16 | Hoffnungsschimmer


Beinahe schon silbern glänzt der See, an dessen Ufer Jumara, Luke, Nate und Jinia inzwischen angekommen sind. Kein bisschen Wind weht in der Arena, daher ist die Oberfläche des Wassers fast spiegelglatt. Nichts könnte drauf hinweisen, dass es in Wahrheit ein tödliches Gift beinhaltet.

Die lange Wanderung bis hier hin scheint die vier ans Ende ihrer Kräfte gebracht zu haben, doch beim Anblick des vermeintlich rettenden Sees sieht man selbst dem gefühlskalten Nate ein wenig Erleichterung an.

Jumara schwingt sich ihre Tasche von der Schulter und holt ihre Flasche hinaus. Sie ist die erste, die auf das Wasser zutritt und das Gefäß tief in das kühle Nass tunkt. Auch Nate und Luke können ihrem Drang wohl nicht länger widerstehen, denn sie knien sich ans Ufer und lassen sich das Wasser in die Hände laufen.

Bloß Jinia regt sich mit einem Mal kein Stück mehr. Anstatt ihren Verbündeten gleichzutun, sieht sie bloß misstrauisch dabei zu, wie diese sich die Flüssigkeit in Flasche und Hände füllen. Gerade, als Nate seine Hand zum Mund führen will, erhebt Jinia das Wort.

„Stop."

Ruckartig lässt Nate das Wasser zwischen seinen Fingern hindurchfließen und sieht Jinia daraufhin genervt an. „Wenn du uns loswerden willst, indem wir verdursten, ist das deine Sache. Aber dann stell dich wenigstens ein bisschen geschickter dabei an." stichelt er und taucht daraufhin wieder die Hände ins Wasser.

Doch Jinia lässt sich nicht unterkriegen. Sie tritt einen Schritt auf Nate zu und ihre schmalen Finger packen seinen muskelbepackten Arm. „Stop!" Das reicht Nate dann aber endgültig. Schlagartig schubst er Jinia von sich weg und funkelt sie aus seinen dunklen Augen geradewegs an. „Was ist eigentlich..." beginnt er, doch Jinia unterbricht ihn.

„Ich trau' der Sache nicht. Findet ihr nicht, dass es zu... zu einfach ist?" sagt sie und blickt fragend in die Runde. Doch ihre Verbündeten sehen sie bloß unbeeindruckt an. „Ich meine, schaut euch doch mal an, wie riesig der See ist. Luke, du hast gesagt, am anderen Ende der Arena gibt's sogar noch einen zweiten. Warum sollte das Kapitol uns so ein Geschenk bereiten? Eure Mentoren haben euch doch sicherlich auch eingeflößt, dass Wasser das zentrale Element ist, das uns alle am Leben hält, nicht wahr?"

Noch immer keine Reaktion ihrer Verbündeten. Jinia seufzt. „Denkt doch mal an andere Hungerspiele. Es gab vielleicht ein, zwei Mal eine große Wasserquelle, danach hat das Kapitol aber gemerkt, dass sie es den Tributen damit viel zu einfach machen. Das andere Ufer dieses Sees ist bestimmt fünfzig Meter von hier entfernt. So können Tribute, die nicht verbündet sind, sich problemlos diese Wasserquelle teilen, ohne sich dabei gegenseitig anzugreifen oder überhaupt über den Weg zu laufen. Und das ist doch das letzte, was die Zuschauer wollen, oder?"

Ein paar Sekunden lang sehen die drei Älteren Jinia fassungslos an. Schließlich ist Nate der Erste, der wieder das Wort ergreift. „Und was bitte willst du jetzt tun? Es sind dreißig Grad plus und ich zum Beispiel, hab' seit gestern Morgen keinen Schluck Wasser mehr bekommen können. Wenn das so weiter geht, sterben wir alle innerhalb der nächsten Stunden. Egal, ob wir dieses Wasser getrunken haben oder nicht!"

Jumara runzelt die Stirn und nickt. „Er hat recht, Jinia. Ich verstehe, dass du Bedenken hast, aber was soll das Kapitol schon getan haben? Glaubst du ernsthaft, dass das Wasser giftig ist oder sowas?"

Jinia nickt, doch Luke schaltet sich ein. „Und was, wenn es einfach ganz normales Wasser ist? Keine Falle, kein Trick, sondern einfach nur lebenswichtiges Wasser? Dann haben wir unsere einzige Chance aufs Überleben verspielt. Wir haben keine Wahl." meint er und sieht Jinia ein wenig entschuldigend an.

„Doch, haben wir!", ruft diese daraufhin schon etwas energischer. „Wir brauchen nur etwas, womit wir das Wasser filtern können oder so. Glaubt mir, ich weiß, wie das geht. Zuhause in Distrikt vier ist Wasser das wichtigste, was wir Bewohner haben."

Mein Herz macht einen Sprung und sofort richte ich mich in meinem Sessel auf. Ich kann Jinia helfen! Sie hat recht damit, dass sie Wasser filtern kann. Von klein auf wird es allen Kindern zuhause eingeflößt. Ich weiß zwar nicht, ob es jeden Tropfen Gift aus der Flüssigkeit lösen wird, doch einen Versuch ist es wert! Vor allen, wenn sie es sonst riskiert, alle ihre drei Verbündeten auf einmal zu verlieren oder zu verdursten!

Auch meine drei Mentorenkollegen scheinen Jinias Vorhaben zu verstehen. „Sie braucht nur die richtigen Materialien dafür." meint Rivenna und blickt nachdenklich auf die Übertragung, wo die vier immer noch in die Diskussion vertieft sind.

Schnell schnappe ich mir mein Tablet, dass auf dem marmornen Tisch vor mir abgelegt ist. Hastig scrolle ich durch Jinias Profil, seit Nates Angriff auf sie vorhin sind die Spenden ein wenig weniger geworden, davor ist ein wenig Geld noch für eine Portion Suppe draufgegangen. Was sie jetzt bräuchte, wären ein paar Plastikbecher und eine Art Filtertüte. Ziemlich spezifisch, daher auch ziemlich teuer, wie mein Tablet verrät. Die aktuelle Spendensumme reicht dafür nicht.

Ich schlucke und blicke verzweifelt auf den Bildschirm, wo die Diskussion zwischen den vier Tributen zu eskalieren scheint. Ich muss handeln! Mein Blick schweift durch die Halle und bleibt auf der Zuschauerlounge hängen - natürlich. Als Siegern steht es uns zu, mit den hier sitzenden Kapitolsbewohnern zu reden und sie gegebenenfalls sogar von einer kleinen Spende zu überzeugen.

Normalerweise ist das eher der Job von Finnick oder Rivenna, doch am Ende bin ich für Jinia verantwortlich. Ich habe ihr versprochen, für sie da zu sein. Und wenn das jetzt nun mal heißt, ein paar verwöhnte Kapitolsbewohner um den Finger zu wickeln, dann ist das eben so!

Entschlossen erhebe ich mich von meinem Sessel und schiebe mich zwischen den vielen Sesselgruppen hindurch zur Zuschauerlounge. Ich spüre die Blicke von Rivenna, Finnick und Sohail in meinem Rücken, ihnen muss wohl klar sein, was ich vorhabe.

Die Zuschauerlounge ist noch prächtiger ausgestattet als der Mentorenbereich. Kein Wunder, denn wer es sich leisten kann, hier die Hungerspiele zu schauen, fordert so etwas sicher auch. Instinktiv verlangsame ich meine Schritte, als ich zwischen die vielen Polstersofas und Stehtische trete, an denen sich die verrückt aussehendsten Leute in ganz Panem aufhalten.

Die meisten richten ihre Blicke auf die Übertragung, nur wenige scheinen mein Kommen überhaupt bemerkt zu haben. Diese paar sehen mir zwar neugierig zu, doch ich bin längst keine Berühmtheit wie Finnick. Wie soll ich diese Leute bloß von einer Spende für Jinia überzeugen? Diese Leute, die es insgeheim kaum abwarten können, dass sie stirbt und ich in tausend Teile zerbreche?

Verzweifelt lasse ich meine Blicke über die Lounge schweifen bis - mir zwei Kinder ins Auge fallen. Vergnügt laufen ein Junge und ein Mädchen, ich schätze sie auf acht oder neun, zwischen den vielen Tischen und Sofas hindurch. Ich seufze. Das ist meine Chance. Wenn ich eins gelernt habe, dann das Kinder hier im Kapitol sehr verwöhnt sind. Wo in den Distrikten die meisten so viel schreckliches durchmachen, dass sie schon mit dreizehn oder vierzehn längst keine Mädchen oder Jungen mehr sind, sieht es hier ganz anders aus.

Also steuere ich geradewegs auf die zwei Kinder zu und komme schließlich vor ihnen zum Stehen. Erschrocken beenden sie ihr Fangspiel und sehen mit großen Augen zu mir hinauf. Ihnen muss wohl klar sein, dass ich eine Siegerin bin, schon allein wegen meines Kleidungsstils. Sowohl der Junge, als auch das Mädchen sind beide in seltsame rosafarbene Pelzmäntel gehüllt, die sie fast schon wie zwei Kanarienvögel aussehen lassen.

„Du bist Librae Olgivy, oder?" fragt das Mädchen ein wenig schüchtern und sieht ehrfürchtig zu mir hinauf. Instinktiv bücke ich mich zu ihnen hinunter und schenke ihnen mein bestes Lächeln. „Ja, das bin ich." Aus dem Augenwinkel erkenne ich wie zwei Erwachsene, wohl die Eltern der beiden, mir abschätzende Blicke zuwerfen.

Ich schätze, sie halten wohl mehr von Karrierosiegern und stehen nicht so darauf, dass ich Langweiler aus Distrikt vier nun vor ihren Kindern stehe. Doch ich ignoriere die Blicke und wende mich wieder den zweien zu.

„Wie heißt ihr denn?" frage ich vorsichtig und zu meiner Erleichterung antworten die beiden auch. „Ich bin Delilah, und das ist mein Bruder Codey." plaudert das blonde Mädchen ausgelassen und weist auf den Jungen neben sich, der schüchtern zu mir hinauf lächelt.

„Das sind ja schöne Namen" lüge ich und weise daraufhin auf den Bildschirm am anderen Ende des Saals. Zu meinem Glück wird gerade eine Großaufnahme von Jinia gezeigt. „Das da ist Jinia, sie ist meine Tochter." beginne ich und werde gleich von Delilah unterbrochen. „Ich finde sie so toll! Eines Tages will ich genau so mutig sein wie sie!" ruft sie und ihre Augen strahlen noch mehr, als sie es ohnehin schon getan haben.

Ich lächle sie an. „Das wirst du ganz bestimmt." meine ich aufmunternd und zu meinem Glück scheint die Kleine meinen Worten zu glauben. „Wer weiß, vielleicht hast du ja bald die Chance, sie mal in echt zu treffen, wenn sie auf der Tour der Sieger ins Kapitol kommt..." beginne ich.

„Au ja!" ruft Delilah begeistert und macht einen Freudensprung. Mein Plan scheint aufzugehen. „Nun ja, ihr habt bestimmt fleißig zugesehen und bemerkt, dass Jinia und ihre Freunde ein wenig Hilfe brauchen. Und wisst ihr was?", beginne ich und blicke in die großen Augen der beiden Kinder. „Ihr zwei könnt Jinia vor dem giftigen Wasser retten!"

Begeistert schauen sich die beiden an. „Wir können Mom und Dad fragen, ob sie etwas spenden wollen." flüstert der Junge leise. Schon nimmt ihn seine Schwester an die Hand und die zwei hechten auf das Plüschsofa zu, auf dem wie vermutet ihre zwei Eltern sitzen.

Eine Weile lang kann ich nichts tun als die abschätzenden Blicke zu ertragen, die mir die zwei Erwachsenen immer wieder zuwerfen, und die Bettelei ihrer Kinder zu beobachten. Ihre Eltern scheinen von der Idee, meiner Tochter zu helfen, wenig begeistert, doch wie es mir scheint gibt es nur eine Sache, die den zweien noch wichtiger ist als ihre Würde - ihre Kinder.

Und so kommt es, dass der Vater schließlich dem bettelnden Blick seiner Tochter nachgibt. Lachend fällt diese ihm um den Hals und bedankt sich bei ihm. Ein letztes Mal werfen die zwei Kinder mir ein strahlendes Lächeln zu, dann mache ich mich schon wieder zurück in die Mentorenlounge.

„Und?" fragt Rivenna hoffnungsvoll, als ich mich wieder in den Sessel sinken lasse und mir mein Tablet schnappe. Das darauffolgende Klingeln auf dem Gerät bestätigt ihr meinen Erfolg - eine Spende ist eingetroffen.

„Genial! Aber du musst dich beeilen, ich glaube nicht, dass die drei Jinia noch lange zuhören werden..." murmelt Rivenna und schaut mir über die Schulter, als ich mit dem neuen Geld die benötigten Materialien anklicke und auf „Auswählen" tippe. Auf dem blau leuchtenden Bildschirm des Tablets blinkt noch ein Textfeld auf, auf dem ich eine kurze Nachricht für Jinia hinterlassen kann, die ihr parallel mit dem Sponsorengeschenk zugestellt werden wird. Ich überlege kurz, dann schreibe ich:

Du weißt, was du zu tun hast. Zeig Nate, wie stark du bist und dass sie dich unterschätzen, das wird dir helfen, sein Vertrauen zu gewinnen. Bleibt zusammen. Ich bin bei dir - Mom

Hoffentlich ist es noch nicht zu spät...

Mit zittrigen Fingern fahre ich über das Display und klicke schließlich auf „Versenden".

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