04 | Machtlos
Ich höre nichts außer dem Rauschen meines eigenen Bluts. Das verstehe ich nicht ... welcher Name wurde gesagt? Wer ist dieses Mädchen, das sich aus der Reihe der Zwölfjährigen löst und die Stufen zur Bühne hinaufschreitet? Die dunklen Locken, das blaue Kleid, die zwei unterschiedlich leuchtenden Augen, die mich direkt durchdringen...
„Jinia!" platzt es aus mir hinaus und mit einem Mal spüre ich, wie sich die Augenpaare der gesamten Menge allein auf mich richten. Und dort steht sie, nur wenige Meter von mir entfernt und sieht ihre Mutter mit einem Gesichtsausdruck voller Entsetzen an.
Wie erstarrt blicke ich das Augenpaar an und es starrt zurück. Ein Speer scheint sich mit einem Mal zwischen meine Rippen zu bohren. Ich spüre die Blicke der Sieger auf mir, doch keiner wagt es, mich zu berühren. Als hätten sie alle Angst, ich könnte in der nächsten Sekunde in einen hysterischen Anfall ausbrechen, die Loskugel zertrümmern oder Jinia in meine Arme schließen und für immer fortrennen.
Doch ich tue nichts von alledem. Stattdessen sitze ich nur da, eisern an meinen Stuhl gefesselt und blicke fassungslos in das Gesicht meiner Tochter. In das Gesicht der weiblichen Tributin für die 73. Hungerspiele.
Nein. Nein, das darf nicht wahr sein.
Sie hatte einen Zettel unter tausenden.
Ich spüre den salzigen Geschmack einer Träne auf meiner Lippe. Warum geschieht denn nichts? Warum meldet sich niemand freiwillig? Jinia kann doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden!
Doch sie wird es.
Mit wackligen Schritten schreitet Jinia auf Saphire zu, die ihr einen Arm um die Schulter legt. Ein strahlender Ausdruck umspielt die Lippen der Moderatorin, doch ich sehe, wie sie meinen Blick vollends meidet. Ich verstehe die Worte nicht, die sie im nächsten Moment sagt, ich sehe bloß, wie sie den Arm meiner Tochter in die Höhe reißt.
Bloß aus dem Augenwinkel fange ich Jinias Gesichtsausdruck auf, doch keine einzige Tränenspur ziert ihre Wange. Obwohl sie heftig zittert, blickt die Zwölfjährige mit einem klaren Blick nach vorne und strafft die Schultern. Fassungslos lasse ich meinen Kopf in meinen Händen versinken.
Ich nehme nur gedämpft das Rascheln der Zettel im zweiten Lostopf wahr und ebenso schwach den Ruf aus der Menge, unmittelbar nachdem der Name verlesen wurde. Langsam hebe ich den Kopf wieder und sehe einen Jungen, der aus der Reihe der Achtzehnjährigen zur Bühne trabt. Sofort sehe ich die Szene von meiner Ernte vor mir, in der mein Distriktpartner Jacek sich ebenfalls freiwillig gemeldet hat. So lange ist es schon her, dass er in den Spielen durch meine Hand gestorben ist.
Erst, als der Junge an mir vorbei auf Saphire zuläuft, nehme ich ihn richtig wahr. Er hat dunkles Haar und karamellbraune Augen. Muskulöser Körper, perfektes Lächeln - ein typischer Karriero. Sein ganzes Leben lang muss er auf diesen Moment gewartet und nun seine Chance ergriffen haben.
Jinia, die nur halb so groß ist wie er, versinkt beinahe neben dem massiven Karriero. Die Tränen in meinen Augen verschleiern mir immer wieder meine Sicht. Der Junge stellt sich als Yuvan Allistair heraus. Nachdem Jinia ihm zittrig die Hand gegeben hat, reißt Saphire ihre beiden Arme in die Höhe. Bescheidener Applaus ertönt.
„Nun, hier sind sie, die beiden Tribute für die 73.Hungerspiele aus Distrikt vier!"
Grobe Hände von zwei Friedenswächtern packen die beiden und drängen sie in Richtung Rathaus. Ich hege keinen Gedanken daran, ihnen nachzustürmen, denn in wenigen Sekunden werde ich sie wiedersehen. Doch ich höre meinen eigenen Schrei nach Jinia, der laut und schrill über den gesamten Versammlungsplatz hallt. Jegliche Sicherheit und Zufriedenheit sind mit einem Schlag verschwunden - und genau so das Glück.
Nur unscharf nehme ich den weichen Teppichboden, holzgetäfelte Wände und Zimmer des Rathauses wahr, durch das mich die Friedenswächter schieben. Türen klappern, dann finde ich mich in einem großen Raum wieder - der selbe, in dem meine Schwester Aline getötet wurde. Hände lassen von mir ab und im nächsten Moment bin ich alleine.
Nein. Da ist Jinia.
Ihre Arme umschlingen mich noch bevor die Tür ins Schloss fällt. Einige stille Sekunden vergräbt sie ihren Lockenkopf in meinem Kleid und das einzige, was ich tun kann, ist ihr durchs Haar zu streichen. Doch meine Finger zittern. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Ich lasse sie immer noch nicht los, als sich die Tür erneut öffnet und ich aus dem Augenwinkel Atala, Willow, Rayam und Alani hereinstürzen sehe. Ganz langsam löst sich Jinia von mir, doch fällt Atala um so schneller ebenfalls um den Hals. Jegliches Glück ist aus ihrem Gesicht gewichen, zurück bleibt nur der glasige Ausdruck in ihren Augen, als ihre Tochter sie umschlingt.
Ich spüre, wie sich Atalas eiskalte Finger sich um meine schlingen, als Jinia von ihren drei Geschwistern beinahe erdrückt wird. An Ort und Stelle sacke ich in mir zusammen, werde jedoch von einem samtblauen Sofa aufgefangen.
Jinia ist gezogen worden. Jinia! Meine Jinia! Verwirrt schüttele ich den Kopf, um den grausamen Gedanken loszuwerden, doch er bleibt.
Ich suche nach all den Emotionen, die sich vor wenigen Minuten ich alle auf einmal in mir aufgestaut haben, doch ich finde nichts als ... Leere. Weder irgendein Rest Angst noch ein Rest Wut sind in mir, sondern nur dieses große Nichts.
Ich nehme erst wieder etwas wahr, als sich Atala und die Kinder um mich herum auf dem Sofa sinken lassen. Atala rückt an meine Seite, Willow lehnt sich neben sie. Rayam kommt zu mir, genauso wie Alani und ... Jinia. Genau so wie heute morgen sitzen wir nun zusammen. Doch ohne Gitarre, ohne Musik, ohne Hoffnung. Dafür nur in eiserner Stille.
„Jinia...es ...ich.." stammele ich, doch meine Stimme versagt. Erst jetzt bemerke ich, wie sich meine Hände in den Saum des dunkelblauen Kleides gekrallt haben. Ich löse sie und lege sie in den Schoß, unsicher, worauf ich überhaupt warte.
Darauf, dass jemand das Wort erhebt? Darauf, dass jemand etwas tut, dass die Zeit zurückdreht? Darauf, dass das alles einfach nie geschehen ist und wir wieder gemeinsam in unserem Haus sitzen, für immer vereint? Nichts davon tritt ein.
Wir verharren einen Moment so, als Familie eng aneinander geschmiegt und mir wird klar, dass wir vielleicht das allerletzte Mal zu sechst sind. Mir wird klar, dass Jinia wahrscheinlich nie wieder zurückkommen wird. Mir wird klar, dass ich höchstwahrscheinlich meine Tochter verlieren werde.
Mein Blick gleitet aus dem winzigen Fenster des Raumes hinaus an den Hafen und direkt auf die glitzernden Wellen des Meers in der Ferne. So wild und frei liegt es dort und wir sind nichts von alledem. Mit einem Mal vernehme ich Atalas Stimme und sie reißt mich zurück in den Raum.
„Jinia. Du bist stark. Du bist klug. Und ganz, ganz egal, was auch immer geschehen mag, wir stehen immer hinter dir." sagt sie mit klarer Stimme und streicht über den Handrücken ihrer Tochter, die ihr einen dankbaren Blick zuwirft.
Ich fühle mich schuldig, wie ich dort neben ihr sitze und einfach schweige, also versuche ich, an Atalas Worte anzuknüpfen.
„Rivenna und Sohail kommen dieses Jahr mit ins Kapitol. Genau so Finnick und ich, wir beide sind deine Mentoren. Du bist also nicht allein. Selbst in der Arena, ich bin bei dir."
„Die ganze Zeit?" wispert Jinia kaum merklich.
„Die ganze Zeit." wiederhole ich und zum ersten Mal klingt meine Stimme wieder klar. Jinia streicht sich eine dunkelbraune Strähne ihres Haars zurück und dann blickt sie mir in die Augen. „Danke..." wispert sie so leise, dass eine sanfte Brise den Hauch ihrer Stimme davontragen könnte.
„Weißt du noch, als wir das erste Mal mit der Flying Feather raus aufs Meer gefahren sind? Es war dieser wunderschöne Sommertag, aber du hattest bloß Augen für den Ozean."
Willow hat sich zu ihrer Zwillingsschwester gewendet und obwohl in ihren Augen Tränen glitzern, lächelt sie. Rayam folgt ihrem Beispiel.
„Weißt du noch, als wir mit Lucy, Demi und Yohan zwischen den alten Booten am Hafen Verstecken gespielt haben? Du hattest dich so gut versteckt, dass es ewig gedauert hat, bis wir dich gefunden haben. Alle haben sich schon Sorgen um dich gemacht, aber als du dann aus deinem Versteck gekommen bist, hast du gestrahlt, wie ein Sonnenschein."
„Und kennst du noch diese Frisur, die du mir gemeinsam mit Tante Annie geflochten hast? Sie war das schönste, was ich je gesehen habe." flüstert als letztes auch Alani.
Jinias Gesicht ist nass vor Tränen, doch sie lächelt ihre Geschwister an. Wehmütig sehen Atala und ich auf die vier hinab. Sie haben so ein gutes Verhältnis zueinander. Es kommt zwar nicht selten zu Streitereien, doch im Moment scheinen es ihre Kinderherzen zu sein, die ihrer Schwester so viel besser helfen können, als Atala und ich.
Mit einem Mal öffnet sich die Tür des Raumes ein drittes Mal und die Familien meiner Geschwister Annie und Lim, sowie Atalas und mein bester Freund Nale kommen herein. Als wir ihn erblicken, tauschen wir einen vielsagenden Blick aus, bevor er uns beide in eine feste Umarmung zieht.
Schon seit Kindestagen verbindet uns drei eine enge Freundschaft und wir konnten einander stets alles anvertrauen. Doch wieder einmal hat sich eine bittere Tatsache zwischen uns gelegt. Als Nächstes folgen weitere Umarmungen von Annie und Lim.
Daraufhin fällt mein Blick auf die Kinder meiner Geschwister. Annies Töchter Lucy und Demi sehen mit großen Augen zu ihrer Cousine Jinia auf. Die blonde Demi scheint mit ihren fünf Jahren noch längst nicht begreifen zu können, was Jinia bevorsteht und doch bemerkt sie, dass etwas gewaltig nicht stimmt. Ihre drei Jahre ältere Schwester hält fest ihre Hand und genau so die von Lims Sohn.
Und wenig später finde ich mich in einem Sitzkreis auf dem dunkelblauen Teppich des Raumes wieder. Jinia lauscht gebannt den Geschichten, die ein jeder von uns ihr erzählt. Ich weiß genau, dass sie nicht vergessen kann, was ihr bevorsteht und doch scheint sie für einen Moment ein Gefühl des Vertrauens und der Geborgenheit zu verspüren. Vielleicht ein letztes Mal.
Schließlich lege ich ein kleines Armband in Jinias Finger und verschließe sie. Es ist das Schmuckstück, was Annie mir damals vor meinen Spielen gegeben hat und was ich seitdem nicht mehr abgelegt habe.
„Wie weit auch immer du von uns entfernst sein magst, damit wirst du immer eine kleine Erinnerung an zuhause bei dir tragen." wispere ich, während ich meiner Tochter das dunkle Armband um das Handgelenk binde.
Erneut sehe ich keinen Anschein von Tränenspuren auf den Wangen, genau so wenig hat irgendein unkontrolliertes Zittern Jinia gepackt. Stattdessen strafft sie bloß die Schultern und sagt mit fester Stimme:
„Danke. Danke euch allen. Ich werde euch niemals vergessen."
Erneut bildet sich ein tränenschwerer Kloß in meinem Hals und ich ergreife Jinias Hand. Doch ein Blick auf die hölzerne Uhr an der gegenüberliegenden Wand lässt mich realisieren, dass unsere gemeinsame Zeit nun um ist.
Mir wird klar, dass ich außer Jinia die anderen allesamt nun für mehrere Wochen nicht sehen werde, da ich ja ins Kapitol reisen muss. Also schließe ich sie alle noch einmal in die Arme. Als man bereits die ersten polternden Schritte der Friedenswächter hört, fällt Atala mir als letzte um den Hals.
Ich schließe die Augen und atme noch ein letztes Mal ihren Duft ein. Salz, Blüten und das Meer. Sanft streichen meine zittrigen Finger durch ihr seidiges Haar. „Glaube an dich, Librae. Bitte vergiss nicht meine Worte über das, was euch bevorsteht. Wir sehen uns."
Atala flüstert mir so sanft in den Nacken, dass sich dort eine Gänsehaut bildet. Als wir uns wieder voneinander lösen, bleibt mir keine Sekunde um zu verharren, denn schon küsst sie mich. Und nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie es sich dieses Mal anfühlt, ihre Lippen auf meinen zu spüren.
Für diesen einen Moment sind alle Gedanken an die Angst, die Trauer und den Schrecken, der bevorsteht, wie von einer Welle fortgespült. Mich erfüllt nur noch ein Kribbeln, das sich vom Kopf bis hin zu den Zehenspitzen ausbreitet. Meine Hände gleiten in ihren Nacken und ich vergrabe sie in ihrem Haar.
Sie küsst ganz vorsichtig, nicht wild oder bestimmt, wie man es von ihr erwarten könnte. Ich genieße die Wärme ihrer Lippen und den Geschmack des Meeres, der auf ihnen liegt. Ihre Finger an meiner Wange halten mich behutsam und verhindern, dass sich die Angst in mir weiter ausbreitet. Wie eine sanfte Welle des Ozeans spült sie alles weg, was zwischen uns steht.
Und für diese wenigen Sekunden, in denen der Raum bloß uns zu gehören scheint, ist nur Platz für das glückliche Ziehen in meiner Brust. Ein Teil von mir wünscht sich, dass unser Kuss nie enden möge, aber irgendwann lösen Atala und ich uns doch voneinander. Ein letztes Mal streift ihr Atem meine Lippen, bevor sie mir zaghaft eine Haarsträhne hinters Ohr streicht.
„Wir sehen uns" flüstert sie ein letztes Mal, bevor sich ihre Finger endgültig aus den meinen lösen und mich in einer eisigen Kälte zurücklassen.
Im nächsten Moment spüre ich grobe Hände, die meine Schultern packen und mich mitsamt den anderen aus dem Raum ziehen. Doch schon werden sie um die Ecke gebracht und ich in eine andere Richtung gezerrt.
Ich sehe noch gerade so die ein Spalt breit geöffnete Tür des Raumes und dahinter Jinias große, wachsame Augen, die genau wissen, was ihr bevorsteht.
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