00 | Prolog
Ein krachendes Donnergrollen. Schwarze Wolken. Und schwere Regentropfen, deren Aufprall auf dem Asphalt laut wie Schüsse in meinem Kopf widerhallt.
Die Welt um mich herum ist grau, dicke Nebelschwaden liegen in der Luft und der unaufhörlich prasselnde Regen lässt meine durchnässten, schwarzen Haare wie lange Fäden vor meinen Augen herabhängen.
Das Schluchzen eines jungen Mädchens hallt laut über den überfüllten Versammlungsplatz. Es ist das Schluchzen meiner Schwester. Ich nehme ihre kleine Hand, die sich sofort fest an meine klammert.
Das rothaarige Mädchen sieht hilfesuchend zu mir hinauf, doch ich kann nichts für sie tun. Nichts kann uns aus dieser Lage hinausbringen.
Die Gesichter in der Menschenmenge auf dem Platz sind düster, als meine beiden Schwestern, mein großer Bruder und ich uns einen Weg hindurchbahnen.
Ich versuche, meine zittrige Hand unter Kontrolle zu bringen, als meine andere Schwester diese ebenfalls nimmt. In ihren tiefblauen Augen liegen so viel Angst und Trauer. Trotz ihres jungen Alters versteht sie, dass etwas gewaltig nicht stimmt, denn neben mir blickt ihr selbst großer Bruder, der sie sonst immer aufmuntern kann, nun düster nach vorne.
Schmerzerfüllt wende ich meine Augen von ihr ab und folge schließlich auch dem Blick meines Bruders.
Es ist wie ein erneuter Stich ins Herz, als ich zwei dunkle Gestalten, gedrängt zwischen weiß gerüsteten Soldaten, die eisernen Treppen zu der Bühne vor uns hinaufsteigen sehe.
Traurig sehe ich zu meiner blassen Mutter, die soeben die Bühne betreten hat. All die Wärme, all das Glück, was ich schon seit dreizehn Jahren jeden Tag aufs Neue in ihren wunderschönen Augen sehe, ist nun aus ihnen gewichen.
Mit einem seltsam leerem Blick sieht sie zu Boden. Ich merke, wie ich die Hände meiner beiden Schwestern beinahe zerdrücke, als sich ein Friedenswächter in weißer, durchnässter Rüstung hinter meine Mutter stellt und sie auf die Knie schubst. Ihre Hände sind gefesselt.
Ich zucke erneut zusammen, als ein weiterer Friedenswächter meinen Vater, der das selbe Gesicht wie mein Bruder hat, ebenfalls mit einem harten Aufprall auf die Knie vor ihm sinken lässt.
Ich spüre den salzigen Geschmack von Tränen auf meinen Lippen. Zitternd drücke ich meine Geschwister an mich.
Und da ist er. Da ist der Blick meiner Eltern, den ich gesucht habe. Der nun auf meinen Geschwistern und mir ruht.
Und beide unsere Eltern schaffen es, uns anzusehen. Beide schaffen es, ihre vier Kinder anzusehen, die dicht beieinander gedrängt stehen und sich an den Händen halten. Die eine schreckliche Gewissheit im Nacken haben.
Die ihre Eltern nun zum allerletzten Mal sehen.
In den tiefgrünen Augen der beiden liegt nur tiefe Trauer und Mitleid mit uns. Doch jetzt, wo sie uns sehen, finde ich etwas in ihren Gesichtern wieder, was sie uns, seit wir auf die Welt kamen, jeden Tag geben. Liebe. Auch jetzt - trotz dieser schrecklichen Situation.
Ich versuche, nicht zu schluchzen, denn außer den prasselnden Regentropfen und dem Donner, der ab und zu über dem gräulichen Meer in der Ferne ertönt, ist absolut nichts auf dem Versammlungsplatz zu hören.
Und wie stehe ich dann auch vor meinen Geschwistern da? Wenn der älteste schon nicht stark sein kann, wie fühlen sich meine kleinen Schwestern dann, wenn ich ihnen ebenfalls signalisiere, dass ich aufgegeben habe?
Ich versuche, mein schnelles Atmen unter Kontrolle zu bringen, doch als meine jüngste Schwester ihr tränenüberströmtes Gesicht in meinem Kleid vergräbt, kann ich nicht anders, als wie ein flehendes, hilfloses Kind zu meinen Eltern hinaufzusehen.
Als ich meinen Schwestern über ihre Köpfe streiche, sehe ich, wie mein Vater meinen Blick fängt. Nicht den meiner Geschwister, nur meinen.
Er zeigt mir eine letzte Geste.
Es ist ein Nicken.
Ein Nicken, das mir so viel bedeutet.
Dann verschließen er und unsere Mutter ihre Augen.
Ich höre den Regen fast garnicht mehr, und die Welt um mich herum beginnt, sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Mein Herz schlägt so laut, dass ich Angst habe, es könnte aus meiner Brust herausspringen.
Mir wird schwindelig, als die dumpfen, harten Schritte von zwei Friedenswächtern die qualvolle Stille auf dem Versammlungsplatz durchbrechen, und als alle Blicke der anderen Leute sich mitleidig auf meine Geschwistern und mich richten.
Meine Umgebung beginnt sich zu drehen, als die beiden Wächter hinter unseren Eltern auf der breiten, grauen Bühne stehenbleiben. Und ich drücke meine Geschwister ganz fest an mich, als die beiden Soldaten jeweils eine Schusswaffe hervorholen.
Voller Angst verschließe ich meine Augen, nachdem ich ein allerletztes Mal zu meinen Eltern gesehen habe.
Und als zwei Schüsse ertönen, die mich heftig zusammenzucken lassen und die sich wie zwei spitze Dornen in mein Fleisch bohren, kann ich nicht anders, als zu schreien.
Ich kann nicht anders, als meine Angst, meine Wut, meine Verzweiflung und die schreckliche Trauer schrill aus mir herauszuschreien.
Und als ich die Augen wieder öffne und ein höllisch lautes Donnerkrachen meinen Schrei übertönt, renne ich los.
Ich ziehe meine Geschwister mit mir und renne aus der riesigen Menschenmenge hinaus. Immer und immer wieder hallen die Schüsse in meinem Kopf auf. Ich renne, renne davon, durch den dichten Regen, an den grauen Gebäuden vorbei, einfach nur weg.
Ich will weg von hier, weg von allem, weg von diesem schrecklichen Ort, weg von dieser schrecklichen Situation, weg von den unzähligen Zuschauern, deren Blicke sich in unsere Rücken bohren, weg von dem Regen, weg von dem Donner, weg von dem Tod.
Ich will einfach nur nach Hause, zu meinen Eltern, mich an sie drücken, sie nie wieder loslassen und den höllischen Schmerz in mir auslassen. Doch es geht nicht. Nicht mehr. Nie mehr.
Wohin renne ich? Ich kann nicht zurück! Meine Eltern sind tot, sie wurden erschossen! Ich renne immer weiter und weiter, bis der große Versammlungsplatz nur noch in weiter Ferne zu sehen ist.
Und dann bleibe ich keuchend stehen und sinke auf den schlammigen Boden auf die Knie.
Erst jetzt bemerke ich, dass meine Geschwister mir die ganze Zeit gefolgt sind. Der Arm meines Bruders legt sich um meine Schulter, meine jüngste Schwester drückt sich zitternd an mich und der rothaarigen laufen dicke Tränen die Wange hinab, als sie mich umschlingt. Wimmernd vergrabe ich meinen Kopf in den Händen.
Sie sind die einzigen, die ich noch habe. Meine Geschwister sind die einzigen, die wissen, wie es mir geht. Die einzigen, denen soeben das gleiche Grauen widerfahren ist. Und sie sind bei mir. Sie halten mich fest.
Und ich weiß jetzt, was mein Vater mit dem Nicken gemeint hat. Ich soll meine Geschwister beschützen. Für sie da sein. Sie lieben. Die Verantwortung übernehmen. Egal, was kommt.
Und das werde ich tun. Von nun an. Für immer. Ich werde den beiden ihren letzten Wunsch erfüllen. Zitternd blicke ich zum blaugrauen Meer in der Ferne, das mir schon immer das Zuhause bietet, was ich liebe. Doch von nun an wird für immer ein Teil fehlen.
Und dann umhüllt mich Dunkelheit.
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