09 | Goldene Worte


Im Wohnzimmer herrscht Chaos. Überall liegen die Utensilien der Vorbereitungsteams verstreut. Auf dem letzten freien Stück des Teppichs stehen Yuvan und Jinia, umringt von ihren Stylisten. Saphire tummelt sich ebenfalls dazwischen und gibt letzte Anweisungen für die Interviews. Die übrigen Mentoren sind bereits im Studio, doch ich wollte Jinia vorher zumindest noch einmal sehen.

Die Stylisten beachten mich kaum, doch meine Tochter lächelt mir erfreut zu. Auch dieses Mal hat ihr Vorbereitungsteam nicht gescheut, ihr das Image einer Kämpferin zu verleihen. Ein eng anliegendes, schwarzes Kleid verändert ihre sonst so kindliche Ausstrahlung komplett. Zum zweiten Mal ist sie dunkel geschminkt, bloß ihre charakteristischen braunen Locken konnten die Stylisten anscheinend nicht bändigen. Nur einige der vorderen Strähnen sind nach hinten geflochten, wo Jake sie zu einer kunstvollen Form gebunden hat, die ein wenig an das Fischernetz von der Parade erinnert.

Yuvan neben ihr trägt einen feinen schwarzen Anzug mit goldenen Akzenten. Obwohl ich jetzt schon weiß, dass er neben Jinia wenig Beachtung erhalten wird, verleiht ihm seine Aufmachung wohl genug Selbstvertrauen, um zuversichtlich auf die bevorstehenden Interviews zu blicken.

Zu Saphires Freude lassen die Stylisten schließlich endlich von Jinia und Yuvan ab und wir begleiten sie hinunter in das Studio, in dem jedes Jahr die Interviews mit allen vierundzwanzig Tributen durchgeführt werden. Alle von ihnen bekommen vorher spezielle Coachings darüber, wie sie sich auf der Bühne zu verhalten und zu äußern haben. Ich denke, Jinia wird sowieso viel Begeisterung empfangen, doch ihre Antworten auf Caesars Fragen werden genau so wichtig sein. Für die Zuschauer im Kapitol ist es die letzte Gelegenheit vor den Spielen, einen Eindruck der Tribute zu bekommen und sich über die Verteilung ihres Geldes zu entscheiden.

Trotz unserer pünktlichen Abfahrt sind wir nicht die ersten im Fernsehstudio. Ein paar Tribute aus den äußeren Distrikten warten bereits im Backstagebereich der gewaltigen Bühne. Aufgeregt blicken vor allem die jüngeren umher. Selbst hier kann man schon das ohrenbetäubende Jubeln der Zuschauer auf den Rängen hören.

Eine Assistentin des Kapitols scheucht die Tribute schon bald in eine nach Distrikten geordnete Schlange. Zwischen den vielen älteren Jugendlichen verschwindet Jinia durch ihre Größe beinahe. Unmittelbar husche ich durch das Gedrängel hindurch und bleibe bei ihr stehen. Ich spüre die Blicke der anderen Tribute auf mir. Eine Siegerin lässt sich normalerweise kaum noch im Backstagebereich blicken. Doch was auch immer das Kapitol dafür vorgesehen hat, es ist mir jetzt völlig egal. Sanft nehme ich Jinias Hand und drücke sie fest. Obwohl ich heute nicht die Bühne betreten werde, klopft mein Herz unaufhaltsam schnell.

„Weißt du, welchen Tipp mir Jake damals vor meinen Interviews gegeben hat?" frage ich Jinia und blicke ihr erwartungsvoll in die großen Augen. Sie schüttelt sanft den Kopf. „Er hat mir gesagt, dass ich versuchen soll, ich selbst zu sein. Und das bedeutete nicht, Caesar irgendwelche Beleidigungen über das Kapitol an den Kopf zu werfen, sondern ihm Dinge zu erzählen, die wirklich aus meinem Herz kamen. Ich weiß, dass du das auch kannst."

Ich bemühe mich zu einem aufmunternden Lächeln und will Jinia eine Haarsträhne hinters Ohr streichen, doch da schleicht sich ein mahnender Blick der Stylisten in meinen Hinterkopf.

„Ich schaff das schon." schmunzelt sie und kopfschüttelnd grinse ich ihr zu. Es ist wirklich bemerkenswert, wie ruhig sie trotz der aufregenden Situation bleibt. Ein letztes Mal drücke ich ihre Hand fest, dann trete ich von der Reihe der Tribute zurück und wende mich zum Gehen. Rivenna, Finnick und Sohail sitzen bestimmt schon auf unseren Plätzen auf der Tribüne.

„Scharfes Kleid, Kleine." ertönt es da plötzlich hinter mir. Sofort fahre ich herum und in diesem Moment stößt sich der Junge aus Distrikt eins von der Wand ab, an der er gelehnt war und tritt einen Schritt auf Jinia zu. Schließlich steht er so dicht vor ihr, dass nur noch wenige Zentimeter die beiden trennen. Jinia muss schon beinahe den Kopf in den Nacken legen, um dem massiven Karriero ins Gesicht blicken zu können.

Er lässt vielsagende Blicke über Jinias Aufmachung schweifen und zieht die Augenbrauen in einer Art hoch, die mir einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Im nächsten Moment haste ich auf die beiden zu, doch der Junge, ich glaube, er heißt Blade, tritt nur noch näher an meine Tochter heran. Mit einer Hand berührt er ihr Kinn und schiebt ihren Kopf ein wenig zu sich nach oben.

„Bild dir aber bloß nichts ein, Süße. Ich kann es garnicht abwarten, dass meine Klinge sich dein hübsches kleines Gesicht morgen als allererstes vornehmen wird." Blade setzt zu einem weiteren Wort an, doch in diesem Moment bin ich bei ihm.

Ich höre bloß das Rauschen meines eigenen Blutes und ein loderndes Feuer scheint in meinem Inneren entfacht zu sein. Ich schiebe mich vor Jinia in den schmalen Spalt zwischen ihr und dem Karriero. „Wage es nicht", zische ich und sehe ihm direkt in die funkelnden Augen. „Hör sofort auf, so mit meiner Tochter zu reden! Ein weiteres Wort über sie und ..."

Wir starren einander regungslos an. Der Karriero lässt abschätzende Blicke über mich schweifen und er sieht so aus, als würde er mich jeden Moment angreifen wollen. Überwältigen könnte er mich mit Leichtigkeit, doch er weiß wohl nur zu gut, was ihm blüht, sollte er eine Siegerin verletzen. Ein letztes Mal setzt er zu einem bissigen Kommentar an, doch ich funkele ihn an. Der Mund des Karrieros klappt wieder zu.

„Wir sehen uns morgen." flüstert er zu Jinia gewandt und bevor ich noch irgendetwas tun kann, wirbelt er herum und stolziert zurück zu seiner Distriktpartnerin, die uns ebenso abschätzig mustert.

Meine Wut brodelt noch immer in mir, doch im nächsten Moment packt mich ein Schwindelgefühl und meine Beine werden zittrig. Mit letzter Kraft greife ich Jinias Hand und ziehe sie mit mir, vorbei an den glotzenden Blicken der anderen und schiebe sie zurück in die Reihe der Tribute. Am liebsten würde ich an Ort und Stelle im Boden versinken. Erneut klammere ich mich an Jinias Arm, den sie mir zu entreißen versucht.

„Du musst mich nicht verteidigen." sagt sie störrisch und blickt mich aus großen Augen an. „Und ob ich das muss!" , bricht es aus mir hervor. „Ich bin für dich verantwortlich. Und ich werde nicht zulassen, dass dieser Junge dich angreift."

„Ab Morgen hat er jede Chance dazu." murmelt Jinia und blickt gedankenverloren auf einen Punkt hinter mir. Die Traurigkeit, die in ihren Zügen liegt, versetzt mir einen Stich ins Herz. Im nächsten Moment hocke ich mich zu ihr hinunter, sodass ich ihr direkt in die Augen blicken kann.

„Weißt du noch, was ich zuhause zu dir gesagt habe? Ich bin bei dir. Die ganze Zeit." sage ich mit klarer Stimme und streiche Jinia mit der freien Hand über die Wange. Obwohl in ihren Augen Tränen schimmern, ziehen sich ihre Mundwinkel im nächsten Moment zu dem so typischen, leicht schrägen Lächeln.

„Danke." wispert sie kaum hörbar und im nächsten Moment umschlingen mich ihre Arme. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und ignoriere die Blicke der anderen Tribute. Im nächsten Moment nimmt mich schon eine Assistentin des Fernsehsenders an Arm und schiebt mich sanft in Richtung Tribüne. Ein letztes Mal werfe ich Jinia einen aufmunternden Blick zu, doch schon strahlt mir grelles Scheinwerferlicht entgegen.

Schnell haste ich hinter den unzähligen Kameras vorbei und lasse mich schließlich auf meinen vorgesehenen Platz in der ersten Reihe der Zuschauertribüne sinken. Unzählige Reihen bilden sich hinter uns, jeder einzelne Platz ist besetzt mit Kapitolsbewohnern. Vor uns erstreckt sich die riesige leuchtende Bühne, die in einem lilafarbenen Licht zu leuchten scheint. Zwei Stühle stehen bereits dort, einer für den Tribut, der andere für den Moderator, Caesar Flickerman.

„Alles klar?" haucht Rivenna neben mir und ich nicke flüchtig. Für die Wahrheit ist jetzt keine Zeit. Im nächsten Moment bricht ein Jubelsturm um uns herum aus, denn Caesar höchstpersönlich betritt die Bühne. Sein Anzug schimmert beinahe in dem selben Dunkelrot wie sein Haar. Begeistert moderiert er den Abend an und die aufgeregten Stimmen von Mentoren und Zuschauern verstummen. Alle Geräusche verklingen zu einem Summen, kaum, dass ich die Augen schließe.

Erst als ich die melodische Stimme des Jungen aus Eins höre, öffne ich sie wieder. Unsere Auseinandersetzung hat ihn wohl angespornt, denn sein gesamtes Interview über hinterlässt er einen vielversprechenden, jedoch auch gefährlichen Eindruck. Egal, wie viel Aufmerksamkeit Jinia zuteil sein mag, diesen Tribut werden die Zuschauer ebenfalls nicht abschreiben.

Auch die restlichen Karrieros erledigen ihre Interviews mehr als passabel und bloß die beiden stillen Kinder aus Drei können die Aufregung des Publikums ein wenig dämpfen. Doch als der Junge schließlich unter müden Applaus die Bühne verlässt, scheint die Luft vor Anspannung beinahe zu knistern.

Alle im Saal scheinen genau zu wissen, dass nun Jinia an der Reihe ist. Nervös verknote ich meine Finger ineinander und starre hinauf zur Bühne. Strahlend tritt Caesar einen Schritt nach vorne und ruft: „Begrüßen Sie nun mit mir die Tochter unserer Siegerin, Jinia Olgivy!"

Eine regelrechte Flutwelle an Jubel scheint auszubrechen und erschrocken presse ich mir die Hände auf die Ohren. Jinias Weg hinauf zur Bühne vergeht in einem Wirbel aus Farben, Lichtern und Geräuschen und erst, als sie sich neben Caesar in den Sessel hat sinken lassen, sehe ich wieder klar.

Obwohl sie beinahe in dem Sitz versinkt, sitzt Jinia mit geradem Rücken da und hat einen selbstbewussten Gesichtsausdruck aufgelegt. Ein seltenes Bild für eine Zwölfjährige. Einzig, als ihr Blick durch die Menge huscht und die Augen im nächsten Moment auf meine treffen, erkenne ich ihr die Aufregung an. Mit einem langsamen Kopfnicken symbolisiere ich ihr, dass sie Ruhe bewahren soll. Prompt beginnt Caesar mit der ersten Frage und eine gespannte Stille legt sich über den Saal.

„Nun Jinia, wir alle kennen deine Mutter nur sehr gut." beginnt er.
Ich sehe, wie die Kameras auf mich gerichtet werden und ich weiß, dass nun ganz Panem auf mich blickt. Unmittelbar richte ich mich gerade und setze ein Lächeln auf. Nicht zu strahlend, aber noch immer so gut, dass es echt wirkt.

„Nun, was denkt sie denn über deine Chancen für morgen, meine Liebe?" fragt Caesar und strahlt Jinia an. Für ein paar Sekunden herrscht erwartungsvolle Stille und die Augen des gesamten Landes sind auf Jinia gerichtet, während Caesar ihr das Mikrofon hinhält. Doch dann scheint sie die passenden Worte gefunden zu haben. Mit zarter, doch klarer Stimme beginnt sie.

„Nun, ich denke, niemand hier kann sagen, wie die Chancen stehen. Sie sagen doch selbst immer, das Glück solle mit uns sein. Und ob es das morgen bei mir ist, kann ich nicht sagen. Wir können nichts an dem ändern, was uns bevorsteht und erstrecht nicht können wir es beurteilen. Aber meine Mutter hat mir versprochen, dass sie bei mir sein wird. Die ganze Zeit."

Ein gerührtes Seufzen geht durch die Menge und ich lächle darüber, dass Jinia meine Worte verwendet hat. Sie hat sich den Rat über die Ehrlichkeit also zu Herzen genommen.

„Nun, sicherlich weißt du, dass in nur zwei Jahren das Jubeljubiläum bevorsteht. Denkst du, die diesjährigen Spiele können diesem Spektakel gerecht werden?" fragt Caesar neugierig. Jinia grinst und ihre Augen funkeln. Es erinnert schon beinahe an etwas rebellisches.

„Nun, ich denke, dass müssen doch Sie entscheiden, oder? Ich weiß schließlich nicht, was den Tributen morgen, im nächsten, oder in zwei Jahren bevorsteht. Wer weiß, vielleicht bekomme ich das auch garnicht mehr mit. Daran haben Sie noch garnicht gedacht, oder?"

Obwohl Jinia keineswegs wütend klingt, sehe ich das Funkeln in ihren Augen. Ihre rebellische Ausdrucksweise löst einen Jubelsturm aus, was wohl bedeutet, dass die Zuschauer die Bedeutung hinter Jinias Worten nicht verstanden haben - oder zumindest nicht verstehen wollten.

„Na, das ist ja mal eine Antwort! Kommen wir aber schon zu meiner letzten Frage. Für wen, Jinia, möchtest du die Spiele gewinnen?" Caesar blickt sie erwartungsvoll an und hofft offenbar auf ein paar rührende Worte der Siegertochter. Bestimmt warten alle darauf, dass Jinia sagt, sie würde für mich, ihre ja so tapfere Mutter gewinnen wollen. Doch Jinia hebt bloß den Kopf und blickt direkt in die Kameras.

Das gesamte Publikum hängt an ihren Lippen und wartet auf eine Antwort. Und sie kommt. Laut, deutlich und vor allem - echt.

„Für alle, die verlieren werden."

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