17 | Sternenhimmel




Die helle Wolkendecke scheint zu brechen, als sich der winzige, silberne Fallschirm dem Boden nähert. Jinia ist die Erste, die das Sponsorengeschenk bemerkt, das kurz darauf vor ihren Füßen im Sand landet.

Die Diskussion zwischen ihr und den drei anderen verstummt mit einem Mal - keiner der Älteren wagt es, ein Wort zu sagen. Jeder von ihnen war dagegen, Jinias Plan zu vertrauen und doch zeigt das Geschenk nun, dass einer von uns ihr geglaubt hat.

Mit flinken Fingern öffnet Jinia die kleine silberne Dose und holt die fünf Plastikbecher und die sandfarbene Filtertüte hinaus. „Kannst... du damit das Wasser wirklich filtern?" fragt Jumara vorsichtig. Offensichtlich erleichtert, dass einer der drei ihr endlich zuspricht, nickt Jinia. Bevor sie jedoch die Stimme erhebt, holt sie noch den kleinen Zettel aus der Dose, auf dem die Nachricht steht, die ich vor wenigen Minuten verfasst habe.

Obwohl sich ihre Züge kaum regen, erkenne ich ein kleines Leuchten in ihren Augen. Es muss ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass jemand hinter ihr steht und dass ihr Plan genau richtig war. Ein neuer Motivationsschub packt meine Tochter und schon beginnt sie, Aufgaben auf ihre Verbündeten aufzuteilen.

„Nate, du suchst da hinten bei der alten Ruine nach ein paar Kieselsteinen.", meint sie und weist auf die felsige Steinmauer, die etwa einen halben Kilometer hinter den vier liegt. „Du, Jumara,", fährt sie fort „suchst nach groben Sandkörnern. Hier in Ufernähe findet sich sowas am besten. Und Luke, du kannst bei mir bleiben und schon mal etwas von dem feinen Sand einsammeln, der hier überall liegt."

Eine Weile lang regt sich keiner der drei, bis schließlich Nate das Wort erhebt. „Und...", beginnt er mit einer deutlich freundlicheren Stimme als zuvor. „Und was machst du in der Zeit?"

„Ich baue den Filter." meint Jinia. Nachdem die drei sie immer noch stumpf ansehen, muss Jinia fast schon lachen. „Na los! Vertraut mir ruhig einmal." kichert sie, woraufhin sich ihre Verbündeten endlich aufraffen und ihren Aufgaben nachgehen. Bloß Nate packt Jinia noch einmal am Arm, bevor dieser losgeht.

„Warte, ich bräuchte noch einmal deine Klinge." sagt sie und blickt den Sechser fragend an. Er zögert einen Moment, doch dann zieht der das spitze Messer aus seinem Gürtel und reicht es Jinia, bevor er sich auf den Weg zur Ruine macht.

Währenddessen beginnt sie mit dem Bauen des Wasserfilters. Wie sie es zuhause gelernt hat, sticht sie in die Unterseiten der weißen Plastikbecher kleine Löcher ein, die dem Wasser später das Durchfließen ermöglichen sollen. Bald schon sind alle fünf Becher präpariert und ihre Verbündeten zurück mit den jeweiligen Materialien.

Und dann dauert es keine Minute mehr, bis Jinia den kleinen, aber genialen Wasserfilter fertig gebaut hat. Die fünf Becher sind aufeinander gestapelt, die oberen jeweils mit einem der drei Materialien gefüllt. Die Filtertüte klemmt sie zwischen die beiden letzten Becher.

„Fertig." verkündet sie stolz und ihr typisches, schiefes Lächeln huscht das erste Mal seit Stunden wieder über ihre Lippen. Dieses Mal lassen die drei Älteren nicht auf sich warten, schnell lassen sie mit den Händen etwas Wasser in die Öffnung des oberen Bechers träufeln.

Und tatsächlich, es funktioniert!
Die Flüssigkeit, die nach und nach in den unteren Becher tropft, ist total klar. Im Wasser des Sees hingegen erkennen die vier jetzt erst einen ganz leichten silbrigen Film, den sie vorher garnicht bemerkt haben.

Ein paar Minuten ist es ganz ruhig, anscheinend will keiner der drei recht zugeben, dass Jinias Methode genial ist und sie vermutlich alle vor dem Tod bewahrt hat. Die folgende halbe Stunde ist zwar sehr mühsam, doch irgendwann haben die vier eine reichliche Menge Wasser für ein paar Flaschen gefiltert.

Nate ist schließlich der erste, der etwas von der Flüssigkeit probiert, und man kann regelrecht sehen, wie gut ihm das kühle Wasser tut. Ein paar Minuten sehe ich, wie Jinia ihn aus dem Augenwinkel nervös beobachtet, doch es scheint sich nichts zu tun. Sie alle - nein, Jinia hat es tatsächlich geschafft.

Dieses Mal hat sie die anderen gerettet. Und das, ganz ohne, dass sie im Kampf körperliche Stärke beweist. Ohne, dass sie jemanden tötet. Nur durch ihr eigenes Geschick, Gedanken an zuhause und den Glauben daran, dass das Kapitol sie nicht so einfach kontrollieren kann.

„Glück gehabt." murmelt Finnick neben mir und reicht mir einen der Drinks, die auf unserem Tisch bereitgestellt sind. Ich lehne dankend ab, doch er besteht wohl darauf, dass ich etwas nehme. „Weißt du, wie lange ich dich nichts mehr essen oder trinken gesehen habe? Das kann auf Dauer nicht gesund sein, glaub mir, Olgivy." meint er und sieht mich mit hochgezogenen Brauen an.

„Na gut." murmele ich und nehme das Glas, damit er Ruhe gibt. Doch bereits nach dem ersten Schluck merke ich, dass etwas nicht stimmt. Noch bevor ich irgendwas tun kann, beginnt sich der Saal um mich herum auf einmal zu drehen und dann umhüllt mich Dunkelheit.

Ich schrecke hoch - wo bin ich? Was ist passiert? Es ist noch immer dunkel. Panisch taste ich um mich - doch mich umgibt Gemütlichkeit. Schnell realisiere ich, dass ich in meinem Bett in unserem Stockwerk liege. Ein Blick durch das große Fenster zu meiner Rechten zeigt, dass es mitten in der Nacht und ziemlich stürmisch draußen ist.

Eine Weile lang ist bloß mein unregelmäßiger Atem und das Prasseln der Regentropfen an der Fensterscheibe zu hören. Ich brauche ein paar Minuten, um wieder wirklich bei Bewusstsein zu sein, doch langsam wird mir klar, was hier vor sich geht - und wer dahinter steckt.

Ich richte mich im Bett auf und knipse die Lampe an, die auf dem gläsernen Nachtisch neben meinem großen Himmelbett steht. Zu meiner Überraschung liegt daneben auch ein kleiner Brief - sofort erkenne ich Rivennas feine Handschrift.

Librae - du brauchtest eine Pause. Wir verstehen, dass du rund um die Uhr im Saal und bei Jinia sein möchtest, aber Sohail, Finnick und ich haben begonnen, uns ernsthaft Sorgen um deine Gesundheit zu machen. Es tut uns leid, dass wir dich auf diese Weise für ein paar Stunden außer Gefecht setzen mussten, aber es ging leider nicht anders. Zumindest konntest du jetzt mal etwas Schlaf nachholen, nach so vielen Tagen Entzug. Wir haben extra gewartet, bis Jinia das Geschenk sicher erhalten hast, damit alles in Ordnung ist. Bitte mach dir keine Sorgen, wir drei übernehmen die ganze Nacht lang die Schicht, damit du dich endlich mal ein wenig ausruhen kannst. Wir verstehen, wenn du sauer bist, aber irgendwann wirst du uns verstehen. Wir sehen uns nachher !

PS: Finnick konnte ein paar Fischbällchen für dich klarmachen - wir wissen ja, wie gerne du die hast.

Rivenna

Ein paar Sekunden lang starre ich wortlos auf den Brief in meinen Händen. Dann fällt mir auch der vertraute Geruch von Fischbällchen auf - eine Schale davon steht ebenfalls auf meinem Nachtisch bereit. Einen Moment lang überlege ich, sofort zurück in den Saal zu stürmen und meinen drei Kollegen ein für alle Mal klarzumachen, dass sie mich gefälligst nicht nochmal so überlisten sollen, doch dann seufze ich.

Die drei haben ja so recht. Ich habe diese Stunden Schlaf wirklich gebraucht. Vermutlich habe ich es selbst garnicht gemerkt, wie am Ende ich war, nach tagelangem Daueraufenthalt im Saal. Schmunzelnd schnappe ich mir die Schale mit der Delikatesse, die bei uns zuhause ein jeder kennt. Mein darauffolgenden Magengrummeln bestätigt, dass die drei auch damit recht hatten.

Nachdem ich ein paar der weichen Bällchen verspeist habe, geht es mir deutlich besser. Sie schmecken zwar ein wenig anders als die zuhause, doch trotzdem weiß ich nicht mehr, wann ich zuletzt so etwas gutes - oder überhaupt gegessen habe.

Eine Weile lang halte ich die Ruhe in meinem Zimmer aus, doch dann macht es mich zu nervös. Ich kann es mir nicht hier in meinem Himmelbett gemütlich machen, während Jinia in der Arena alles mögliche zustoßen könnte. Ich weiß genau, dass mich meine drei Kollegen sowieso wieder zurück ins Bett schieben würden, wenn ich jetzt im Saal auftauchen würde, also schnappe ich mir die Fernbedienung und schalte den kleinen Bildschirm an, der gegenüber von meinem Bett an der Wand angebracht ist.

Die Runduhrübertragung aus der Arena springt sofort an und tatsächlich wird gerade Jinias Bündnis gezeigt. Es ist so stockfinster in der Arena, dass einzig und allein die Glut eines kleinen Lagerfeuers zeigt, was vor sich geht. Man erkennt die Silhouetten von Jumara und Luke - eng beieinander lehnen sie an einer Felswand und teilen sich eine Decke. Ihr regelmäßiger Atem verrät, dass sie schlafen.

Bald mache ich auch Jinia in der Dunkelheit aus - sie hat jedoch keine Decke, um sich warm zu halten. Wie ich ihre Gutherzigkeit kenne, hat sie nach allem, was sie heute für die anderen getan hat, trotzdem darauf verzichtet, die Decke für die Nacht zu bekommen.

Im Gegensatz zu Luke und Jumara schläft sie jedoch nicht, das braune und das blaue Licht ihrer Augen leuchtet in der Dunkelheit. Eine Weile lang hört man bloß das leise Pfeifen des Windes und das letzte Knistern der gelöschten Glut, da hört man plötzlich eine Stimme. Es ist Nate.

„Jinia - ich weiß du bist wach."

Diese atmet kurz erschrocken auf. Nate lehnt ebenfalls an eine Steinmauer und scheint wohl in dieser Nacht Wache zu halten. „Ja, ich ... kann nicht schlafen." antwortet Jinia mit gesenkter Stimme, um Luke und Jumara nicht zu wecken.

„Ich weiß, dass es wegen mir ist. Hast Angst, dass ich dich im Schlaf umbringe." murmelt Nate. „Nein, nein ... ich.." stammelt Jinia, doch der Sechser unterbricht sie. „Schon gut. Ich mache es dir auch nicht gerade leicht, das Gegenteil zu denken."

„Glaubst du das?" fragt Jinia. „Klar, du etwa nicht?", fragt Nate verwundert. „Ich habe die ganze Zeit schlecht über dich geredet und abgesehen davon - habe ich Luke und Jumara damit gegen dich aufgehetzt. Das tut mir wirklich leid. Du hast uns heute wirklich allen den Arsch gerettet. Ich glaub, ich hab dich echt unterschätzt. Du bist ein wichtiger Bestandteil im Bündnis."

Im fahlen Licht der Glut ist zu erkennen, wie Jinia ihm zulächelt. Mondlicht fällt auf Nates Gesicht und man erkennt seine Züge klar. Jetzt, da seine Augenbrauen nicht länger einen Strich bilden, wirkt er gleich eine ganze Ecke freundlicher. Und zum ersten Mal zeigen seine Lippen, wenn auch nur kurz, ein richtiges Lächeln.

Eine Weile lang sind die beiden ganz still und lauschen bloß den Geräuschen der Nacht. Irgendwann zieht Nate aber plötzlich einen kleinen Dolch aus seinem Gürtel und ich erschrecke total. Es ist tatsächlich die kleine Klinge, die am ersten Tag in Jinias Rucksack war und die ihr die Karrieros entrissen haben.

„Hab ich vor ein paar Tagen der aus Zwei abgenommen. Also na ja, ihrem toten Körper. Die Karrieros sind danach sofort abgehauen und ich hatte sie sowieso verfolgt, ich... wollte es dir zuerst nicht wiedergeben, weil ich dachte, du verdienst sie dir nicht, aber ich glaube ich lag da falsch. Und ob du damit umgehen kannst, oder nicht, heute hast du bewiesen, dass du stark bist. Sie gehört dir." meint Nate und reicht Jinia die winzige Klinge.

Mit traurigem Blick sieht Jinia auf die Waffe in ihren Händen. „Danke." murmelt sie.

„Du weißt schon, dass dich das Sponsoren kosten wird? Genau so die Aktion heute Morgen, als du dich uns angeschlossen hast. Mal ehrlich, wir wissen alle, dass du uns hättest überwältigen können." sagt sie plötzlich.

Nate scheint für einen Augenblick perplex von ihren direkten Worten, doch dann schüttelt er den Kopf. „Für die Sponsoren bin ich keine Sekunde lang hier. Pech, wenn ich den Leuten nicht gefalle. Ich kann auch alleine überleben."

Jinia blickt einen Moment lang nachdenklich in den Sternenhimmel. „Für wen bist du dann hier?" fragt sie schließlich vorsichtig und blickt zurück in Nates aschfahles Gesicht.

„Für meine kleine Schwester.", schießt es aus Nate. „Du erinnerst mich ein wenig an sie, um ehrlich zu sein." fügt er hinzu. Jinia zieht die Brauen hoch. „Das nehme ich dann mal als Kompliment." meint sie kichernd. Es ist wohl nicht Nates Art, zurückzulachen, doch er nickt Jinia zu. „Ja, ich meine ... an euch beiden ist mehr dran, als man denkt."

Meine Tochter schmunzelt und richtet ihren Blick wieder gen Sternenhimmel. „Siehst du die kleine Meerjungfrau dort oben?" fragt sie nach einer Weile und weist mit einer Kopfbewegung auf die unzähligen funkelnden Lichter über ihnen.

„Die was?" fragt Nate, offenbar keiner Ahnung, wovon sie spricht. „Na dort oben, das Sternbild. Du weißt doch, was eine ..." beginnt sie, doch dann hält sie inne und ihre Miene verdunkelt sich. „Wohl kaum. In Distrikt sechs habt ihr andere Sternbilder, oder?" Nate nickt. „Nicht, dass ich mich dafür je interessiert hätte, aber ja." erwidert er.

„Von mir aus können wir alle ganz unterschiedliche haben, aber es ist doch schade, dass wir sie nie miteinander teilen können, oder?" fragt Jinia. Nate hebt die Brauen. „Das klingt jetzt aber ein bisschen kitschig." meint er, doch ich sehe, dass ein Schmunzeln über seine Lippen huscht.

„Stimmt doch!", murmelt Jinia lachend. „Ich hoffe nur, eines Tages können die Kinder sich diese Ideen außerhalb der Hungerspiele teilen." Nate seufzt. Ein paar Minuten vergehen, in denen beide nur an den Nachthimmel schauen.

„Schlaf ruhig noch ein paar Stunden. Ich halte Wache." versichert Nate irgendwann. Jinia scheint wohl langsam doch die Müdigkeit überrollt zu haben, denn ohne Widerspruch lässt sie ihren Kopf gegen die Felswand sinken. Doch bevor sie die Augen schließt, flüstert sie noch: „Danke". „Wofür?" fragt Nate.

„Für's Reden. Hat irgendwie ... gut getan." flüstert Jinia und beendet damit das nächtliche Gespräch der beiden. Irgendwann schaltet die Übertragung auch wieder von den beiden weg und bringt mich zurück in mein Zimmer.

Ich glaube, nicht nur Jinia wurde falsch eingeschätzt, Nate wurde es auch. In den letzten Tagen hätte ich ihm keine Sekunde lang getraut, wenn er für die Nacht über meine Tochter gewacht hätte, doch nach den letzten Minuten hat sich meine Ansicht geändert.

Meine Augen richten sich weiterhin auf die Übertragung, während ich dem gemächlichen Klang der prasselnden Regentropfen zuhöre.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top