen oder gar zu töten. Es hat noch nie eine dreizehnjährige gewonnen und das in bisher fünfzig Hungerspielen.
Wie würde es uns zerstören, wenn nun auch noch Annie sterben würde? Meine Annie? Das darf einfach nicht geschehen. Ich rede mir ein, dass sie mit zwei Zetteln nicht gezogen wird.
Doch ich weiß genau, dass es niemals unmöglich ist.
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