20 | Gift und Gewissen




Eine angespannte Stille liegt über dem Interviewstudio. Unruhig rutsche ich in meinem Samtsessel hin und her, wohl wissend, dass unzählige Kameras jede meiner Bewegungen aufnehmen. Die einzigen, die meine Nervosität ein wenig dämmen können, sind Rivenna, Finnick und Sohail neben mir, die von unseren Stylisten ebenso aufwändig vorbereitet wurden wie ich.

Gedämpft, wie unter der Wasseroberfläche, dringt Rivennas Stimme zu mir durch. Ich kann nicht verstehen, was sie auf Caesars Fragen antwortet. Stattdessen kann ich nicht anders, als meinen Blick auf die lebensgroßen Portraits von Jinia und Yuvan zu richten, die auf der großen Leinwand hinter uns strahlen.

Jedes Jahr gibt es diese Mentoreninterviews, vorausgesetzt, mindestens einer ihrer Tribute schafft es unter die letzten Acht. Und nach den Ereignissen der letzten Stunden gibt es wohl einiges, was Caesar gerne von uns wissen möchte. Nervös verknote ich meine Hände in dem dunklen Stoff des Kleides, in das mich die Stylisten gezwängt haben.

Ich kann mich nicht einfach damit abfinden, dass dieses Interview bald beendet sein wird - es folgt bald ein noch viel schlimmeres. Gegen Ende der Spiele muss jedes Mentorenteam für seine verstorbenen Tribute zu einem „Trauerinterview" erscheinen. Mir graut es jetzt schon davor. Allein der Gedanke daran, vor dem ganzen Kapitol falsche Worte über meine tote Tochter auszusprechen ...

„Was denkst du darüber, liebe Librae?"

Bei dem Klang meines Namens zucke ich zusammen. Es ist, als würde ich aus einem tosenden Sturm auftauchen. Peinlich berührt starre ich Caesar Flickerman an. Er hat sich zu mir vorgelehnt und offenbar eine Frage gestellt, die ich nicht mitbekommen habe.

„Entschuldige Caesar ... ich, war in Gedanken bei Jinia. Könnten Sie die Frage noch einmal wiederholen?" frage ich und ärgere mich darüber, wie zittrig meine Stimme klingt. Normalerweise würden sie sowas sicher rausschneiden und einfach nochmal neu aufnehmen, doch anscheinend passt es nur zu gut zu meinem Image als besorgte Mutter, dass ich kaum an etwas anderes denken kann, als an Jinia.

„Das verstehen wir natürlich, meine Liebe. Nun, was ich wissen wollte - das gesamte Kapitol ist Fan von Distrikt vier und wieder einmal haben eure Tribute beide gezeigt, was in ihnen steckt. Sowohl Yuvan, als auch Jinia sind noch im Spiel, die Frage ist bloß, für wie lange noch? Verrate mir doch einmal: gibt es schon eine Tendenz, auf welchen Tribut ihr euch festlegen wollt? Das wird doch sicherlich Jinia sein, nicht wahr?"

Ich brauche ein paar Sekunden, um die Frage zu verarbeiten. „Ähm..." stottere ich und spüre unmittelbar eine Hand auf meinem Oberschenkel. Flüchtig sehe zu Rivenna neben mir, die mir einen beruhigenden Blick zuwirft. Ich seufze und achte darauf, dass sich meine Hände nicht mehr wie Klauen in mein Kleid klammern.

„Tatsächlich", beginne ich mit dem Gedanken an Yuvans Familie zuhause. „Tatsächlich haben wir uns noch nicht festgelegt. Wir alle wissen, wie stark Yuvan und Jinia sind und der Fakt, dass sie jetzt im selben Bündnis sind, verleiht uns allen Hoffnung. Und ich glaube wir sind uns alle sicher, dass wir beide bis ... bis zum Ende unterstützen werden."

Die Sätze klingen furchtbar steif und langweilig, das ist mir selbst bewusst. Doch was soll ich anders sagen, wenn ich genau weiß, dass sich Yuvans Eltern dieses Interview zuhause ansehen werden? Dass unser Fokus von Anfang an auf Jinia lag, so ungerecht und unfair es auch sein mag? Dass wir ihr beinahe doppelt so viele Geschenke geschickt haben, weil Yuvan sich bei den Karrieros ziemlich gut gehalten hat?

Nervös blicke ich zu Caesar - offenbar gibt er sich mit meiner Antwort noch nicht zufrieden. Gerade will er zur nächsten drängenden Frage ansetzen, da rettet Finnick die Situation.

„Seien Sie ehrlich Caesar, wir alle stehen doch ein wenig auf Geheimnisse, oder?" meint er verführerisch und grinst den Moderator mit seinem besten Kapitolslächeln an. Der bricht in schallendes Gelächter aus und ist Finnick offenbar genau so dankbar für die auflockernde Antwort, wie ich es bin.

„Wie wahr, Finnick, wie wahr!", lacht er und wendet sich als Nächstes Sohail zu, dessen dunkle Locken durch die harte Arbeit der Stylisten an diesem Abend beinahe schon schimmern.

„Jinia war ja nun schon recht lange in einem großen Bündnis - ziemlich ungewöhnlich, nicht wahr? Wir kennen ja alle die Bündnisse, die manche Tribute jedes Jahr schmieden, aber das rund um Jinia war ziemlich groß, nicht wahr? Wollt ihr etwa darauf anspielen, euch mit dem Feind zu verbünden?"

Der Moderator strahlt Sohail mit großen Augen an. Gerade will der zu einer Antwort ansetzen, doch da schießt es mit einem Mal aus mir heraus. „Distrikt fünf, sechs und neun sind nicht unsere Feinde, genauso wenig sind es die anderen."

„Aha!" Der triumphierende Aufschrei des Moderators lässt mich schon wieder zusammenzucken. „War das also der Plan? Ihr habt mit unseren geliebten Siegern aus diesen Distrikten von Anfang an zusammengearbeitet?"

„Ähm... könnte man so sagen, ja." lüge ich, damit Caesar nicht noch weiter bohrt. „Warum setzt denn ausgerechnet ein wohletablierter Distrikt wie eurer auf die Außenseiter?" lacht Caesar und blickt fragend in die Runde. Dieses Mal ist es Rivenna, die die Stimme erhebt. „Wir sind doch alle Außenseiter, oder?"

Caesar lässt mit hochgezogenen Brauen einen Blick über sie schweifen - mit ihrem glänzenden Perlenkleid, dem wallenden blonden Haar und den wunderschönen blauen Augen sieht Rivenna aus wie eine Göttin - aber wohl kaum wie jemand, den das Kapitol „Außenseiter" nennen würde. „Nun ja..." lacht Caesar und grinst sie an, doch Rivenna unterbricht den Moderator.

„Alle Sieger waren Außenseiter und werden das auch immer bleiben. Nur so haben wir gewonnen, weil wir etwas besonderes waren." sagt sie und setzt ihr bestes Lächeln auf. Noch eine perfekt geformte Antwort - Caesar strahlt.

In den nächsten Minuten bombardiert er Finnick, Rivenna, Sohail und mich weiter mit Fragen, die aber allesamt auf das gleiche hinauswollen. Wut macht sich in mir breit, darüber, wie Caesar über die Tode von Jumara und Luke redet, als hätten sie den Sieg sowieso niemals verdient.

Und indem er uns denken lässt, dass wir Distrikte verfeindet sind, dass wir uns gegenseitig zu hassen und zu töten haben in diesem Spiel - das lässt ihn gewinnen.

Wie schon so oft höre ich leise Jinias Stimme in meinem Kopf. Und egal, was noch geschehen mag, diese Worte bleiben für immer. Also sehe ich bei Caesars nächster Frage von ihm fort, in die Dunkelheit des Studios mit den großen Kameras, die jede unserer Bewegungen einfangen. Ich straffe die Schultern und starre mittig in die Linse.

„Diese Tribute sind nicht unser Feind." Meine Worte richten sich sowohl an das Kapitol, als auch an die Distrikte daheim. Zumindest sie verdienen es, das zu wissen. Das Studio und die Kameras verschwimmen vor meinen Augen und das einzige, was ich höre, ist, wie jemand laut „Schnitt" ruft.

„Kein Problem, Librae, wir nehmen das nochmal neu auf. Ich frage einfach - Sohail, du magst doch sicherlich noch mehr erzählen." sprudelt es aus dem Moderator heraus.

Vor Erschöpfung fallen mir daraufhin beinahe die Augen zu, während Sohails Stimme wieder nur gedämpft zu mir durchdringt. Was immer da gerade aus mir hervorgebrochen ist - es war zu viel Wahrheit für das Kapitol. 





Das flimmernde Licht der Übertragung ist und bleibt das einzige in dieser Nacht. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass Sohail und ich schon wieder seit etwa sieben Stunden im Mentorensaal sind. Je mehr die Spiele auf ihr Ende zusteuern, desto mehr Sieger verspüren den Drang, auch nachts über ihre Tribute zu wachen. Johanna und Blight aus Sieben und Gloss aus Eins sitzen still in ihren Sesseln und leisten Sohail und mir mehr oder weniger Gesellschaft.

Die Übertragung zeigt ab und zu Nate und Jinia - und seit gestern Abend ist auch Yuvan Teil ihres Bündnisses. Es war unglaublich schmerzhaft für Jinia und Nate, sich von Jumara zu lösen, doch beiden war klar - es musste sein. Auch, wenn es bedeutete, dass sie ihre Freundin nie wieder sehen würden.

Die ganze Nacht lang hat Yuvan die zwei zum anderen Ende der Arena geführt, dorthin, wo sie bisher noch kaum waren. Offenbar hat er sich auch zur Nachtwache bereiterklärt, denn seine hellen Augen leuchten wach in der Dunkelheit. Ich kann mir gut vorstellen, dass Jinia auch keinen Schlaf findet, aber die Kameras zeigen sie nicht weiter.

Stattdessen wechselt die Perspektive zu Lavinia aus Distrikt sieben. Nur das Mondlicht, das auf die Baumkrone strahlt, auf der sie sitzt, verrät etwas über ihr Vorgehen. Sie scheint ein Sponsorengeschenk bei sich zu haben - doch schnell stellt sich heraus, dass sie es mit etwas befüllt, anstatt es auszupacken. Ich erkenne eine kleine Wasserflasche - und begreife, was sie vorhat.

Aus einem Beutel neben ihr holt die dunkelhaarige ein kleines, dünnes Glasfläschchen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit heraus - allem Anschein nach Wasser. Doch die Vorsicht, mit der die Siebernerin das Gefäß aufschraubt und schließlich in die Flasche füllt, verrät, dass es das keinesfalls ist.

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich zurück an meine Spiele denke. Willow, meine Verbündete und ebenfalls aus Distrikt sieben, hat einen anderen Tribut ein Sponsorengeschenk mit giftigem Inhalt vor die Füße gelegt und ihn damit umgebracht. Und nun scheint Lavinia das gleiche vorzuhaben.

Offenbar ist auch schon jemand in der Nähe - denn Schritte nähern sich dem Baum der Siebernerin. Blitzschnell rutscht Lavinia außer Sichtweite, doch vorher lässt sie das Sponsorengeschenk mit der Flasche drin langsam zu Boden sinken.

Als man bereits Stimmen hört, landet die Dose in dem seichten Gras - direkt vor den Füßen von Destiny aus Distrikt eins. Sie bleibt abrupt stehen, sodass Wade hinter ihr beinahe in sie hineinrempelt.

„Na endlich. Unglaublich, wie geizig meine Mentoren im Kapitol sind." zischt die Einserin und schnappt sich die silberne Dose des Fallschirms. Ohne groß drüber nachzudenken, schraubt sie das Gefäß auf, holt die Flasche heraus und leert sie in einem Zug.

Bloß Wade blickt ein wenig misstrauisch auf das Geschenk. Er beugt sich hinunter und hält Ausschau nach einer Botschaft, die ein Mentor hinterlassen haben könnte - doch es gibt keine.

Verstohlen blickt sich der Karriero um und für einen ganz kurzen Moment bleibt sein Blick auf Lavinias Baum hängen. Hat er sie gesehen? Auch Lavinia scheint es bemerkt zu haben und lehnt sich so weit wie möglich hinter einen dicken Ast - ein gewaltiger Fehler.

Denn im nächsten Moment verliert sie jeglichen Halt. Panisch schnappt sie nach Luft und sucht nach Halt, doch vergebens. Sie rutscht von ihrem meterhohen Versteck hinunter und kracht unsanft auf den Boden.

„Fuck!" höre ich es von der Sesselgruppe aus Sieben hinter mir. Der harte Aufprall scheint ihrem Schützling für einen Moment den Atem zu nehmen, denn sie starrt bloß an den dunklen Nachthimmel. Der nächste gewaltige Fehler - denn in der nächsten Sekunde rammt Destiny ihren Speer in Lavinias Körper. Die Kanone donnert.

„Scheiße!" flucht Johanna hinter uns und man hört, wie sie wutentbrannt ihr ein Glas zu Boden wirft. „Fuck!" schreit sie erneut und man hört nur noch, wie sie aus dem Saal stürmt - Blight ihr hinterher.

Und bei einem Tod bleibt es nicht. Einige Sekunden lang lacht Destiny triumphierend über ihren Erfolg, doch dann sieht man ihr an, dass das Gift zu wirken beginnt. Sie beginnt seltsam blau um die Lippen zu werden und stolpert einige Schritte nach hinten - bis sie schließlich ebenfalls zu Boden kracht.

Wade blickt mit düstere Miene auf seine Verbündete, unternimmt aber nichts. Wenige Sekunden später ertönt der Schlag der Kanone. Lavinia aus Distrikt sieben und Destiny aus Distrikt eins sind tot - ein Leben für ein Leben.

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