19 | Der Angriff
Obwohl der Himmel draußen blau und wolkenlos und die Zuschauerlounge in einer enorm guten Verfassung ist, wirkt die Stimmung bei uns Siegern eher wie an einem regnerischen Herbsttag.
Nach den gestrigen Toden von Luke und dem Jungen aus Elf haben vier weitere Mentoren den Saal verlassen. Sie müssen aber trotzdem bis zum großen Finale der Spiele im Kapitol bleiben und sich dieses mit allen Zuschauern ansehen. Ich lasse meine Blicke über die übrig gebliebenen Sesselgruppen schweifen - und bleibe bei dem kleinen Grüppchen aus Distrikt drei hängen.
Ich glaube, ihr Distrikt hat einen sehr kleinen Kreis an Siegern, und in diesem Jahr hat das Kapitol wohl bloß zwei von ihnen zu Mentoren verdonnert. Wiress Plummer und Beetee Latier haben sich beide weit über ihre Tablets gebeugt und scheinen in eine Diskussion vertieft.
Im Gegensatz zu vielen anderen Siegern bekommt man von den zweien meist kaum etwas mit, da sie sich sehr ruhig verhalten und von den meisten Kapitolern mehr oder weniger ignoriert werden. Und doch erkenne ich eine Sorgenfalte auf dem aschfahlen Gesicht von Beetee - sein Blick huscht immer wieder zwischen der Übertragung und seinem Tablet hin und her.
Auch ich sehe daraufhin zurück auf den Bildschirm, wo gerade tatsächlich der Junge aus Distrikt drei zu sehen ist. Schon bei der Ernte hat sich Saphire über seine klapprige Gestalt und die beinahe grauen Haare lustig gemacht - ich will nicht wissen, was sie sagen würde, hätte sie ihn jetzt vor Augen.
Er scheint sich in den letzten Tagen gut geschlagen zu haben, keinerlei Narben zieren seine Haut, doch dafür liegt umso mehr Dreck auf seinen Wangen. Auch in der Arena strahlt die Sonne heute mit all ihrer Kraft - und sorgt dafür, dass der Junge sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Schweißüberströmt taumelt er durch die Sandberge der Wüste.
Nach einer Weile holt er sich eine metallene Flasche aus seinem Rucksack und führt sie zum Mund - doch kein einziger Schluck Wasser tröpfelt ihm auf die Zunge. Das Gefäß rutscht aus seinen zittrigen Fingern - er scheint seit Tagen weder Essen noch Trinken bekommen zu haben.
Langsam lässt er sich in den Sand sinken. Gequält blickt er in den strahlend blauen Himmel - wohl hoffend auf ein rettendes Sponsorengeschenk. Sofort huscht mein Blick zurück zu Wiress und Beetee. Offenbar hatten die zwei schon länger vor, ihrem Tribut etwas zu schicken - doch ich kann mir gut vorstellen, warum sie es nicht tun. Ein dünner Junge aus dem Technologiedistrikt, der sich weder in den Interviews noch durch eine besonders hohe Punktzahl beim Publikum beliebt gemacht hat. Den Kapitolsbewohnern war sein Schicksal von Anfang an egal.
Offenbar haben sie jeglichen Glauben an den Jungen schon lange aufgegeben und wollen nun keine Münze ihres Geldes für jemanden ausgeben, der sowieso bald tot sein wird.
Diese Denkweise ist grauenhaft. Und doch ist sie die bittere Realität.
Doch der Junge aus Distrikt drei ist ein Kämpfer - sonst hätte er die letzten Tage in der Arena völlig alleine nicht überlebt. Zwar sind seine Augen schon beinahe ganz geschlossen, doch er hält den Kopf immer noch gen Himmel gerichtet und wartet auf ein rettendes Zeichen.
Aber nichts geschieht. Eine Minute. Zwei. Drei.
Schließlich ist beinahe eine Viertelstunde vergangen.
Und irgendwann regt sich der Junge nicht mehr.
Wenige Minuten später ertönt der Schlag der Kanone und er ist tot - weil ihm niemand helfen wollte.
Beetee seufzt und reibt sich erschöpft die Stirn. Enttäuscht lassen er und Wiress ihre Tablets sinken und verlassen daraufhin den Saal. Ein schreckliches Gefühl. Ich verstehe, warum manche Mentoren von Anfang an kein bisschen Hoffnung für ihren Tribut hegen - so tut es weniger weh, wenn dieser irgendwann stirbt.
Doch ich habe es in all den Jahren selbst erlebt - in dem Moment, wo die zwei Kinder auf die Bühne treten, sind sie an uns gebunden - und wir an sie. Wir alle haben das selbe Schicksal durchgemacht und teilweise nur gewonnen, weil jemand an unserer Seite war. Egal, wie der eigene Tribut auch sein mag, es wäre falsch, es nicht wenigstens mit allen möglichen Mitteln zu versuchen.
Auch in Jinias Bündnis herrscht eine kalte Stimmung. Ich habe immer noch lebhaft die Szene von Jumara vor Augen, die sich gestern unmittelbar nach Lukes Tod die Seele aus dem Leib geschrien hat. Aber auch Nate und Jinia hat man angesehen, dass tief in ihnen etwas zerbrochen ist - genau so, wie es bei mir damals anfing, als ich meine Eltern verlor. Jemanden, der einem nahesteht, vor den eigenen Augen sterben zu sehen, hinterlässt eine schreckliche Narbe, die selbst die Zeit nicht zu heilen vermag.
Im Moment machen Nate, Jumara und Jinia eine Pause in den Ruinen eines zerstörten Hauses am Waldrand. Gestern Nacht haben sie so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und die Wüste gebracht, die nun gleichzeitig auch für immer das Grab von Luke und dem Jungen aus Elf sein wird.
Jinia ist an einen Felsen gelehnt und blickt mit einem seltsam leeren Blick zu Boden, während sie immer wieder ein wenig Sand durch ihre Finger rinnen lässt. Jumara weint schon seit Stunden nicht mehr, doch sie blickt gedankenverloren auf Lukes Schwert, was Jinia ihr überreicht hat. Bloß Nates Miene verrät nichts über seine Gemütszustand - wie beinahe immer blickt er mit zusammengezogenen Brauen umher.
Aus dem Augenwinkel beobachtet Jinia ihre Verbündeten und schließlich bleibt ihr Blick auf Jumara hängen. Ich sehe, wie sich auf dem Gesicht meiner Tochter eine Sorgenfalte bildet - viel zu tief für eine Zwölfjährige.
„Jumara?" fragt sie vorsichtig. Die beiden anderen sehen auf. „Es ... tut mir schrecklich leid, was passiert ist. Ich fühle mich fürchterlich schuldig, dass ich den Elfer da mit reingezogen hab. Jetzt ist er tot und ich kannte nicht mal seinen Namen. Und wegen Luke - ich war diejenige, die wusste, wie man sich aus dem Treibsand befreit. Ich hätte noch soviel tun können, aber stattdessen habe ich bloß zugesehen, wie die beiden..."
Jinias Stimme bricht und in ihren Augenwinkeln glitzern Tränen. „Jinia, mach dir bitte keine Vorwürfe. Du trägst keine Schuld." wispert Jumara und Nate neben ihr nickt. Jinia seufzt. „Eigentlich... eigentlich weiß ich das. Und es ist traurig, dass sich das arrogant und irgendwie böse anhört. Dabei ... sind nicht wir es, die böse sind. Oder die, die Schuld an den Toden der zwei tragen. Oder überhaupt an - der ganzen Sache hier."
Sie wischt sich eine Träne von der Wange und spricht weiter: „Das Kapitol ist schuld. Snow ist schuld an all dem hier. Und indem er uns denken lässt, dass wir Distrikte verfeindet sind, dass wir uns gegenseitig zu hassen und zu töten haben in diesem Spiel - das lässt ihn gewinnen. Und es ist nicht einfach, diesen Gedanken loszuwerden. Deshalb fühle ich mich auch immer noch schrecklich verantwortlich für den Tod vom Jungen aus Elf. Aber ich glaube, dieses Denken macht nicht nur mich, sondern uns alle irgendwie kaputt, oder?
Ich spüre, wie mein Herz bei ihren Worten höher zu schlagen beginnt. Denn sie hat recht. Ich frage mich, wie lange die Kameras noch auf die drei halten - Snow gefallen ihre Worte nämlich ganz bestimmt nicht.
Doch ich spüre auch einen kalten Schauer, der mir über den Rücken läuft, als ich in Jinias düsteres Gesicht blicke. Ich muss mir eingestehen, dass meine Tochter in diesen wenigen Tagen der Hungerspiele erwachsen geworden ist.
Sie ist nicht mehr die Jinia, die ich als kleines Kind in meinen Armen gehalten habe. Die Jinia, die mit ihren Geschwistern in den Gassen von Distrikt vier gespielt hat - so sorgenlos und frei wie eine Feder im Wind. Die Jinia, die selbst den Ältesten und Mürrischsten Leuten im Distrikt durch ihre warmherzige und offene Art ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte.
Sie ist ein Tribut in den grausamen Hungerspielen des Kapitols. Ein verängstigtes Mädchen, das andere direkt vor ihren Augen sterben gesehen hat. Und doch habe ich das Gefühl, dass sie immer mehr dagegen ankämpft, dass das Kapitol sie kontrollieren will. Und das - bedeutet Stärke.
Wenig überraschend wird ein paar Sekunden später die strahlende Visage von Caesar Flickerman eingeblendet. „Mein liebstes Publikum, sowohl uns im Kapitol, als auch unseren Tributen in der Arena schenkt die Sonne heute besonders viel Wärme, wie schön! Die Hitze versetzt unsere Freunde wohl in Kampfesstimmung - denn in diesem Moment nähert sich die Gruppe der Karrieretribute dem Bündnis rund um unser Siegerkind!"
Mein Herzschlag setzt aus und auch Rivenna, Finnick und Sohail um mich herum scheinen von der plötzlichen Eskalation der Situation geschockt. Wir alle wissen, dass wir jetzt keinen Einfluss haben - ein Sponsorengeschenk kann den dreien jetzt in keiner Weise mehr helfen.
Schon zeigen die Kameras ihr Bündnis. Inzwischen ist Jinia aufgestanden und löst sich gerade aus einer Umarmung mit Jumara, die ihr daraufhin ein dankbares Lächeln zuwirft. Und dann geht alles ganz schnell.
Ein Zischen ist zu hören und man sieht einen silbernen Pfeil durch die Luft rasen - direkt auf Jinia zu. In letzter Sekunde packt Nate sie am Arm und schubst sie zur Seite - erfolgreich. Doch im nächsten Moment bohrt sich der Pfeil in Jumaras Körper und färbt ihr Hemd dunkelrot. Sofort sackt sie am Boden zusammen.
„Nein!" kreischt Jinia und rennt auf ihre Verbündete zu. „Nein..." wispert sie und nimmt Jumaras Hand. Doch in nächster Sekunde wird sie erneut von jemandem weggerissen. Erst denke ich, es ist wieder Nate - doch dann bleibt mein Mund offen stehen.
Jinias Distriktpartner Yuvan zieht meine Tochter zu sich und in der nächsten Sekunde stürmen seine Verbündeten Blade, Destiny und Wade die Ruine.
Die Einserin hat schon den nächsten Pfeil eingelegt. „Erledige sie." tönt es von ihr zu Yuvan gerichtet. Doch ein anderes Ereignis reißt die Aufmerksamkeit aller auf sich - ein dumpfer Schrei und wenige Sekunden später der Schlag der Kanone.
Mein Herzschlag setzt aus - ist Jumara tot? Doch eine Slowmotion - Aufnahme der Kameras zeigt, was wirklich passiert ist. Blade, der Karriero aus Distrikt eins, hat sich auf Nate gestürzt - offenbar des Glaubens, er könnte den Sechser mit Leichtigkeit besiegen. Doch im selben Moment, als der Einser zum Stoß mit seiner Klinge ausgeholt hat, verdrehte Nate ihm mit einer geschickten Handbewegung den Arm. Und noch bevor Blade irgendetwas tun konnte, stach Nate dem Einser seine eigene Klinge mitten ins Herz.
Schon zeigen die Kameras wieder die Gegenwart - Destiny schreit auf und stürzt sich wutentbrannt auf Nate. Wade scheint zu realisieren, dass er kein leichter Gegner ist und im nächsten Moment rennt auch er auf den Sechser zu.
Doch dann geschieht etwas unerwartetes. Yuvan lässt von Jinia ab und ignoriert, dass diese sofort zurück zu Jumara rennt. Stattdessen stürzt sich der Vierer direkt auf seinen Verbündeten Wade zu - und im nächsten Moment geht ein erschrockenes Aufatmen durch die Zuschauerlounge.
Denn jetzt kämpft Yuvan gegen Wade. Er kämpft gegen jemanden, mit der er tagelang verbündet war. Der Angriff trifft den Zweier völlig unvorbereitet und daher schwingt das Metall von Yuvans Dreizack ihm oft gefährlich nah am Gesicht vorbei.
Neben den beiden kämpft Destiny gegen Nate - er und Yuvan kämpfen also Seite an Seite. Und dieses Mal sind sie es, die den Karrieros Angst einjagen. Aus irgendeinem Grund sind Distrikt vier und sechs, Distrikt eins und zwei in diesem Moment überlegen.
Doch die Karrieros sind nicht dumm. Ein Blick von Wade hinüber zu Destiny genügt, schon reißen sich die zwei beinahe zeitgleich von ihren Gegnern los und stolpern davon. Doch vorher versetzt Wade Yuvan mit einem Hieb seines Schwertes eine Verletzung am Arm. Für einen kurzen Moment ist dieser außer Gefecht gesetzt. Diese Sekunden nutzt Wade, um Destiny am Arm zu packen und mit sich zu reißen.
Und dann sind sie weg. Jegliche Kampfgeräusche sind mit einem Mal verstummt, stattdessen blicken Yuvan und Nate den beiden nur keuchend hinterher. Für einen Moment sieht es so aus, als würden sie ihnen folgen wollen, doch da hört man ein leises Schluchzen.
Sofort fahren die beiden Jungen herum. Einige Meter neben dem toten Körper von Blade liegt Jumara am Boden. Eine dunkelrote Blutlache hat sich unter ihr gebildet und Jinia hält schluchzend ihre Hand.
Ein letztes Mal versichert sich Nate, dass die Karrieros nicht zurückkommen und dass Yuvan seine Waffe sinken lässt, dann lässt er sein Schwert polternd zu Boden fallen und kniet sich neben Jinia in den Sand.
Und mit einem Mal wirkt das Bündnis der dreien, was unter den Kapitolsbewohnern in den letzten Tagen so viel an Ansehen gewonnen hat - ganz schwach und verletzt. Zusammengekauert sitzen Jinia und Nate da und sehen, wie ihre Verbündete stirbt.
„Ich hätte noch kämpfen können. Ich hätte noch jemanden umbringen können.", wispert Jumara mit brüchiger Stimme. „Aber diesen Triumph gönne ich ihnen nicht. Nie wieder. Sie haben sich Luke geholt - und jetzt mich. Und all die anderen Tribute. Und jetzt ... seht ihr und mein Distrikt wie ich in diesem verdammten Spiel untergehe."
Nate ergreift mitfühlend Jumaras zweite Hand, doch er scheint keine Worte zu finden. Stattdessen erhebt Jinia die Stimme.
„Jumara - du war-... nein, du bist eine Kämpferin. Und das wirst du auch immer sein. Ganz ohne diese Spiele. Und ich..." , Jinia wischt sich eine Träne von der Wange. „Ich will nicht, dass du so von uns gehst. Aber ... wir können nichts mehr dagegen tun. Aber ich verspreche dir, dein Distrikt wird dich niemals vergessen. Und Nate, Luke und ich auch nicht."
Die grünen Augen der Neunerin füllen sich mit Tränen, doch ein leichtes Lächeln bildet sich um ihre Lippen. „Wir waren ein gutes Team." flüstert sie und daraufhin schließen sich ganz langsam ihre Augen.
Und auch, als der Schlag der Kanone ertönt, hält Jinia noch immer ihre Hand - bevor auch sie die Augen schließt und schluchzend den Kopf auf Jumaras Schulter sinken lässt.
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