10 | Gemeinsames Schicksal




Jedes einzelne Ticken der großen Wanduhr bringt mich dem bevorstehenden Morgen näher. Wie oft meine Augen vor Erschöpfung auch zuklappen mögen, Schlaf finde ich dabei keinen. So warm es auch unter der Decke ist, so laut ich Jinias Herzschlag bei mir spüre und so regelmäßig ihr Atem geht, ich kann nichts anderes tun als bloß eisern an die Zimmerdecke zu starren. Ich wage es nicht einmal, einen kleinen Finger zu bewegen.

Zu groß ist die Angst, Jinia aufzuwecken. Zu groß ist die Angst, dass sie bald ihren letzten Sonnenaufgang vor der Arena sieht. Zu groß ist die Angst, dass sie sich dann von mir löst und das für immer.

Eine leichte Brise weht durch das offene Fenster ins Zimmer herein und lässt mich frösteln. Sanft ziehe ich Jinia noch enger zu mir, um ihre Wärme zu spüren - vielleicht ein letztes Mal. Ich werde diese Wärme verlieren, ich werde Jinia verlieren. Zurück bleibt nur die Kälte. Schon seitdem ihr Name auf dem Ernteplatz verlesen wurde, habe ich sie verspürt, doch wenn sie fort sein wird, wird sie noch einmal viel stärker werden.

Ich streiche durch Jinias Haar, doch behutsam, um sie nicht zu wecken. Ein tränenschwerer Kloß bildet sich in meinem Hals, wenn ich sie dort so schlafen sehe. Beinahe winzig sieht sie aus, wie sie dort zusammengerollt im Schutz meiner Arme liegt. Die dunklen Strähnen, die ihr sanft in die Stirn fallen, lassen ihren Anblick beinahe friedlich wirken. Irgendein Teil von mir wünscht sich, dass sie einfach für immer in diesem Moment verharrt, bei mir, in Sicherheit und in Frieden.

„Ich bin die ganze Zeit schon wach." tönt es da plötzlich ganz leise von Jinia. Langsam öffnet sie die Augen und sofort findet mich ihr Licht. Sanft wickeln sich ihre Finger um die meinen. Und dann hebt Jinia erneut die Stimme und beginnt, zu singen.

Ich kam für die Ebbe

Ich blieb für die Flut

Alle Narben heilen durch das Meer

Doch ich werde es nicht

Aber die Wellen

Sie werden mein Boot nicht brechen

Irgendwann stimme ich mit ein. Ich bin nicht die beste Sängerin, doch es reicht, um Jinia ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Für eine unbestimmte Zeit lang gibt es nur uns, das beständige Schlagen unserer beiden Herzen und das sanfte Flüstern des Ozeans, das wir beide in uns tragen.

Doch all das verklingt, als Saphire die Tür aufreißt und mit flacher Stimme verkündet, dass es gleich losgeht. So sonnig der heutige Morgen auch sein mag, am Frühstückstisch herrscht die Stimmung eines kalten Herbsttages. Keiner von uns Mentoren bringt etwas hinunter, selbst Saphire stochert etwas unbeholfen in ihrem Pancake herum. Bloß Jinia und Yuvan frühstücken ausgiebig, weil sie nicht wissen, wann sie das nächste Mal etwas bekommen werden.

Nervös lasse ich meine Blicke über die anderen schweifen, doch sie sehen allesamt so aus, als wollten sie der Situation entfliehen. Und mir geht es genauso. Was würde ich dafür geben, einfach weglaufen zu können, mit Jinia an meiner Hand. So weit weg, dass uns niemand aus dem Kapitol je wieder finden könnte und bloß das Meer uns umgeben würde.

Doch weder kann, noch darf ich das. Ich bin hier, um Jinia vor diesem Schrecken zu bewahren. Das habe ich unserer Familie, ihr und mir selbst versprochen.

Schließlich stecken Yuvan und Jinia beide in der Kleidung, die schon für die Arena bereitgelegt wurde. Von dem bunten Farbenmeer der letzten Tage fehlt an ihnen nun jede Spur, beide tragen eine schwarze Hose und ein ebenso dunkles T-Shirt.

Ich erwische mich dabei, minutenlang im Türrahmen zu stehen und meine Augen so fest in Jinia zu bohren, dass mir die anderen schon besorgte Blicke zuwerfen. Bloß gedämpft nehme ich wahr, wie Saphire verkündet, es sei Zeit, Abschied zu nehmen. Wie in Trance bewege ich mich auf Jinia und Yuvan zu, die bereits vor der Tür stehen.

Sobald ich vor meiner Tochter stehengeblieben bin, scheint ein tonnenschwerer Anker mich meilenweit in die Tiefe zu ziehen. Dort steht sie nun, bereit für den Einzug in die Hungerspiele. Nicht irgendwer, nein, Jinia. Meine Jinia. Womöglich ein allerletztes Mal.

Ich spüre, wie Übelkeit in mir aufsteigt und unmittelbar versuche ich, das Zittern zu unterdrücken, was mich im nächsten Moment packt. Meine Mundwinkel wollen sich zu einem aufmunternden Lächeln für Jinia ziehen, doch sie scheinen wie festgefroren. Ich spüre ein Brennen am Rande meiner Augen, wie immer, wenn sich Tränen ankündigen.

Ich atme tief durch, doch als Jinias Arme mich im nächsten Moment umschlingen, brechen all die aufgestauten Emotionen der letzten Tage mit einem Mal aus mir hinaus. Unkontrolliert zittere ich, während mir dicke Tränen die Wangen hinablaufen. Ich presse Jinia so fest an mich, dass es beinahe schon wehtut. Ich spüre, wie ihre Tränen mein Hemd nässen. So sehr ich es versuche, das Weinen hört einfach nicht auf.

Schluchzend streiche ich ihr durch das Haar, immer und immer wieder. Ich spüre die mitleidigen Blicke all der anderen auf mir, doch das ist mir in diesem Moment sowas von egal. Tief atme ich Jinias Geruch ein. Und zwischen all den unzähligen Gerüchen des Kapitols, die sich in den letzten Tagen über sie gelegt haben, vernehme ich noch ganz leicht den Duft von zuhause. Von Distrikt vier, von Atala, von Jinias Geschwistern, vom Meer.

Ich will sie einfach nicht loslassen. Ich kann sie nicht loslassen! Doch sie kann es. Ganz langsam löst sich Jinia von mir und im nächsten Moment treffen sich unsere Blicke. Ihr Gesicht ist voller Tränenspuren und doch hält sie ihren Kopf hoch erhoben, als sie mich ansieht. Als sie ihre Mutter ansieht, die ihr nichts mehr geben kann.

Ich lasse mich vor Jinia in die Hocke sinken, um ihr direkt in die Augen blicken zu können. „Ich weiß, dass du stark bist. Wir alle wissen es. Atala, Willow, Rayam und Alani. Wir glauben an dich, okay? Fokussiere dich auf deine Stärken. Halte dich an dein Bündnis. Versuche, den Karrieros aus dem Weg zu gehen. Halte stets Ausschau nach Wasser. Iss oder trink nichts, das du nicht kennst. Wir versorgen dich mit Sponsorengeschenken, das verspreche ich dir."

Im nächsten Moment ergreife ich Jinias Hand und drücke sie fest.

„Ich weiß, dass ich lüge, wenn ich sage, dass alles gut wird. Und ich möchte dich nicht belügen. Ich möchte nur, dass du weißt, dass wir alle hinter dir stehen. Wir Mentoren, unsere Familie, deine Freunde. Wir lieben dich für genau das, was du bist. Und das wird sich niemals ändern, okay? Du wirst nicht alleine sein, auch, wenn es in manchen Momenten so scheinen mag. Ich bin da. Die ganze Zeit."

Meine letzten Worte bringe ich kaum noch heraus, denn kurzerhand fällt mir Jinia ein zweites Mal um den Hals. „Ich weiß" flüstert sie mir sanft in den Nacken. Ganz langsam löst sie sich wieder von mir und unmittelbar beginne ich, zu zittern. Jinia blickt mir tief in die Augen und erhebt ein letztes Mal die Stimme.

„Ich werde niemals fort sein."

Ein letztes Mal treten auch die anderen Mentoren zu Jinia und Yuvan. Finnick nimmt die Hände der beiden. „Wir glauben an euch. Wir alle."

Wir übrigen nicken bekräftigend. „Ihr beide habt euch gut vorbereitet." sagt Sohail und seine Hände landen auf Finnicks. „Wir haben euch die ganze Zeit im Auge. Einer wird immer vor der Übertragung sitzen und auf euch aufpassen." sagt Rivenna, als auch sie Sohails Beispiel folgt. Ganz oben auf dem Turm aus Händen landen meine. Der warme Druck breitet sich von meinen Fingern bis in die Arme aus, bis das Gefühl schließlich das Herz erreicht. „Wir sind Distrikt vier. Und wir halten zusammen."

Ich schlucke erneut, als wir uns schließlich voneinander lösen und die blasse Saphire an die Seite von Jinia und Yuvan tritt. Wie in Zeitlupe scheint sich die gläserne Tür hinten den beiden zu schließen und dann sind sie fort. Mindestens einer von ihnen für immer.

„Ich werde niemals fort sein."

Die letzten Worte von Jinia hallen wie ein Echo durch meine Gedanken, als wir Mentoren längst auf einer Tribüne auf der Hauptstraße sitzen und die Eröffnung der 73. Hungerspiele erwarten. Auf der großen Leinwand über der breiten Straße läuft ein Countdown. Nur wenige Minuten, bis die Übertragung beginnt. Noch sind die Tribute in den kühlen, gefliesten Räumen unterhalb der Arena. Doch ist es wirklich schon so weit? Es kommt mir vor wie gestern, dass wir mit dem Zug unsere Heimat verlassen haben. 

Die Tribüne ist randvoll mit Mentoren, Stylisten und Zuschauern des Kapitols. Hinter den Absperrungen drängen sich weitere riesige Menschenmassen, ausgestattet mit Fähnchen ihres favorisierten Distrikts oder Spielzeugwaffen. Erstaunlich viele sind in eine seltsame Fischernetzoptik gekleidet, die wohl ihre Unterstützung für Distrikt vier symbolisieren soll.

Von überall sind Kameras auf uns gerichtet, um unsere Reaktionen auf das Blutbad einzufangen. Obwohl die Sonnenstrahlen mich wärmen, läuft mir allein beim Gedanken daran ein Schauer über den Rücken.

Finnick, Rivenna und Sohail um mich herum versuchen ihr bestes, um mich ein wenig abzulenken, indem sie mich immer wieder auf die verrücktesten Outfits der Zuschauer in unserer Nähe aufmerksam machen. Dankbar lächle ich ihnen zu.

Auf einer Bühne unterhalb der Leinwand beziehen mittlerweile Caesar Flickerman und Claudius Templesmith Stellung. Rechts und links von ihnen werden die Wettquoten der Tribute angezeigt.

„Meine Damen und Herren, es ist soweit! Machen sie sich bereit, wir fangen jeden Moment an! Wieder ist ein Jahr um und das spannendste Event des Jahres steht bevor! Wer wird leben, wer wird sterben?" Das Publikum bricht in Jubelschreie aus, doch ich würde am liebsten vor Angst schreien. Denn im nächsten Moment hallt Claudius Templesmith' Stimme ein letztes Mal schallend laut über die gesamte Tribüne.

„Meine Damen und Herren - mögen die 73. Hungerspiele beginnen!"

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