14 | Die Bedrohung
Der dumpfe Schlag der Kanone eröffnet den dritten Tag der Spiele. Alle Augen im Saal richten sich auf die laufende Übertragung aus der Arena, in der soeben die Tributin aus Distrikt sechs gefallen ist. In aller Ausschweife wird gezeigt, wie der dürre Vierzehnjährige aus Zehn sich binnen Sekunden von einem ziemlich unscheinbaren Jungen in einen überaus gewieften Tribut verwandelt.
Obwohl er keine einzige Waffe bei sich trägt, klettert er den Baum hinauf, auf dem sich seine Gegnerin versteckt und ist dabei genau still wie der Wind, der an diesem Morgen durch die Arena weht. Mit einem seltsam sanftem Schubs stößt er das Mädchen von der Baumkrone hinunter, bis sie Sekunden später mit einem dumpfen Schlag auf dem steinbedeckten Boden aufkracht und in einer Blutlache versinkt.
Sofort löse ich meinen Blick von der grausamen Szenerie. Geistesabwesend streiche ich mir über das Gesicht. Allein dieser Morgen ist schon besonders nervenaufreibend gewesen. Nicht nur, dass die ersten Zuschauer heute bereits sehr früh den Saal betreten haben. Dazu weiß ich garnicht mehr, wann ich diesen zuletzt verlassen habe.
Kein Wunder, dass ich es deswegen kaum bemerke, als gegen acht Uhr schließlich meine drei Mentorenkollegen die drei Stühle um mich herum füllen. Eine Weile lang schauen sie nur stumm die Übertragung, doch ich spüre Rivennas besorgten Blick, der auf mir ruht. Ich schaffe es einen Moment lang, ihn zu ignorieren, doch irgendwann gebe ich auf und sehe Rivenna zurück in die meerblauen Augen.
„Ich weiß, was du denkst.", meine ich. „Aber ich kann nicht anders, als rund um die Uhr hier zu sitzen. Ich... könnte es mir niemals verzeihen, wenn Jinia etwas zustößt, nur weil ich unbedingt ein paar Stunden schlafen musste." Rivenna lächelt matt. „Ich weiß.", Sie legt mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Aber sei dir bewusst, wir sind auch da. Und falls du doch irgendwann mal eine Pause einlegen möchtest, das verspreche ich dir, dann sorge ich dafür, dass Jinia kein Haar gekrümmt wird."
Müde lächle ich Rivenna zu. Es vergehen einige Minuten, in denen sich in der Arena außer der aufgehenden Sonne nichts tut. Erst, als die Kameras eine längere Zeit auf eine Tributin halten, wird es im Publikum allmählich stiller und man spürt die eiserne Spannung, die sich auf die Mentoren legt.
Es ist Johannas Schützling, das Mädchen aus Distrikt sieben. Ich schätze sie nicht älter als vierzehn, und trotzdem hat sie sich bisher ganz allein durchgeschlagen. Mein Blick schweift hinüber zur Sesselgruppe der Mentoren aus Sieben. Blight, zwei weitere und vor allem Johanna sind lautstark in eine Diskussion vertieft.
„Johanna, Lavinia braucht die Essensration jetzt. Sie hatte schon gestern den ganzen Tag nichts, wir können nicht mehr warten!" sagt Blight energisch und tippt mit flinken Fingern auf seinem Mentorentablet herum. Doch im selben Moment noch reißt es Johanna ihm aus der Hand.
„Sie hält das noch durch, Dummkopf! Nur wegen einer Fünf in der Bewertung musst du sie nicht gleich als nutzlos abschreiben! Versteh es doch endlich mal, dass sie von Anfang an auf sie herabgesehen hatten! Warum sonst hatte die hohle Nuss aus Zwölf gleich 'ne Acht bekommen und war trotzdem nach vierundzwanzig Stunden tot? Weil sie hübscher war? Das ist einfach nur Bevorzugung!"
Das Mentorenteam diskutiert noch eine Weile weiter und es fasziniert mich immer wieder, wie skrupellos Johanna dabei das Kapitol und sogar Snow höchstpersönlich verflucht. Finnick neben mir scheint meinen nachdenklichen Blick bemerkt zu haben.
„Fragst dich, warum ihr das alles so egal ist, hm? Weil sie niemanden mehr hat, dem das Kapitol etwas antun kann. Sie haben ihre Schwester und ihre Mutter getötet, nachdem sie sich geweigert hat, das selbe mit sich anstellen zu lassen wie ich. Sie spricht nie darüber, aber ich verstehe auch, warum. Ich meine, ich habe Annie, und du hast Atala, deine Kinder und deine Geschwister. Aber ich kann mir garnicht vorstellen, wie es sein muss, niemanden zu haben."
Wieder einmal bildet sich eine klitzekleine Sorgenfalte auf Finnicks makellosem Gesicht. Nachdenklich wende ich mich wieder der Übertragung zu. Das Mädchen aus sieben, Lavinia, lehnt gut versteckt in einer Baumkrone. Trotz der ersten Sonnenstrahlen scheint sie noch nicht wach zu sein und doch sind die Kameras weiterhin auf sie gerichtet. Und im nächsten Moment wird auch klar, warum.
Ein dumpfes Rascheln ertönt unter dem Baum, auf dem Lavinia sitzt und es reißt sie sofort aus jeglichem Schlaf. Binnen Sekunden sind ihre Augen weit offen und die silbrige Axt fest in ihrer Hand. Sie presst sich an den Baumstumpf hinter sich und wagt es kaum, sich zu bewegen. Denn nun hat sie entdeckt, wer für das Geräusch verantwortlich war.
Man erkennt Nate aus Distrikt sechs erneut an seinem aschfahlen Haar und den undurchdringlichen, dunklen Augen. Er scheint die Siebenerin schon lange im Visier zu haben, doch er ist klug genug, sich nicht gleich auf sie zu stürzen.
Die eben noch so laute Diskussion der Sieger aus Distrikt sieben ist mit einem Mal verstummt und alle Augen richten sich auf die laufende Übertragung. Doch bevor Nate irgendetwas tun hat, hat sich Lavinia in einem unheimlichen Tempo von der Spitze ihres Baumes hinüber zum nächsten geschwungen.
Aber ihr Gegner lässt sich davon nicht beeindrucken. Ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von Lavinia zu lösen, folgt er ihr auf Schritt und Tritt. Für einen Moment sieht es dann so aus, als würde er tatsächlich versuchen, an einem der Bäume hochzuklettern, doch schließlich scheint er sich umentschlossen zu haben.
„Ein kluger Zug.", höre ich Sohail murmeln. „Er weiß genau, dass er sie auf diese Weise nicht kriegen kann. Aber so zeigt er seine Schwäche den Zuschauern nicht."
Auch das Mentorenteam aus Sieben kann allmählich wieder aufatmen. Die Frage ist nur, für wie lange noch?
Als sich die erste Mittagshitze über die Arena legt, wie die Anzeigetafeln neben dem Bildschirm zeigen, werden auch allmählich wieder Aufnahmen von Jinias Bündnis gezeigt.
Sie, Jumara und Luke sitzen im Schatten einiger Ruinen, die von hohen Sandhügeln umgeben sind und somit einen relativen Schutz vor fremden Blicken bieten. Gerade teilen sich die drei ein Stück Fleisch eines Tieres, welches Jumara erlegt und schließlich über einem kleinen Feuer zubereitet hat.
Eine Weile lang hört man bloß die Geräusche der Natur und das beruhigende Knistern der letzten Glut des Feuers, da erhebt Luke auf einmal die Stimme.
„Ich glaube, wir müssen uns auf die Suche nach Wasser machen. Jinia, du hast zwar noch eine Flasche, aber unsere Vorräte sind beinahe leer. Es ist besser, jetzt gleich aufzubrechen, als erst heute Nacht, wir werden nicht die einzigen sein, denen es so geht."
Jumara und Jinia nicken. „Wir könnten zurück zu dem See, wo die Karrieros mich ... erwischt haben. Da können wir unsere Flaschen reichlich füllen." schlägt meine Tochter vor.
„Gut." , sagt Jumara, während sie aufsteht und die letzten Funken des Feuers austritt. „Dann lasst uns jetzt aufbrechen. Wird ein paar Stunden dauern, bis wir den See erreicht haben."
Daraufhin beenden auch Jinia und Luke ihre Mahlzeit und stehen schließlich auf. Jumara schnappt sich ihren Speer, Luke schwingt sich den Köcher mit Pfeilen über die Schulter und hält Pfeil und Bogen parat.
Erwartungsvoll sehen die zwei zu Jinia, offenbar darauf wartend, dass auch sie eine Waffe hervorholt. Etwas beschämt sieht Jinia zu Boden. „Ich hab nichts. Die Karrieros haben mir alles abgenommen." Anstatt sie dafür zu triezen, handeln ihre Verbündeten jedoch sofort.
„Solange ich noch Pfeil und Bogen hab, kannst du mein Schwert haben." meint Luke und reicht es Jinia daraufhin. Mit großen Augen starrt sie auf die lange silberne Klinge, die wohl ziemlich schwer in der Hand liegt. Ehrfürchtig blickt sie zu dem hochgewachsenen Luke hinauf. „Danke." bringt sie hervor.
Ein bitterer Geschmack legt sich mir auf die Zunge. Es ist ein seltsames Gefühl, die eigene Tochter mit so einer Bedrohung in der Hand zu sehen. Ich hoffe, dass wir irgendwann in einer Welt leben, in der kein Kind jemals mehr eine Waffe tragen muss.
Die Übertragung zeigt nur noch, wie das Bündnis sich auf den Weg in Richtung Wald macht, dann wechselt die Kameraperspektive und die grinsenden Gesichter von Caesar Flickermann und Claudius Templesmith strahlen den Siegern und Zuschauern im Saal entgegen.
„Der dritte Tag in der Arena nimmt langsam Fahrt auf, mein liebes Publikum! Nutzen wir das doch als Gelegenheit, um Ihnen mal einen Überblick zu geben: Nur noch zwölf unserer tapferen Tribute sind übrig! Zwölf! Sind Ihre Favoriten noch dabei? Wie auch immer, ich finde, Sie schlagen sich alle ziemlich gut, nicht wahr, Claudius?"
„Na ja, Caesar, fast, würde ich sagen. Denn unser starkes Bündnis aus den Karrieretributen scheint im Moment ein wenig, sagen wir mal, zerrissen. Werfen wir doch mal einen Blick drauf!"
In der nächsten Sekunde wird das Bündnis bestehend aus Yuvan und den drei übrigen Tributen aus Distrikt eins und zwei gezeigt. Tatsächlich scheint selbst ihnen die rege Mittagshitze etwas ausgemacht zu haben, denn sie sind ausnahmsweise mal nicht auf den Beinen. Stattdessen sitzen die vier um einige kahle Baumstümpfe am Waldrand versammelt. Die beiden aus Eins teilen sich eine Packung Kräcker, während der massive Karriero aus Zwei immer wieder nur stumm eine Klinge in die Erde rammt und wieder herauszieht. Yuvan hingegen sitzt etwas abseits von den dreien, offenbar so weit, dass sie denken, er könne sie nicht hören.
„Also ich finde, wir müssen ihn loswerden. Bisher hat er erst eine abgemurkst und danach war er völlig hinüber." meint Destiny aus eins mit gesenkter Stimme. Ihr Distriktpartner nickt. „Denke ich auch.", beginnt er und blickt verstohlen zu Yuvan. „Einer weniger, der uns im Weg steht."
Destiny lacht leise auf. „Ja. Ist eh kein richtiger Karrieretribut.", murmelt sie zwischen einem Bissen Kräcker. „Hat sich nicht aus eigener Überzeugung freiwillig gemeldet, sondern nur, weil seine Eltern das so wollten, hab ich gehört."
„Sie wollten es nicht." ertönt es da auf einmal hinter den dreien und Yuvan blickt ihnen geradewegs in den Rücken. Der stille Wade aus zwei hebt den Kopf und Destiny und Blade fahren sogar so schnell herum, dass ihnen die Packung Kräcker glatt aus den Händen rutscht und im Sand landet.
„Es liegt an meiner Mutter, okay?" zischt Yuvan. Die beiden Einser lachen laut auf. „Oh, wolltest Mami also einfach nicht enttäuschen?" säuselt Destiny.
Yuvan funkelt die beiden an. „Es war allein meine Entscheidung, okay? Meine Mutter ist sterbenskrank und mein Vater und ich haben nicht mehr das Geld, für eine Behandlung zu bezahlen. Die einzige Hoffnung, die noch blieb, war ich. Und dass ich gewinne und mit dem Siegergeld ihr Leben rette. Und nichts, was ihr tut oder sagt, wird meinen Plan ändern, klar? Und - wenn ihr über mich herzieht, tut es wenigstens leise."
Einige Sekunden herrscht eine eiserne Stille zwischen den Vieren und und Yuvan wendet seinen Blick nicht von seinen Verbündeten ab. Irgendwann dreht er sich doch wieder um, doch die Kälte, die sich zwischen das Bündnis gelegt hat, bleibt.
Ein Kloß sitzt mir im Hals und ich blicke hinüber zu Finnick, Rivenna und Sohail. Auch sie scheinen nichts von Yuvans Geschichte gewusst zu haben. Uns ist wohl allen aufgefallen, dass er sich von Anfang an etwas stiller und weniger arrogant verhalten hat als die Karrieros in den meisten anderen Jahren, doch offenbar hat sich jeder von uns nichts weiter dabei gedacht. Dass so eine traurige und verzweifelte Geschichte dahinter steckt, hätte ich nicht geglaubt.
Reflexartig greife ich nach meinem Handgelenk, wo ich sonst immer mein Armband spüre, was nun jedoch Jinia bei sich trägt. Wahrscheinlich war ich so sehr auf sie fokussiert, dass ich Yuvan daneben komplett ausgeblendet habe. Traurig, dass mir das jetzt erst richtig klar wird.
Doch weder uns, noch den Zuschauern bleibt noch länger Zeit, um über die Stimmung im Karrierobündnis nachzudenken, denn mittlerweile mischen sich zwischen die Perspektiven einiger Einzelgänger auch wieder die Gesichter von Luke, Jumara und Jinia unter die Kameras.
Parallel hört man die Stimme von Caesar Flickermann über die Aufnahmen tönen. „Nun, mein liebes Publikum, wie Sie sehen, nähert sich unser zweites Bündnis langsam dem See mit dem vermeintlich rettenden Wasser. Aber ob es wirklich rettend ist? Noch mal zur Erinnerung, einer der beiden Seen in unserer Arena ist vergiftet! Ob es der ist, auf denen sich unsere drei tapferen Tribute gerade zubewegen? Wir werden es gleich erfahren!"
Zunehmend nervöser streiche ich mir eine schwarze Locke aus dem Gesicht. Caesar hat recht. Gleich werden wir direkt vor unseren Augen sehen, was geschieht, wenn die drei von dem Wasser des Sees kosten - und was es ihnen antut, wenn es vergiftet ist.
Wie die Wellen am Meer werden schreckliche Gedanken in mein Bewusstsein gespült, darüber, was das Gift Jinia zufügen könnte. So wie ich das Kapitol kenne, wird es ihr keinen schnellen Tod bereiten. Was ist, wenn sie höllische Schmerzen leiden wird? Allein beim Gedanken daran beginnt ein Brennen in meinen Augenwinkeln und Tränen kündigen sich an. Ich sehe Rivenna, die zu mir sieht und im nächsten Moment zu mir kommen will, doch dann hält sie auf einmal inne.
Mein Blick folgt ihrem zurück auf die laufende Übertragung und im nächsten Moment setzt mein Herzschlag aus. Denn vor Luke, Jumara und Jinia steht nun unmittelbar ein noch viel größeres Problem.
Schneller, als meine Augen es erfassen konnten, ist seine dunkle Gestalt aus dem Blätterdach der Bäume hinab auf den Waldboden gesprungen. Und im nächsten Moment hat Nate aus Distrikt sechs Jinia gepackt und hält ihr sein langes, spitzes Messer an die Kehle.
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