21 | Die letzten Fünf
Es ist das erste Mal in den 73. Hungerspielen, dass zwei Tage lang kein einziger Tribut ums Leben kommt. Jetzt, da tatsächlich nur noch fünf von ihnen übrig sind, drei davon in einem Bündnis, vermeiden es wohl alle gerne, den anderen über den Weg zu laufen.
Bloß Wade ist als einziger auf der Suche nach Gray aus Zehn, den er im Kampf mit Leichtigkeit besiegen könnte. Der Gedanke, dass der Zweier sich eventuell aber auch mit ihm verbünden will, erscheint jedoch auch nicht mehr so fremd. Denn zu dritt sind Nate, Yuvan und Jinia stärker als der Karriero allein.
Einerseits beruhigt mich die Stille in der Arena irgendwie, doch andererseits kann das, wie ich das Kapitol kenne, für einen längeren Zeitraum nie etwas gutes bedeuten. Um den Zuschauern ein wenig Unterhaltung zu bieten, werden selbst die Mentoren, deren Tribute schon tot sind, nun allesamt zu Interviews heranzogen, in denen sie über ihre „Favoriten" unter den noch Lebenden sprechen sollen.
Ich bin froh, dass Caesar meine Kollegen und mich nicht erneut dazu verdonnert hat. Mit noch zwei Tributen in der Arena wäre es auch mittlerweile nicht mehr fair, uns für eine längere Zeit aus dem Mentorensaal zu ziehen.
Als der Morgen des achten Tages in der Arena anbricht, ist der Himmel das erste Mal seit langem mit einer dunklen Wolkendecke überzogen. Im Mentorensaal ist es ruhig geworden, nur noch vier Teams sind da.
Der Vormittag verläuft ruhig, und die Kameras wechseln zwischen den drei Perspektiven der übrigen Tribute hin und her. Irgendwann bleibt das Bild bei Yuvan und Jinia hängen. Nate ist ein paar Meter von ihnen im Dickicht des Waldes auf der Suche nach Nahrung.
Die zwei aus Distrikt vier sind beide an einen Felsen gelehnt. Schnell fällt auf, dass Jinia Yuvan ein wenig nachdenklich mustert. Schon seitdem er gesagt hat, dass er sich ihnen anschließen will, scheint ihr eine Frage nicht aus dem Kopf zu weichen. Doch irgendetwas scheint sie davon abgehalten zu haben, diese zu stellen - bis jetzt.
„Yuvan?" fragt sie leise. Ihr Distriktpartner blickt auf. Auch sein einst makelloses Gesicht ist von tiefen Kratzern und Dreck überzogen, genau so der Arm, an dem ihn Wade vor drei Tagen erwischt hat. Wir haben den zweien jedoch Verbandszeug geschickt, sodass die Blutung gestoppt werden konnte.
Jinia erhebt erneut die Stimme.
„Warum hast du dich eigentlich ausgerechnet uns angeschlossen? Ich meine, Du bist ein..." beginnt sie. „Karriero.", beendet Yuvan ihren Satz. „Ja, ich ... dann hätte sich der finale Kampf unter ihnen und mir ausgetragen. Da suche ich mir eher jemanden, bei dem..."
Jinia grinst schief. „Ich schätze dich sehr, Yuvan, aber du bist ein genau so schlechter Lügner wie mein Bruder.", sie hält inne und mustert für eine Weile Yuvans Gesicht. „Da fällt mir ein - zuhause gibt es einen Jungen aus dem Schiffsbau - Teil des Distrikts. Yilmaz Miller, soweit ich weiß. War in meinem Jahrgang, bis er letztes Jahr in den Spielen gestorben ist. Sagt dir sicher etwas. Irgendwie ... erinnerst du mich ein wenig an ihn."
Vorsichtig blickt Jinia unter ihrem Lockenschopf hervor. Yuvans Miene verdüstert sich mit einem Mal schlagartig. „Ich weiß." schießt es aus ihm. „Du ... Du kanntest ihn also?" fragt Jinia. Yuvan seufzt und eine tiefe Sorgenfalte bildet sich auf seiner Stirn.
„Ja. Er war mein Bruder."
Jinias Augen weiten sich und sofort beißt sie sich auf die Lippe. Besorgt blickt sie in die braunen Augen ihres Gegenübers. „Das tut mir leid." stammelt sie und legt ihrem Distriktpartner ihre kleine Hand auf die Schulter.
„Kaum jemand weiß davon. Nachdem ... nachdem er letztes Jahr gestorben ist, wollten meine Eltern und ich neu anfangen. Sie wählten einen neuen Nachnamen, damit niemand unsere Familie je wieder mit Yilmaz' schrecklichem Tod in Verbindung bringen würde. Meine Mutter ist nicht mehr die selbe, nachdem das passiert ist. Wir haben schon immer im ärmeren Teil des Distrikts gelebt, aber wir hatten einander, und das war tröstend. Aber seitdem sie krank geworden und Yilmaz tot ist, bin ich nicht mehr in der Akademie. Trotzdem reicht das Geld nicht mehr. Bloß, weil mein zwölfjähriges Ich damals in die Akademie wollte und meine Eltern mir diesen Traum ermöglicht haben, geht es ihr jetzt schrecklich. Und deshalb will ich es nicht umsonst gewesen lassen sein. Ich habe ihr versprochen, dass ich die diesjährigen Spiele gewinne - für sie, für Dad und für Yilmaz. Durch den Siegerlohn könnte endlich alles wieder so werden, wie früher."
Einen Moment lang ist es ganz still zwischen den beiden. Bloß das sanfte Rauschen der Blätter im Wind ist zu hören. Doch dann spricht Yuvan weiter.
„Ich...ich weiß nicht, warum ich mich euch angeschlossen habe. Vielleicht, weil es die Karrieros waren, die Yilmaz letztes Jahr ... umgebracht haben. Obwohl sie ja eigentlich genau das gleiche waren wie er." beendet Yuvan seinen Satz.
Noch immer beißt sich Jinia auf die Lippe. „Tut mir leid, dass ich dich darauf angesprochen hatte. Ich wollte nicht, dass du traurig wirst." meint sie entschuldigend. Yuvan lächelt matt. „Schon gut.", murmelt er. „Fragst dich wahrscheinlich, warum ich dass vorher nie gesagt habe, oder?"
Jinia schüttelt den Kopf. „Nein, ganz und garnicht. Vor den Spielen hat ... hat sich alles nur um mich gedreht. Ich kann verstehen, dass Mom beinahe ausschließlich an mich gedacht hat. Aber wir hätten auch für dich da sein sollen. Und andererseits - wenn man etwas nicht erzählt oder nicht einmal an etwas denkt, dann kommt der Schmerz nicht mal an die Oberfläche. Meine Mom hat jahrelang so mit ihren Traumata gelebt. Aber dann hat sie gelernt, dass es nicht hilft, sich selber zu belügen."
Nachdenklich blickt Yuvan meine Tochter an. „Du hast recht. Ich will nicht so tun, als wäre Yilmaz nie da gewesen. Denn das war er - jahrelang."
Jinia nickt ihrem Distriktpartner aufmunternd zu. Das erste Mal seit Stunden bildet sich daraufhin ein kleines Lächeln um dessen Lippen. „Du bist ganz schön klug für 'ne Zwölfjährige, weißt du das eigentlich?"
Jinia grinst verlegen. Sie will zu einer Antwort ansetzen, doch da kommt Nate zwischen ein paar Felsen hervor. „Nichts." brummt er und weist mit einer Kopfbewegung auf den dahinter gelegenen Wald. Yuvan und Jinia richten sich auf, doch bevor sie etwas tun können, ertönt plötzlich ein metallner Gong in der Arena. Gebannt sehen die drei auf und lauschen der Stimme von Moderator Claudius Templesmith:
„Liebe Tribute! Nun sind nur noch fünf von euch übrig, und ihr habt hart gekämpft, seid stolz auf euch! Nun möchte euch das Kapitol für euren Mut und eure Tapferkeit belohnen, und jedem ein Geschenk am Füllhorn zustellen - jeder von euch benötigt etwas, dies werdet ihr dort vorfinden. Aber Achtung : Ihr habt eine bestimmte Zeit, bis ihr das Füllhorn erreichen könnt. Wer die Großzügigkeit des Kapitols nicht zu schätzen weiß, begibt sich in große Gefahr. Darum - versammelt all euren Mut und kommt zum Füllhorn! Ihr habt genau zwölf Minuten Zeit - der Countdown beginnt jetzt."
Einen Moment lang wagt weder einer der Tribute, noch irgendjemand hier im Saal zu atmen. Ein unsichtbares Fischernetz scheint sich um meine Kehle zu schnüren. Ein sogenanntes „Festmahl" wird vom Kapitol öfters mal veranstaltet, wenn sich die Zahl der Tribute auf einen kleinen Kreis reduziert hat. Man könnte also meinen, wir wüssten, was kommt - doch falsch. Jedes Mal hält das Kapitol völlig andere Gefahren bereit.
Oftmals sorgen die Spielmacher für ein Spektakel, welches mehrere Tribute in den Tod reißt, sodass am Ende nur noch zwei oder drei Finalisten übrig sind. Manchmal jedoch ist das Festmahl auch nur eine Falle, ein gemeiner Trick, um alle Tribute auf einen Haufen zu locken. So war es bei meinen Spielen. Anstelle von Geschenken lag bloß ein alter, harter Laib Brot am Füllhorn, doch wir Tribute bemerkten es erst, als es zu spät war.
Nervös richte ich mich in meinem Sessel auf und auch die anderen Mentoren machen sich bereit. Jeder legt sein Tablet zur Seite - in so einer Situation können wir den Tributen nicht helfen. Jetzt kommt es auf sie alleine an.
Die Kameras zeigen Gray aus Zehn. Unmittelbar, nachdem das letzte Wort des Moderators verklungen ist, springt er auf und stürmt los in Richtung Füllhorn. Genauso ist es bei Wade. Das Bündnis hingegen braucht einige Sekunden, doch dann schnappt sich jeder eine Waffe und die drei stürmen los.
Große, rote Ziffern am Rand des Bildschirm informieren alle im Saal über die verbleibende Zeit bis zum Ende des Countdowns - und zwölf Minuten sind verdammt wenig.
Eine Minute vergeht. Und noch eine. Und noch eine. Immer wieder schleichen sich Bilder in meinen Kopf - wie die Tribute in die Luft gejagt werden, wenn sie zu spät kommen. Schließlich brechen die letzten Sekunden an und ein unkontrolliertes Zittern packt mich.
Nur noch Neun sind es auf der Uhr, als Jinia, Nate und Yuvan völlig aus der Puste auf die Lichtung stürmen, auf der das Füllhorn steht. Yuvan greift seinen Dreizack fester und sieht sich um. „Es gab keine Kanone für Wade oder den Zehner. Sie sind hier irgendwo." murmelt er verstohlen und instinktiv rücken er und seine Verbündeten näher zusammen.
Und dann stellt sich raus, dass er mit seiner Vermutung recht hatte. Denn keine Sekunde später taucht Gray von der rechten und Wade von der linken gegenüberliegenden Seite des Füllhorns auf. Instinktiv ziehen Yuvan und Nate ihr Schwert - Jinia bleibt bloß ihre kleine Klinge.
Für einen Moment lang bewegt sich keiner der fünf Tribute. Jeder versucht, sich ein Bild der Lage zu machen und lässt die Blicke über das Füllhorn schweifen. Doch anstelle eines Tisches oder ähnlichem sieht man fünf Kisten, die alle mit einem gleichmäßigen Abstand voneinander aufgestellt sind. Bevor irgendein Tribut etwas unternehmen kann, ertönt erneut die Stimme von Claudius Templesmith.
„Liebe Tribute - ihr alle seid unserer Aufforderung gefolgt und habt den Kampf gegen die Zeit überwunden - Respekt! Nun, dieses Jahr hat sich das Kapitol ein ganz außergewöhnliches Festmahl für euch überlegt. Ihr alle habt sicherlich schon die fünf Kisten am Füllhorn entdecken können. Je im Abstand von fünf Metern liegt eine Box mit eurem Namen und der Nummer eures Distrikts drauf. In vier dieser fünf Kisten befindet sich jeweils ein Gegenstand, den der zugehörige Tribut dringend braucht. In der fünften Kiste jedoch - wir verraten euch nicht, in welcher, befindet sich etwas anderes. Es liegt an euch, zu entscheiden, wie ihr handelt. Aber Achtung : Wer nicht zum Füllhorn laufen sollte, den wird eine böse Überraschung erwarten! Also, nehmt euren Mut zusammen! Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!"
Mit diesen Worten endet die Ansage des Moderators und lässt alle im Saal völlig fassungslos zurück. „Was haben sie jetzt schon wieder vor..." murmelt Sohail und runzelt die Stirn. Fünf Kisten, und eine davon beinhaltet etwas anderes als die anderen? Was? Eine Waffe, die dem Tribut viel Macht verleiht? Oder eine Falle, wie eine giftige Flüssigkeit oder Pflanze?
Die Welt in der Arena scheint für einen Moment stillzustehen, doch dann stürzen sich alle fünf Tribute wie auf ein geheimes Kommando zum Füllhorn. Jeder von ihnen steuert auf die Kiste zu, auf der in silbernen Lettern der Name und die Distriktnummer leuchtet.
Nate kommt ganz außen zu stehen, neben ihm liegt Jinias Kiste. Yuvans liegt in der Mitte, und neben ihm liegen die von Gray und Wade. Es ist seltsam - jeder der fünf trägt eine Waffe bei sich und doch wagt es niemand von ihnen, einen anderen anzugreifen. Sie sind die letzten fünf Tribute der 73. Hungerspiele - jeder von ihnen ist klug genug, um nicht leichtsinnig zu handeln.
Ich wage es kaum, hinzusehen. Im Saal scheint die Spannung beinahe greifbar, selbst in der Zuschauerlounge ist jegliches Geplauder verstummt. In völliger Stille und Anspannung sehen wir dabei zu, wie sich jeder Tribut zu seiner Kiste hinunterbeugt und langsam den Deckel anhebt.
Donnernd pocht mir mein Herz gegen die Brust. Nervös bohre ich meine Fingernägel in die Haut. Ich wage es nicht einmal, zu atmen. Was ist der mysteriöse Gegenstand in der einen Kiste?
Und dann geht alles ganz schnell. Wade ist der erste, der seine Kiste vollständig öffnet und ein langes, silbernes Schwert hinausholt. Gray neben ihm drückt eine Wasserflasche erleichtert an sich. Yuvan findet in seiner Kiste einen Laib Brot, wie ich es von zuhause kenne. Nach sorgfältiger Beobachtung der anderen öffnet auch Nate als Vorletzter seine Kiste und holt eine zusammengerollte Decke hinaus.
Und dann weiten sich seine Augen - denn er versteht. In Jinias Kiste ist das Besondere. Die Sekunden scheinen langsamer zu vergehen, als Jinia ganz langsam den Deckel ihrer Kiste nach oben schiebt. Doch bevor die Kameras zeigen, was sich in ihrer Box befindet, erstarrt sie.
In der nächsten Sekunde wirft sich jemand von der Seite mit aller Kraft gegen sie und schubst sie damit mehrere Meter von der Kiste weg.
Und dann ertönt ein lauter Knall.
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