18 | Die Falle
Als ich an diesem Morgen aus meinem Zimmer komme, tritt die Sonne gerade hinter den Hochhäusern des Kapitols hervor. Nicht, dass ich nach gestern Nacht noch einmal eingeschlafen wäre, aber zumindest bis zum Morgengrauen habe ich mich gezwungen, noch in meinem Zimmer zu verweilen. So wie ich meine Mentorenkollegen kenne, hätten sie mich nämlich sowieso wieder zurückgeschickt, wäre ich früher im Saal aufgetaucht.
Nachdem ich in unserem totenstillen Stockwerk eine Kleinigkeit zum Frühstück gegessen habe, mache ich mich endlich auf den Weg zum Saal. Im Aufzug, der hinunter führt, treffe ich auf den üblichen morgendlichen Ansturm an Mentoren, die die gleiche Idee hatten.
Nicht, dass ich in den letzten Tagen oft mit den anderen Siegern in diesem Aufzug gefahren wäre, doch ich habe das Gefühl, es ist stiller als sonst. Vor allem die Mentoren aus Eins und Zwei scheinen ein wenig enttäuscht vom gestrigen Handeln ihrer Schützlinge.
Mit einem sanften Zischen öffnen sich schließlich die Aufzugstüren und wir Sieger betreten den Saal. Was mir als erstes ins Auge fällt, ist natürlich die Zuschauerlounge, doch zu meiner Überraschung scheint sie an diesem Morgen etwas weniger gut gefüllt zu sein als an den letzten Tagen.
War der dritte Arenatag den Leuten hier im Kapitol etwa zu ereignislos? Zu langweilig? Als ich an unserer Sesselgruppe ankomme, scheinen Finnick, Rivenna und Sohail ebenfalls gerade darüber zu diskutieren.
„Dann werden sie heute wohl irgendetwas einbauen, was ein paar Tribute tötet. Kommen kaum damit klar, Zuschauer zu verlieren." murmelt Finnick, als ich mich auf den letzten freien Sessel fallen lasse.
Einen Moment lang verstummt das Gespräch der dreien und sie sehen mich ein wenig nervös an. „Schon gut, ihr hattet recht. Die paar Stunden Schlaf hatte ich wirklich nötig." meine ich und grinse die drei an. Offenbar erleichtert, dass ich sie nicht angebrüllt und für ihre Aktion beschuldigt habe, atmen die drei aus.
„Du bist also kein bisschen sauer?" fragt Finnick mit hochgezogenen Brauen. „Na ja, sagen wir es so: solltet ihr mir noch einmal irgendetwas in meinen Drink schütten, ich will garnicht wissen, was das gestern für ein Zeug war, dann ja. Aber jetzt bin ich euch einfach nur dankbar." lache ich und Finnick und die anderen schmunzeln.
Allmählich verstummt das übliche Geplauder im Saal, denn die offizielle Übertragung beginnt nun auf dem riesigen Bildschirm vor uns. Ein Flug über die Wüste der Arena wird gezeigt und schließlich erkennt man vier dunkle Gestalten, die durch den hellen Sand wandern. Doch bevor die Kameras näher an das Bündnis heranzoomen, schaltet sich die Stimme von Caesar Flickerman ein.
„Guten Morgen ans Kapitol und an unsere Distrikte! Ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserem vierten Tag in der Arena! Und heute, das kann ich Ihnen versprechen, steht unseren Tributen einiges bevor! Sie werden es gleich sehen, denn unser geliebtes Bündnis rund um Jinia Olgivy nähert sich gerade einer Gefahr, der wir alle sicherlich nicht begegnen wollen!"
Damit beendet der Moderator seinen Kommentar und lässt mich mit einem eiskalten Schauer im Rücken zurück. Jegliche Leichtigkeit über den Start dieses Tages ist mit einem Mal wieder verflogen. Was hat sich das Kapitol jetzt schon wieder überlegt? Tier - Mutationen, die darauf angelegt sind, den Tributen einen möglichst schmerzhaften und langen Tod zu bereiten? Tödliche Pflanzen, die aber garnicht wie diese aussehen? Ein Regenschauer nach der langen Trockenzeit, welcher sich aber als giftig entpuppt?Ich will es mir garnicht ausmalen.
Langsam zeigen die Kameras Jinias Bündnis von näher. Sie, Nate, Jumara und Luke scheinen schon seit Stunden auf den Beinen zu sein, denn kilometerweit ist weder vor noch hinter ihnen irgendetwas von den Ruinen zu erkennen, zwischen denen sie die letzte Nacht verbracht haben.
Wie die Anzeigetafel neben dem Bildschirm informiert, sind es nur noch ein paar Kilometer, bis die vier am Rand der diesjährigen Arena angelangt sind. Ich kann mich noch an das letzte Jubeljubiläum erinnern, in dem Haymitch Abernathy aus Distrikt zwölf das Kraftfeld, was die Arena umgrenzt, genutzt hat, um seine letzte Gegnerin zu töten.
Ich kann mir gut vorstellen, dass das dem Kapitol garnicht gefallen hat - und wer weiß, was sie dem Sieger hinterrücks dafür angetan haben. Doch Jinia scheint tatsächlich im Moment den gleichen Gedanken zu hegen, wie Haymitch damals.
Sie läuft einige Meter vor ihren drei Verbündeten, die allesamt ziemlich erschöpft aussehen. Obwohl Jinia ebenso wirkt, scheint sie nicht aufgeben zu wollen. „Jinia, meinst du nicht, wir sollten umkehren? Wasser haben wir doch seit gestern genug und wenn es leer wird, haben wir doch den See als Quelle!" ruft Jumara meiner Tochter keuchend zu. Die beiden Jungen an ihrer Seite scheinen das Gleiche zu denken, denn auch sie sehen erschöpft zu Jinia.
Doch die macht keine Anstalten, wieder umzukehren. „Wenn ihr eine Pause möchtet, kein Problem. Aber danach möchte ich weitergehen." ruft sie den anderen zu, doch die scheinen sich mit dieser Antwort nicht zufrieden zu geben.
„Aber was glaubst du zu finden? Ich denke nicht, dass es noch 'ne dritte Wasserquelle gibt, und andere Tribute halten sich hier bestimmt nicht auf!" ruft Nate der Zwölfjährigen zu.
Dieses Mal bleibt sie stehen und dreht sich zu den drei Älteren um. „Wollt ihr denn garnicht wissen, wo ... wo das Ende ist? Die Arena kann doch nicht unendlich sein! Ich will dem Kapitol zeigen, dass sie mich nicht einsperren können!" erklärt sie.
Nachdenklich sehen die drei anderen sie an. Offenbar haben sie noch nicht über diesen Punkt nachgedacht. „Na schön. Ein paar Kilometer noch. Aber wenn wir in zwei Stunden immer noch nichts gefunden haben, drehen wir um, klar?" meint Jumara und blickt Jinia erwartungsvoll an.
Diese seufzt, nickt ihren Verbündeten dann aber zu. Ihr ist wohl klar, dass sie nicht die Anführerin in diesem Bündnis ist und dass die anderen ihr wohl kaum durch die ganze Arena folgen werden. „Danke" bringt sie hervor und lächelt ihren Verbündeten zu.
Die nächsten Minuten wandern die vier also weiter durch den heißen Sand, irgendwann laufen sie in einer Art Tal zwischen mehreren hohen Sandbergen. Zuerst fällt niemandem auf, dass irgendetwas nicht stimmt. Ganz in ihr Ziel vertieft, bemerkt Jinia garnicht, dass sie langsam, aber sicher bis zum Knie in den Sand einsinkt.
Doch irgendwann wird sie misstrauisch und hält inne. „Bleibt stehen!" ruft sie den anderen hinter sich zu. Die drei folgen ihrer Aufforderung und scheinen ebenfalls zu bemerken, wie tief sich ihre Füße in den Sand graben.
Eine Weile lang wagt keiner der vier es, etwas zu sagen, sie starren bloß mit großen Augen auf den Grund unter sich. Doch dann scheint Jinia begriffen zu haben - „Treibsand." keucht sie und ihre drei Verbündeten sehen sie entsetzt an.
„Verdammt!" tönt ein Ruf von der Sesselgruppe aus Fünf und auch die anderen Sieger scheinen zu begreifen, dass Jinia recht hat - und was das für ihre Tribute bedeutet. „Das gab es in meinen Spielen auch, wisst ihr noch?", murmelt Sohail entsetzt. „Hat gleich vier Tribute auf einmal getönte und sie in die Tiefe gezogen."
Auch Jinia und ihre Verbündeten in der Arena scheinen den Ernst der Lage realisiert zu haben. „Was machen wir jetzt?" ruft Jumara panisch, die inzwischen schon bis zum Bauch im Sand versunken ist. Hektisch versucht sie sich aus dem Sand zu befreien, doch daraufhin sinkt sie noch tiefer in die goldene Masse ein.
Nate, dem größte der vier, reicht der Sand erst bis zur Hüfte uns er versucht, sich auf den Hügel zuzubewegen, welcher ein paar Meter links von ihnen liegt. Doch anstatt dass er vorwärtskommt, wird er wie von einer unsichtbaren Hand noch tiefer in den Sand gezogen. Es muss doch etwas geben, was die vier tun können!
„Ich habe eine Idee!" schreit Jinia da plötzlich und mein Herz macht einen Sprung. „Lehnt euch nach hinten! Auf den Rücken!" ruft sie ihren Verbündeten zu. „Was? Bist du verrückt?" schreit Luke panisch und beginnt daraufhin nur noch verzweifelter, sich mit hektischen Bewegungen aus dem Sand befreien zu wollen.
„Doch! Sie hat recht, so verteilen wir unser Gewicht!" ruft Jumara und traut sich, Jinias Idee zu folgen. Nach ein paar Sekunden lehnen die beiden Mädchen beinahe vollständig auf dem Rücken - doch es funktioniert. Indem sie ganz stillhalten, hören sie auf, einzusinken.
Auch Nate scheint den Plan begriffen zu haben, denn auch er hört auf ,sich zu bewegen und beginnt, sein Gewicht zu verlagern. Bloß Luke scheint nicht einmal zu hören, was Jinia ihm zuruft. „Luke, du musst deinen Körper entspannen!", flößt sie ihm ein. „Wir müssen schwimmen!" fügt sie hinzu und beginnt, sich ganz langsam auf die Seite zu legen und ihre Beine vorsichtig aus dem Sand zu ziehen. Ganz behutsam fängt sie an, mit ihren Armen nach hinten zu greifen, fast wie beim Rückenschwimmen.
Und tatsächlich funktioniert ihre Herangehensweise! Wenn auch sehr langsam, schafft es Jinia, dem Treibsand zu entkommen. Und auch Jumara und Nate folgen ihrer Taktik und Kommen dem Rand der Falle so immer näher.
Doch bei Lukes Anblick schnappe ich nach Luft. Mittlerweile ist er schon fast bis zur Brust eingesunken. Er wird sterben, wenn er sich nicht entspannt. Währenddessen hat Jinia sich vollständig aus dem Sand befreit und auch Nate und Jumara sind fast bei ihr angekommen.
Doch Luke ist noch mitten im Treibsand gefangen. „Hör auf, dich zu bewegen!" ruft Jinia und dieses Mal hört Luke. Seine hektischen Armbewegung verlangsamt er und folgt nun endlich auch Jinias Taktik.
Doch er ist schon zu weit im Sand eingesunken, um sein Gewicht verlagern zu können. Auch Jumara scheint zu begreifen. „Wir müssen ihm helfen! Er schafft das nicht!" ruft sie, während sie sich aus dem letzten Meter Treibsand befreit. Schnell reicht sie Nate ihre Hand und hilft auch ihm so aus der tödlichen Falle.
„Hat jemand ein Seil?" ruft er sofort und Jumara nickt. Schnell schwingt sie sich ihre Tasche von der Schulter und holt tatsächlich ein langes, dickes Seil heraus. Sie reicht es Nate, der das eine Ende so weit wie möglich zu Luke in den Treibsand wirft. Geradeso schafft dieser es, die Hilfe mit seinen Fingerspitzen zu berühren und schließlich zu umgreifen.
„Jetzt ziehen!" ruft Jumara und Nate und Jinia stellen sich hinter sie und fassen mit je beiden Händen das Seil. Und dann beginnen sie mit aller Kraft, Luke Stück für Stück aus dem Sand herauszuziehen. Doch es ist mühsam. Sehr mühsam. Der Fünfer ist so tief eingesunken, dass der Kraftaufwand noch zu gering ist, um ihn befreien zu können.
Und irgendwann lassen die Muskeln der drei auch nach und die paar Meter Fortschritt, die er erlangt hat, rutscht Luke wieder zurück in den Sand.
„Ich kann nicht mehr!" schreit Jinia panisch und trotzdem klammert sie sich noch mit beiden Händen an das Seil.
„Kommt schon! Wir müssen ihn da rausholen!" ruft Jumara verzweifelt, doch auch ihr sieht man an, dass ihre Kräfte fast vollständig aufgebraucht sind. Vier Tage Überlebenskampf in den Hungerspielen sind einfach zu viel, um die benötigte Stärke aufzubringen. Langsam, aber sicher versinkt Luke immer tiefer im Treibsand.
Doch da sieht man plötzlich eine Gestalt auf der Spitze des gegenüberliegenden Sandbergs. Sofort zoomen die Kameras heran und ich erkenne den Jungen aus Elf. So weit ich weiß, hat er sich die letzten Tage komplett alleine durchgeschlagen. Dreck und Sand bedecken sein Gesicht und auch einige offene Narben zeichnen sich darauf ab.
Einen Moment lang verharrt er und beobachtet die verzweifelte Lage des Bündnisses. „Er kann uns nichts tun, ohne selbst in den Treibsand zu geraten!" keucht Nate - doch damit hat er leider völlig unrecht.
Binnen Sekunden holt der Elfer einen Bogen hervor und legt einen tödlich spitzen Pfeil ein. Und dann richtet er ihn genau auf Nate, Jumara und Jinia. Was sollen sie tun? Wenn sie seinem Pfeil ausweichen, wird ihr Griff um das Seil noch schwächer werden und Luke wird endgültig im Sand versinken. Doch ebenso, wenn sein Pfeil einen der drei trifft ...
Doch plötzlich erhebt Jinia die Stimme und ruft dem kräftigen Jungen aus Elf etwas zu. „Bitte hilf uns! Sonst stirbt er!" Doch ihr Gegner zögert, den Pfeil immer noch auf die drei gerichtet. Er muss nur loslassen, dann könnte er vielleicht sogar für den Tod von vier Tributen sorgen. Ein letztes Mal zieht er das Pfeilende nach hinten und gerade will er loslassen, da hört man erneut Jinias Ruf.
„Du und wir - wir sind keine Feinde! Das Kapitol lässt es uns denken, aber in Wahrheit sind sie es, gegen die wir kämpfen müssen! Bitte! Zeigen wir ihnen, dass wir uns gegenseitig nicht im Stich lassen!" schreit sie und blickt den Elfer verzweifelt an.
Und ihre Worte scheinen zu wirken. Entschlossen steckt er den Pfeil zurück in den Köcher und schwingt sich den Bogen über die Schulter, bevor er über die Bergspitzen hin zu Jumara, Nate und Jinia stürmt.
Die drei zucken zwar, als er bei ihnen ankommt, doch als er ganz vorne das Seil greift, packt neuer Mut alle von ihnen. Mit vereinter Kraft ziehen die vier an dem Seil, immer weiter und weiter. Langsam, aber sicher ziehen sie Luke damit aus dem Sand - sie könnten es tatsächlich schaffen!
Doch dann setzt mein Herzschlag aus. Denn Luke verliert seine letzte Kraft und seine schwitzigen Hände rutschen vom Stoff des Seils ab. Sofort sinkt er wieder tiefer ein. „Nein!" schreit Jumara und er Elfer sieht sie mit düsterer Miene an.
Doch dann fasst er einen Entschluss. Er lässt das Seil los und steigt in den Treibsand. Fassungslos sehen die anderen ihm nach. Aber offenbar weiß er, wie er sich zu bewegen hat. Mit langsamen und ruhigen Bewegungen kommt er auf Luke zu - doch damit sinkt er auch immer weiter in den tödlichen Sand ein.
Als er den hilflosen Fünfer erreicht, reicht es ihm ebenfalls schon beinahe bis zu den Schultern. „Gib mir deine Hand!" ruft er Luke zu und der gehorcht sofort. Mit letzter Kraft lehnt sich der Junge aus Elf auf den Rücken und zieht Luke ganz langsam mit sich. Und so ewig es auch dauert, irgendwann sind die zwei am Rand des Treibsandes angekommen. Für einen Moment lang sieht es so aus, als würden es tatsächlich doch beide von ihnen schaffen - aber dann wendet sich das Blatt.
Denn im nächsten Moment reißt ein dumpfer Schlag die beiden Jungen auseinander. Wie von Zauberhand sinken die zwei in einem ungeheuren Tempo zurück in den Sand und mir ist sofort klar - das Kapitol steckt dahinter.
„Nein!" kreischt Jumara und rennt auf die beiden zu, doch sobald ihr Fuß den Treibsand berührt, sinkt sie beinahe einen halben Meter ein. „Raus da." ruft Nate und zieht sie zurück. Verzweifelt wehrt sich die Neunerin, doch es ist bereits zu spät.
Denn mit einem Mal sind Luke und der Junge aus Distrikt Elf verschwunden. Dort, wo sie bis vor wenigen Sekunden noch waren, liegt nun seelenruhig der Sand, der sie verschluckt hat. Der sie getötet hat.
Nein - es war das Kapitol. Die Spielmacher müssen irgendetwas an dem Sand verändert haben, sodass es keine Chance mehr für die beiden gab. Und das alles nur, um dem Publikum ein Spektakel zu bieten.
Zwei dumpfe Schläge der Kanone durchbrechen die gespenstische Stille.
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