24 | Finale


Alle Mentoren sind am Morgen nach Yuvans Tod in der großen Festhalle über dem Trainingscenter versammelt worden. Hier ist die Leinwand, auf der die Übertragung aus der Arena laufen wird, noch einmal viel größer als die im alten Saal. Auf einem kleinen Podest ist eine stilvolle Lounge eingerichtet, in der Präsident Snow und ein paar der einflussreichsten Leute im Kapitol Platz nehmen werden. In Kürze wird das Finale der 73. Hungerspiele offiziell beginnen.

Meine Gedanken jedoch sind zuhause in Distrikt vier. Jetzt in diesem Moment werden alle seine Einwohner auf dem großen Versammlungsplatz stehen und ebenfalls auf den Beginn des letzten Arenatages warten. Mein Herz wird schwer, als ich an Yuvans Eltern denke. Sie haben vor wenigen Stunden ihren Sohn sterben gesehen - und damit auch die letzte Hoffnung, dass die Mutter wieder gesund wird. Schon jetzt nehme ich mir vor, zuhause einen Teil meines Siegergeldes an seine Familie zu spenden.


Es fühlt sich so falsch an, hier die Spiele zu sehen. Umgeben von Gemütlichkeit und Luxus, und mit einem Haufen Kapitoler im Rücken ist es vermutlich noch schlimmer als in den Distrikten.

Die Anspannung zwischen den übrigen Mentoren ist greifbar. Eng beieinander sitzen de Grüppchen aus Distrikt zwei, zehn und vier. Die verbliebenen Sieger, nun ohne Aufgabe, haben sich über die Halle verteilt, sichtlich unwohl in ihrer Haut.

Auf dem großen Eichentisch vor uns stehen heute nur noch Getränke - die Tablets können wir an diesem Tag nicht mehr benutzen. Das Kapitol will, dass die drei übrigen Tribute sich heute alleine durchschlagen. Nicht gerade zu unserer Freude sitzt auch Saphire bei uns - doch sie scheint zu bemerken, dass sie in unserem eingespielten Siegerteam keinen Platz hat. Ein wenig abseits thront sie in ihrem Samtsessel und fummelt nervös an ihrem Rüschenkleid herum.

In diesem Moment ertönt eine dröhnende Fanfare. Die schweren Flügeltüren des Saals öffnen sich und Präsident Snow, begleitet von ein paar anderen, betritt den Saal. Ein Trupp Friedenswächter umschließt die Gruppe, ihre schweren Waffen jederzeit griffbereit. Ruhig gleitet der Blick des Präsidenten über den Kreis der Sieger. Seine Lippen formen sich zu einem seltsamen Lächeln, ehe er in der Ehrenloge Platz nimmt.

Doch niemandem bleibt mehr Zeit, um Snow entweder bewundernde oder hasserfüllte Blicke zuzuwerfen, denn schon erwacht die Leinwand zum Leben und das goldene Wappen des Kapitols erscheint. „Es fängt an." sagt Finnick leise. Das Licht im Saal wird gedimmt, als alle Kameras auf die Arena schalten. Eine gespenstische Stille senkt sich über die Halle.

Ich atme tief durch. Es gibt noch immer Hoffnung. Jinia ist unter den letzten drei Tributen und damit weiter, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich weiß nicht, was ihr bevorsteht - doch es ist tatsächlich möglich, dass sie die Siegerin der 73. Hungerspiele wird.


Jinia, Wade und Gray schrecken gleichermaßen zusammen, als die Hymne des Kapitols auch in der Arena ertönt. Die Stimme von Seneca Crane, dem neuen obersten Spielmacher, wird laut.

„Meine Lieben Tribute - Glückwunsch, ihr drei habt hart gekämpft und steht im Finale der 73. Hungerspiele! Seid stolz auf euch! Aber noch ist es nicht ganz geschafft - wie ihr wisst, seid ihr noch immer zu dritt, und es kann nur einen Sieger geben. Also - kehrt zum Füllhorn zurück und bestreitet den finalen Kampf! Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!"

Keine Regung zeigt sich auf den Gesichtern der Tribute. Einen Moment lang blickt jeder von ihnen in den Himmel, wohl wissend, dass nun die letzten Stunden oder gar Minuten dieser Hungerspiele beginnen. Doch schließlich stürzen alle drei von ihnen wie auf ein geheimes Kommando von ihrem aktuellen Versteck los in Richtung Füllhorn.

Sowohl in Wades, als auch in Grays Augen funkelt pure Entschlossenheit, aus Jinias Zügen kann ich keine Emotion herauslesen. Doch trotzdem - tagelang haben sie sich durch die Arena gekämpft und überlebt - und nun sind sie dem Ende all dessen näher denn je. In ungeheurem Tempo sprinten die drei in Richtung Füllhorn, jeweils nichts außer einer Waffe bei sich.

Einen Moment lang halten die Kameras auf Jinias Sprint, doch plötzlich weiten sich ihre Augen. In der nächsten Sekunde sehen auch wir, was ihr so Angst einjagt: die Erde in der Arena erzittert.

Ein dumpfes Grollen ertönt und mit einem ohrenbetäubenden Splittern reißt der Boden unter ihren Füßen auseinander. Die Kamera springt abwechselnd zu Wade und Gray - auch sie haben mit dem plötzlichen Erdbeben zu kämpfen. Die Bäume, an denen sie vorbeirennen, knicken ab und stürzen mit einem heftigen Krachen in einen immer größer werdenden Krater.

Aus der Vogelperspektive wird das Ausmaß der Zerstörung gezeigt, welche das Erdbeben bereits nach wenigen Sekunden in der Arena ausgelöst hat. Es sieht beinahe aus, als würde der gesamte Wald, die Ruinen und selbst die trockene Wüste in sich zusammenfallen.

Jinia springt waghalsig über eine niedrige Mauer, ehe auch diese keine Sekunde später vom bebenden Boden verschluckt wird. Keuchend wirft sie sich vorwärts, landet auf allen Vieren und hechtet sich stolpernd wieder auf die Füße. Keinen Augenblick zu spät - denn in diesem Moment reißt direkt neben ihr ein weiteres Stück des Bodens auf.

Gray hat jedoch weniger Glück. Er befindet sich momentan inmitten eines riesigen Ruinentals. Als neben ihm ein steinerner Fels in sich zusammenfällt, erwischen ihn mehrere spitze Gesteinsbrocken an der Schulter. Mit einem Schrei, der mir durch den ganzen Körper geht, wirft er sich zu Boden. Es dauert nicht lange und seine gesamte rechte Seite ist blutüberströmt - doch er lebt. Humpelnd rafft er sich auf und stolpert mit zusammengebissenen Zähnen weiter.

Wade erreicht inzwischen als Erster das Füllhorn, der einige Ort in der Arena, der vom Erdbeben verschont bleibt. Außer Atem kommt er schließlich inmitten des Sandtals zum stehen, eine Hand an die Seite gepresst. Er ist unverletzt.

Jinia hingegen ist noch am weitesten vom Füllhorn entfernt, auch wenn Gray durch die Verletzungen behindert wird. Allerdings überrascht dieser damit, mit welcher Verbissenheit er sich weiter schleppt und jeglichem Schmerz trotzt, sein schmales Schwert fest umklammert.

Doch schon wird zurück auf Jinia geschaltet, die in diesem Moment auf einer schlammigen Stelle am Waldrand ausrutscht. Aber hinter ihr reißt der Boden noch immer weiter unaufhaltsam auf. Verzweifelt greift sie nach der Wurzel eines Baums und schafft es tatsächlich, sich ein Stück vorzuziehen. Mein Herz hämmert mir gegen die Brust. Ich will garnicht hinsehen, doch ich muss.

Mit einem Kampfschrei wirft sich Jinia weiter vorwärts. Wie durch ein Wunder schafft sie es, sich vom Rand des Kraters wegzuziehen. Sofort springt sie wieder auf die Beine und sprintet die letzten Meter in Richtung Füllhorn. Mit all ihrer Kraft stolpert sie durch ein Ruinental und einen Sandberg hinunter - und dann ist sie da.

Keuchend kommt sie am Fuß des Sandhügels und so am Rande des Tals, das das Füllhorn umgibt, zum Stehen. Im selben Moment sieht man Gray etwa einhundert Meter von ihr entfernt von der gegenüberliegenden Seite den Berg hinunterstürzen, bis auch er schließlich außer Atem abbremst. Wade lauert zwischen ihm und Jinia in der Mitte des Füllhorns.

Einen Moment lang scheint es ganz still in der Arena. Selbst das Erdbeben um das Tal herum verstummt langsam. Entschlossen greift jeder von ihnen seine Waffe fester. Jeder von ihnen weiß, was nun bevorsteht. Jeder von ihnen weiß, dass es nun kein Zurück mehr gibt.

Auch im Festsaal könnte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Ich sitze auf der Kante meines Sessels und kann die Augen kaum von der Leinwand lösen. Aus dem Augenwinkel sehe ich Rivenna neben mir, die Hände zittrig ineinander verknotet. Finnick und Sohail hingegen sind tief in ihren Sessel gerückt, die Arme vor dem Körper verschränkt. Und selbst Saphire ist mit einem Mal ganz blass um die Wangen geworden. Auch die Mentorenteams aus Distrikt zwei und zehn wagen es vor lauter Anspannung nicht einmal, sich zu bewegen.

Und dann geht es los.

Krachend poltern die Füße der drei Tribute auf den Stein und Sand unter ihnen. In einem wahnsinnigen Tempo hechten die drei aufeinander zu - in ihren Augen funkelt eine wilde Entschlossenheit. Bei Gray und Wade ist es eine Entschlossenheit, zu kämpfen - doch die Weise, auf die Jinias Augen in diesem Moment funkeln, ist eine andere. Ich versuche, zu erkennen, was ihr durch den Kopf geht, doch im nächsten Moment sind Gray und Wade da.

Gefährlich nah schwingt das Schwert des Karrieros über Jinias Kopf hinweg und nur noch in letzter Sekunde kann sie ausweichen. Doch schon schlägt Grays Klinge von der Seite auf sie zu. Geradeso schafft sie es, diesem zu entkommen und ein paar Schritte zurück zu taumeln.

Wade und Gray halten jedoch nicht inne - erbarmungslos schlagen ihre Klingen aufeinander, die Wut und Verzweiflung aus unzähligen Tagen Überlebenskampf hinter jedem Hieb. Die Sekunden scheinen sich zu Stunden zu dehnen. Mit einem geschickten Hechtsprung stürzt Wade auf Jinia zu, sodass sie keine Möglichkeit hat, dem Kampf zu entfliehen.

Bei jedem Hieb fürchte ich, dass er meine Tochter tödlich verwundet wird, und doch scheint sie jedem Schlag geradeso entkommen zu können. Wade ist zwar stark und Gray sehr groß - doch Jinia ist klein, flink und wendig.

Aber Wade bleibt ein ausgebildeter Karriero - blitzschnell zielt er auf ihren Kopf und Jinia lässt sich zu Boden fallen. Verbittert sticht diese stattdessen von unten zu und schafft es tatsächlich, ein kleines Stück seiner Jacke aufzureißen. Für einen Augenblick ist der Zweier abgelenkt, Jinia rappelt sich blitzschnell wieder auf und stolpert einige Schritte nach hinten.

Auch Gray nutzt die Gelegenheit, in der der Karriero ihnen für einen winzigen Moment unterlegen ist. Mit einem kräftigen Tritt in den Magen schubst er Wade zu Boden. Unsanft kracht der Zweier auf und sein Schwert fällt ihm klirrend aus der Hand - doch er reagiert sofort.

Mit einem kräftigen Tritt seines Fußes gegen Grays Schienbein nimmt er diesem jeglichen Halt, sodass der Zehner keine Sekunde später neben ihm zu Boden kracht. Blitzschnell richtet sich Wade wieder auf und hechtet auf seinen Gegner zu, bevor er sich zu ihm hinunterbeugt und ihm sein Knie felsenfest in den Hals bohrt.

Mit einer geschickten Handbewegung verdreht er dem Zehner den Arm und stößt dessen Schwert und gleichzeitig letzte Möglichkeit, sich zu verteidigen, meterweit davon.

Kurz sieht es so aus, als wäre Wade nun in dieser Position gefangen. Sein Schwert liegt mehrere Meter von ihm entfernt, doch solange er Gray festhalten will, kann er es nicht bekommen. Keuchend ringt der Zehner unter dem massiven Karriero nach Atem, wohl wissend, dass er nichts anderes tun kann, als auf die nächste Aktion seines Gegners zu warten.

Und im folgenden Moment hat dieser eine Idee. Eine grausame Idee. Während er mit der einen Hand Gray am Boden hält, greift Wade mit der anderen nach einem massiven Stein, der wohl von dem kleinen Felsen neben ihm abgebröckelt ist. Mein Herz macht einen Aussetzer - ich weiß genau, was der Karriero damit vorhat.

Für einen Moment lang verharrt der Zweier reglos - sein Blick geht in die Ferne. Er scheint an irgendetwas oder irgendjemanden zu denken - dann nickt er entschlossen. Und keine Sekunde später donnert er den Stein in seiner Hand mit voller Wucht gegen Grays Schläfe.

Der schreit dumpf auf und unmittelbar rinnt Blut an seiner Stirn hinunter. Erbarmungslos schlägt Wade ihm den Stein an den Kopf - immer weiter und weiter. Schon bald ist Gray bewusstlos und regt sich nicht mehr. Es sieht schon fast so aus, als hätte er den Kampf gegen Wade verloren - doch im nächsten Moment schalten die Kameras auf Jinia.

Entsetzen steht ihr ins Gesicht geschrieben, während wenige Meter vor ihr Wade noch immer erbarmungslos auf Gray einschlägt. Panisch sieht Jinia hinunter auf ihre Hände - ein wenig Blut ist an ihnen verschmiert, es ist Wades Blut. Als sie ihn vor wenigen Sekunden an der Seite getroffen hat, muss sie ihn verletzt haben.

Fassungslos starrt sie auf ihre zittrigen Hände. Der Gedanke „Was habe ich angerichtet?" steht ihr beinahe ins Gesicht geschrieben. Immer wieder gleitet ihr Blick zwischen der Klinge in ihrer Hand und Wade hin und her - und sie scheint genau das gleiche zu denken, wie ich.

Sie könnte es tun.

Es braucht bloß einen Hechtsprung zu Wade und einen kräftigen Stoß mit ihrem Dolch in seinen Hinterkopf - und ihr Gegner wäre tot. In diesem Moment ist er abgelenkt und hat ihr den Rücken zugekehrt, das ist ihre einzige Chance.

Die Kameras schalten zurück auf Gray, der sich noch immer nicht regt, doch tot ist er noch immer nicht. Und trotzdem - einen Angriff auf Wade, und Jinia ist die Siegerin der 73. Hungerspiele. Doch sie regt sich nicht von der Stelle. Rasselnd geht ihr Atem, als sie ihre Klinge langsam anhebt ... vor Anspannung wird mir beinahe schlecht.

Die Kameras springen zurück zu Wade - der scheint realisiert zu haben, dass Jinia hinter ihm steht. Für einen Moment lässt er von Gray ab und blickt zurück in das Gesicht meiner Tochter.

Und in deren Augen funkelt mit einem Mal auch eine Entschlossenheit - doch es ist keine Entschlossenheit, zu kämpfen. Es ist keine Entschlossenheit, zu töten. Es ist eine Entschlossenheit, zu ...

„Lass sie nicht gewinnen." wispert Jinia ganz leise und blickt Wade dabei direkt an. Der starrt sie für einen Moment mit geweiteten Augen an, bevor seine Blicke zwischen dem sterbenden Gray und dem blutüberströmten Stein in seiner Hand hin und her huschen. Und dann sieht er wieder zurück zu Jinia. Er schluckt, bevor er den Stein mit einem Mal polternd zu Boden fallen lässt. In der nächsten Sekunde ertönt die Kanone und Gray unter ihm ist tot.

Doch die Kameras zeigen den Zehner keine Sekunde lang - stattdessen bleiben sie auf Jinia gerichtet. Noch immer hält sie ihre Klinge in der Hand. Noch immer könnte sie sich auf Wade stürzen und kämpfen. Noch immer könnte sie das Kapitol gewinnen lassen. Doch sie tut nichts dergleichen.

Ich wage es nicht zu atmen und starre unentwegt auf die Leinwand. Denn mit einem Mal schleicht sich ein ganz böser Gedanke in meinen Kopf. Übelkeit steigt in mir auf und ich beuge mich vor, um mich zu übergeben - doch meine Kehle ist leer.

Die Welt verschwimmt vor meinen Augen, als ich zurück auf die Leinwand blicke. Denn Jinia - hat begriffen. Schon seitdem ihr Name auf dem Ernteplatz verlesen wurde, hat sie begriffen, dass sie sich von nun an in einem Spiel befindet, indem das Kapitol jede ihrer Aktionen kontrolliert. Ein Spiel, in dem das Kapitol ihr alles nimmt, was sie zu Jinia macht. Ein Spiel, das selbst, wenn sie es gewinnt, gerade erst begonnen hat.

In der nächsten Sekunde füllt Jinias Gesicht den ganzen Bildschirm aus und ihre Augen blicken undurchdringlich in die Kamera - geradewegs hinein ins Kapitol und ins Herz seines Präsidenten. Ein letztes Mal formen ihre Lippen Worte. Worte, die alles verändern werden.

„Ich werde niemals euch gehören."

Die Kameras brauchen einen Moment, um wieder auf ihren gesamten Körper zu filmen - und auf die Klinge, die in ihrer Brust steckt. Unmittelbar färbt sich ihr Hemd dunkelrot, doch Jinia regt sich keinen Zentimeter und blickt noch immer mit eisernem Blick in die Kamera.

Ein allerletztes Mal hebt und senkt sich ihre Brust. Ein allerletztes Mal leuchten ihre Augen im selben Licht wie die meinen. Ein allerletztes Mal sehe ich meine lebendige Tochter.

Und dann ertönt der Schlag der Kanone.   

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