07 | Die Kriegerin
Die Zeit ist gekommen, um unsere Tribute bei den Pferdekutschen wieder zu treffen. Mit dem Fahrstuhl fahren wir Mentoren hinunter ins Erdgeschoss, wo uns wildes Gewusel empfängt. Nervöse Aufgeregtheit hat sich über die gesamte Halle gelegt. Wohin ich auch schaue, überall sind bunt gekleidete Personen zu sehen. Man kann beinahe kaum zwischen Kapitolern und Tributen unterscheiden, so glamourös und prächtig sind deren Kostüme. Bloß die Sieger, die sich vereinzelt um die zwölf Kutschen tummeln, sehen noch halbwegs normal aus.
Schließlich haben wir Jinia und Yuvan unter dem bunten Chaos ausgemacht und eilen zu ihrer Kutsche. Sie ist die vierte in der Reihe von zwölf und damit ist den Tributen aus unserem Distrikt in jedem Jahr zumindest eine relativ gute Aufmerksamkeit der Zuschauer zuteil. Schon jetzt, obwohl noch abgeschirmt durch die großen Flügeltüren, kann man ihren ohrenbetäubenden Jubel hören.
Bei der Kutsche angelangt sehe ich Jinia und Yuvan zum ersten Mal seit heute morgen wieder. Und obwohl noch immer das gesamte Vorbereitungsteam um die beiden herumschwirrt und letzte Kleinigkeiten an ihnen ausbessert, bietet sich schon der Anblick auf ihre Kostüme. Und es verschlägt mir die Sprache.
Sowohl Jinia, als auch Yuvan stecken beide in gewagten Outfits, rein aus den beigen Schlingen von Fischernetzen. Die Windungen bedecken nur wenig ihrer Körper. Bei Yuvan bewirkt dies, dass seine Muskeln gut zur Geltung kommen. Und obwohl Jinia neben ihm erst zwölf ist, lässt ihre Aufmachung das geschickt vergessen. Sie ist stark geschminkt, was zu dem aufreizenden Ausschnitt des Fischernetzkleides passt, das ihre Kurven umschmeichelt.
Blickfang bleibt allerdings die gewaltige Krone, die auf Jinias Haupt thront. Muscheln, Korallen und aller anderlei schimmernde Dekorationen sind auf dem perlenbesetzen Schmuckstück zu sehen und scheinen in allen Farben des Ozeans zu leuchten. Auch Yuvan trägt so eine Krone, auch, wenn sie bei ihm sichtlich kleiner ist.
Im nächsten Moment treffen sich die Blicke von Jinia und mir und ich bringe bloß ein leises „Wow..." hervor. Ein Lächeln huscht über die beinahe golden schimmernden Lippen meiner Tochter.
„Das ist ja wirklich ... atemberaubend!" kreischt Saphire, als sie hinter uns angestöckelt kommt. Jinia schenkt ihr ein Lächeln, doch ich erkenne ihr die Nervosität bis aufs äußerste an. Immer wieder huscht ihr Blick zu den großen Flügeltüren, die die Hauptstraße noch von ihnen absperren und hin und wieder auch zu den anderen Tributen.
Zum ersten Mal sehe auch ich sie mir genauer an und es jagt mir Angst ein, sie auf einmal so nah vor mir zu sehen. Aus Richtung der Distrikte eins und zwei werden längst bedrohliche Blicke in alle Richtungen verteilt. Alle vier Karrieros haben es gut getroffen, golden und silbern schimmern die Aufmachungen, in denen sie sich dem Kapitol präsentieren werden. Doch ich sehe die finsteren Blicke, die sie immer wieder zu Yuvan und vor allem Jinia werfen.
Sie sind wohl neidisch auf ihr Kostüm und vor allem den guten Ruf, den Jinia, ohne etwas dafür zu tun, bereits unter allen Zuschauern hat. Auch aus den Richtungen der anderen Tribute zeigt sich reges Interesse für meine Tochter und ihre Aufmachung. Selbst einige Sieger wenden die Blicke von den eigenen Schützlingen ab und starren zu uns hinüber.
Nervös schiebe ich Jinia ein wenig in den Schutz der Kutsche, um sie vor den vielen fremden Augenpaaren zu schützen. Ich umarme das beinahe erwachsene Mädchen vor mir flüchtig und erst, als ich durch ihr Haar streife, habe ich wieder das Gefühl, dass es meine Tochter ist. Ich ernte zwar einen mahnenden Blick von Selyn, doch das ist mir herzlich egal. Selbst Jinias mir so vertrauter Geruch von zuhause heftet nun nicht mehr an ihr, stattdessen riecht sie bloß nach Kapitol.
Langsam löse ich mich wieder von ihr und blicke in das düster geschminkte Gesicht. „Du kriegst das hin, okay? Wir Mentoren sitzen in der Zuschauertribüne, wir werden euch also die ganze Zeit sehen. Wie wär's, versuch doch, mich in der Menge auszumachen. Dann musst du deine Blicke nicht nur den anderen Zuschauern widmen. Ich ... ich hab dich lieb."
Die letzten Worte sind kaum mehr als ein Flüstern und erneut ziehe ich Jinia in eine Umarmung. „Ich dich auch" haucht sie mir in den Nacken, bevor ein gespielt gerührtes Räuspern von Saphire uns wieder auseinander bringt. Im nächsten Moment steigen die beiden hinauf ins Innere der Kutsche, die bloß von zwei zahmen Pferden gezogen wird. Einzig ein wenig schwarzes, glänzendes Metall trennt die Tribute von dem Straßenboden und lässt so genügend Platz für die unzähligen Blicke der Kapitolsbewohner.
„Zucker?" tönt es plötzlich neben mir. Ich blicke zur Seite und wie erwartet ist es Finnick, der sich zwischen Rivenna und Sohail vorbei an den Rand der Kutsche schiebt.
„Was?" entfährt es Jinia verwirrt.
„Willst du Zucker?" sagt Finnick ganz langsam, als wäre sie schwer von Begriff. Dabei hält er ihr seine ausgestreckte Hand hin, in der sich ein paar der weißen kleinen Würfelchen stapeln. Von der Seite schnappen sich Rivenna und Sohail jeweils einen, genau so Yuvan, der sich neben Jinia vorbeugt. Geschickt wirft er sich einen Würfel in den Mund, während er weiter die anderen Tribute beobachtet. Doch seine Distriktpartnerin wirft mir nur einen fragenden Blick zu. Schmunzelnd nicke ich ihr zu.
Zögerlich nimmt Jinia sich also auch einen der Würfel aus Finnicks Hand und steckt sich ihn vorsichtig in den Mund. Einen kurzen Moment verzieht sie das Gesicht, doch als sie Finnicks erwartungsvollen Blick auf sich sieht, ziehen sich ihre Lippen zu einem Grinsen.
„Librae?" wendet sich Finnick schließlich zu mir und streckt mir die Hand aus. „Beruhigt die Nerven" fügt er grinsend hinzu. „Na hoffentlich." schnaube ich und schnappe mir anschließend den letzten Würfel. Sofort breitet sich Süße auf meiner Zunge aus.
Im nächsten Moment hört man das laute Poltern der sich öffnenden Flügeltüren und schon schlägt uns eine Flutwelle an Jubel entgegen.
„Na los, wir müssen auf die Tribüne!" flötet Saphire schrill und scheucht sowohl das Vorbereitungsteam, als auch uns Mentoren vor sich her. Noch ein letztes Mal werfe ich einen Blick zu Jinia und halte ihr beide ausgestreckten Daumen hin. Auch Finnick lässt einen langen Blick über ihre Aufmachung schweifen. „Nicht schlecht, nicht schlecht." raunt er und tätschelt Jinias Stylistin Selyn auf die Schulter, die daraufhin beinahe mädchenhaft kichert.
Gerade haben wir uns auf unseren Plätzen auf den voll besetzten Tribünen niedergelassen, da ertönt schon ohrenbetäubend laut die Hymne des Kapitols und der Jubel um uns herum scheint zu einem regelrechten Sturm loszubrechen.
In der nächsten Sekunde rollt auch schon der erste Wagen aus dem Schatten der Halle hervor und poltert über die Hauptstraße. All die Leute in den Reihen vor uns recken die Köpfe, um besser sehen zu können. Wir Mentoren machen uns stattdessen garnicht mehr die Mühe, denn mehrere riesige Bildschirme rund um die Tribünen zeigen das Geschehen noch einmal hundertfach vergrößert.
Schon sind die goldenen Kostüme der beiden Tribute aus Zwei zu sehen. Anmutig winken sie in die Menge und ernten eine ordentliche Menge Applaus und Jubel. Es folgt der Wagen aus Distrikt drei und dann - vier. Nervös verknote ich meine Hände ineinander, als die zwei schwarzen Pferde zum Vorschein kommen. „Es wird alles gut.", flüstert eine Stimme mir ins Ohr. „Jinia ist jetzt schon die Favoritin."
Und Rivenna hat recht. Sobald meine Tochter und Yuvan mitsamt ihren Kostümen auf den riesigen Bildschirmen um uns herum zu sehen sind, bricht ein noch gewaltiger Jubelsturm aus als zuvor. Erschrocken presse ich mir die Hände auf die Ohren, doch verfolge das Geschehen weiterhin mit den Augen.
Stark sieht Yuvan auf den großen Kameraaufnahmen aus, doch das ist nichts neben dem Mädchen, das neben ihm steht. Jinias dunkle Locken wehen im Fahrtwind. Doch sie ist kein kleines Mädchen, das schüchtern in die Menge winkt. Stattdessen blickt sie bloß mit eisernem Blick nach vorne - und das Publikum liebt es. Ihr Kostüm ist atemberaubend, sie sieht aus wie eine Kriegerin, gehüllt in das Fischernetz. Sie ist anmutig, schön, erwachsen und ... fremd.
Das Mädchen, das dort im Schein der Kameras glänzt, ist nicht mehr mein Mädchen. Nicht mehr meine Jinia. Doch ... auch keine Tributin der 73. Hungerspiele. Sie lässt sich nicht vom Kapitol kontrollieren - ein seltener Anblick für eine Zwölfjährige.
Mittlerweile mischen sich auch die Gesichter der anderen Tribute unter die Aufnahmen, doch trotzdem bekommt Jinia die meiste Aufmerksamkeit. Immer wieder leuchtet ihr Gesicht auf den großen Bildschirmen auf. Ich höre die Mentoren der anderen Distrikte, die um uns herum platziert sind, laut fluchen. Verständlich, denn nach diesem Ereignis wird das Kapitol bloß noch Augen für meine Tochter haben und all die anderen Tribute wahrscheinlich nur halbherzig beachten.
Irgendwann werden die Wagen jedoch langsamer und reihen sich schließlich vor dem Trainingscenter ein, in dem die Tribute die nächsten Tage verbringen werden. Die letzten Tage des Lebens von dreiundzwanzig von ihnen. Die Pferde machen schließlich vor dem gewaltigen Eisentor des Gebäudes Halt. Der Applaus verstummt und mit ihm die Musik.
Stille senkt sich über den Platz. Das Tor öffnet sich nur zweimal im Jahr. Beim ersten Mal verschwinden vierundzwanzig Tribute hindurch und beim zweiten Mal kommt nur ein einziger von ihnen wieder hinaus, um als Sieger in den Heimatdistrikt zurückzukehren.
Auf allen Bildschirmen wird Präsident Snow eingeblendet, wie er sich zu seiner üblichen Ansprache erhebt. Mittlerweile habe ich sie so oft gehört, dass ich sie auswendig mitsprechen könnte. Auch Sohails Lippen neben mir formen lautlos die Worte, die über die gesamte Hauptstraße hallen.
Mittlerweile mischen sich auch wieder Aufnahmen von den Tributen zwischen die des Präsidenten, doch anstatt des beeindruckten und überwältigten Gesichtsausdrucks eben, starrt Jinia ihn mit einer Feindseligkeit an, die ich noch nie in ihren Augen gesehen habe. Ihr Blick löst einige erstaunte Aufrufe unter den Zuschauern aus, doch ich habe nicht im Gefühl, dass sie ihn für die Kameras aufgesetzt hat.
„Mögen wir auch dieses Jahr wieder großartige Spiele erleben und an ihrem Ende einen neuen Sieger für alle Ewigkeiten krönen!" beendet Präsident Snow unter lautem Jubel seine Rede. Ehe ich mich versehe, ist die Wagenparade schon vorüber und die Kutschen werden vom Tor des Trainingscenters verschluckt.
Zurück bleibt nur der ohrenbetäubende Jubel und Applaus von zehntausenden auf den Tribünen. Sie alle scheinen wie besessen von Jinia zu sein und doch haben sie sie erst ein paar wenige Minuten an diesem Abend gesehen. Die Hungerspiele haben gerade erst begonnen.
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